Doppelmoral: Der Fall Assange

Psychogramm der Weltsicht unserer Machteliten in Politik, Justiz und Medien. Die Doppelmoral des Westens (Teil 2 und Schluss).

Prof. Kai Ambos, Autor des Buches "Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine", ist Lehrstuhlinhaber für Internationales Strafrecht und Völkerrecht, List Counsel am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und seit 2017 Richter am Kosovo Sondertribunal.

Er publiziert in der FAZ als Völkerrechts-Experte, wo er 2012 dem Wikileaks-Gründer Julian Assange vorwarf, in der Botschaft Ecuadors das Asylrecht zu missbrauchen. Auf den Fall Assange angesprochen, der die besagte Doppelmoral des Westens doch besonders gut zeigen könne, brach er ein Autoren-Interview ab (siehe Teil 1: Doppelmoral des Westens im Ukraine-Krieg?). Hintergründe und Umstände geben Gelegenheit zu einem Psychogramm der Machteliten in Politik, Justiz und Medien.

Nils Melzer: "Der Fall Julian Assange"

Der Abbruch erfolgte nach Einführung weiterer Informationen aus Melzers Buch zur mangelnden Rechtsstaatlichkeit des Abschiebungsverfahrens und zur Fragwürdigkeit schon des Rechtshilfeverfahrens zwischen Schweden und dem Vereinigten Königreich, da dieses auf manipulierten Zeugenaussagen und Protokollen basierte, so die Nachweise, die Melzer in seinem Buch präsentiert.

Prof. Nils Melzers gravierende Kritik nach seinen aufwändigen und umfangreichen Ermittlungen als Uno-Beauftragter für Folter im Fall Assange: Er sieht die rechtsstaatlichen Grundsätze als vielfach verletzt an, wirft der britischen Justiz die verbotene Folter eines verbotenerweise inhaftierten politisch Verfolgten vor und fordert die sofortige Freilassung von Assange. Dazu wollte Prof. Ambos sich nicht mehr äußern und beschloss das E-Mail-Interview mit diesem abschließenden Statement:

Ich kenne Melzer, aber das Buch zu Assange nicht. Ich habe mich zu dem Fall immer aus rein juristischer Perspektive geäußert. Wir dürfen insoweit nicht vergessen, dass Assange während des Rechtshilfeverfahrens zwischen England und dem Vereinigten Königreich die dortigen gerichtlichen Auflagen verletzt hat und dann aus eigenem Entschluss in der ecuadorianischen Botschaft Zuflucht gesucht hat.

Es war immer klar, dass er sich dem Verfahren nicht ewig würde entziehen können und er hätte natürlich die Möglichkeit gehabt, seine juristische Situation früher zu klären. Das aktuelle langwierige Auslieferungsverfahren zeigt übrigens, dass die britische Justiz nicht das Ausführungsorgan der US- Strafverfolgungsbehörden ist, sondern deren Ersuchen sehr genau und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen prüft. Leider gehen die juristischen Feinheiten bei solch höchst polarisierenden Persönlichkeiten wie Assange sehr schnell unter.

Kai Ambos

Die nachgelegte Frage, ob angesichts von Verfehlungen der schwedischen und britischen Justiz die Verletzung gerichtlicher Auflagen durch Assange nicht eine lässliche Sünde oder überhaupt rechtswidrig sei (vgl. Melzers Buch, Kap. "Richterliche Befangenheit"), wollte der FAZ-Autor Prof. Ambos nicht nur nicht beantworten, sondern strich sie gleich ganz aus dem Interview.

Beruht die psychische Stabilität unserer Machteliten auch auf einer systematischen Vermeidung von glaubwürdig bezeugten Fakten, die unsere Regierungen kritisieren? Eine Methode dieser Vermeidung ist die Stigmatisierung von Überbringern dieser Fakten, hier Nils Melzer.

Die Aussage von Prof. Ambos, er kenne Melzer, bezieht sich vermutlich auf die Medienkampagne, die unsere Leitmedien gegen den streitbaren UNO-Experten lancierten. Neben der Süddeutschen war auch die FAZ dabei, deren Rezensent von Melzers Enthüllungen nichts wissen wollte und in der akribisch dokumentierten juristischen Analyse nichts anderes sehen mochte als ein "Dokument der Entrüstung, das die Position der Wikileaks-Unterstützer im Jahr 2021 wiedergibt".

Die FAZ diffamiert mit diesem abschließenden Satz den Uno-Experten auf perfide Weise: Sie unterstellt ihm, in seinem Buch vordringlich seine eigene Entrüstung dokumentiert zu haben. Er habe also nicht Justiz- und Regierungsversagen und die Verletzung der Menschenrechte von Assange dokumentiert, was mehr als genug Grund zur Entrüstung ist, die Melzer somit berechtigterweise auch äußert.

Nein, die FAZ empört sich scheinbar selbst darüber, dass ein Experte Entrüstung äußert – so als hätte Melzer seine Fallanalyse nur deshalb verfasst, um damit ein "Dokument der Entrüstung" vorlegen zu können.

Mit dem Nachsatz, Melzers Buch sei ein Dokument, "das die Position der Wikileaks-Unterstützer im Jahr 2021 wiedergibt", wird der Uno-Experte doppeldeutig auf die Seite der Aktivisten, Wikileaks-Unterstützer, gestellt. Aus Sicht vieler FAZ-Leser wird ihm damit vermutlich unterstellt, nicht "objektiv" urteilen zu können, denn als Aktivist und Unterstützer wäre Melzer ja Partei in diesem "Fall Assange" und damit unglaubwürdig.

Doppeldeutig ist die perfide Unterstellung, weil man natürlich auch davon ausgehen kann, dass Melzers Buch ab Erscheinungsjahr 2021 von den Assange-Unterstützern in ihre Position einbezogen wurde.

Ablenken von Regierungskritik

All das sind Ablenkungen von den Fakten, die Nils Melzer akribisch recherchiert und wohl dokumentiert in seinem Buch ans Licht brachte: Dass zu Anfang die Zeugenaussagen der beiden Schwedinnen manipuliert wurden, um einen "Vergewaltigungsverdacht" gegen Assange zu konstruieren. Dass man rechtswidrig und schnellstmöglich diese Behauptung an die Presse durchstach, um eine zehn Jahre andauernde Rufmord-Kampagne gegen den Wikileaksgründer zu starten.

Dass man damit die politische Verfolgung, Belagerung im Botschaftsasyl und die drei Jahre dauernde Inhaftierung eines Regierungskritikers gerechtfertigt hat. Dass das Auslieferungsverfahren in London keineswegs rechtsstaatlichen Standards genügt, sondern die Menschenrechte von Assange durch psychische Folter verletzt.

Auch FAZ-Leser Kai Ambos wurde offenbar mit Erfolg von diesen Fakten abgelenkt und womöglich sogar gegen seinen Jura-Professoren-Kollegen Melzer eingenommen, wenn er sagt:

Ich kenne Melzer, aber das Buch zu Assange nicht. Ich habe mich zu dem Fall immer aus rein juristischer Perspektive geäußert.

Sieht Ambos bei Melzer eine, wie die FAZ wohl unterstellte, nicht mehr "rein juristische", sondern die parteiliche Perspektive des Aktivisten? Aber inwiefern ist die Perspektive von Ambos selbst, die in den folgenden drei Sätzen sehr weitgehend, wenn nicht vollständig die Position der britischen Regierung übernimmt, eine "rein juristische"?

Das notorische Wegschauen bei Vorhaltung juristisch relevanter Fakten in einem brisanten Fall von immenser politischer Bedeutung könnte auch als Parteinahme gedeutet werden – Parteinahme für selbige Regierung und ihre Justiz. Ambos lässt dann abschließend noch den Hinweis auf die "höchst polarisierende Persönlichkeit" von Assange folgen, was wieder die Position der britischen Justiz wiederholt. Melzer dokumentierte, wie herabwürdigend britische Richter mit dem Dissidenten Assange verfuhren. Zu einer Anhörung, in der Assange nichts weiter gesagt hatte, als "Ich plädiere auf unschuldig", schreibt Melzer über die Reaktion des Bezirksrichters:

...genug für Richter Snow, um persönlich und beleidigend zu werden. Die selbstsichere Unverfrorenheit, mit der dieser Richter Assange in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung ohne jede Provokation als ‚Narzisst‘ beleidigte, war aufschlussreich.

Nils Melzer, S.63

Befangenheit einer Bezirksrichterin

Zuvor hatte Melzer erläutert, mit welchen juristischen Feinheiten die Anwälte von Assange ihren Einspruch gegen den Haftbefehl begründet hatten: Die leitende Bezirksrichterin Arbuthnot, die diese Inhaftierung verfügt hatte, sei befangen. Ihr Gatte, der Tory-Oberhaus-Abgeordnete Lord Arbuthnot, sei ein Rüstungsindustrieller, der als Vorsitzender des "Defence Select Committee" das britische Militär zu beaufsichtigen hatte. Der Grund für die Befangenheit? Die Enthüllungs-Plattform von Assange hatte zu den Arburthnots publiziert:

Wikileaks hatte zahlreiche Informationen über möglicherweise unrechtmäßige Geschäfte publik gemacht, an denen Arbuthnot beteiligt gewesen sein soll. Unter anderem ging es um Waffendeals mit Israel. Aber auch Emma Arbuthnot selbst soll von einer Sicherheitsfirma Geschenke erhalten haben, deren unsauberes Geschäftsgebahren von Wikileaks enthüllt worden war.

Diese Richterin entschied also nicht nur 2018 über die Aufrechterhaltung von Assanges Haftbefehl, sondern leitete bis zum Sommer 2019 sogar persönlich das Auslieferungsverfahren gegen Assange… Ein klarer Fall von Befangenheit… Denn in einem Rechtsstaat muss bereits der Anschein eines möglichen Interessenkonflikts immer von Amts wegen zum Ausschluss der betroffenen Richterin führen.

Melzer S.61

Der Befangenheitsantrag wurde abgeschmettert (in einem Verfahren um die Firma Uber erging es Richterin Arburthnot anders, auch dort waren Interessen ihres Gatten Lord Arburthnot involviert, doch bei Assange waren offenbar "höhere Mächte" im Spiel).

Wir können wohl davon ausgehen, dass auch Prof. Ambos diese "rein juristische Perspektive" Prof. Melzers auf das Verfahren gegen Assange teilen würde – wenn er denn nur bereit wäre, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen (sowie viele weitere zum ganzen Auslieferungsprozess). Solange dies nicht geschieht, wird er weiter bei seiner in Unkenntnis der Argumente der Gegenseite nur schwach begründeten Meinung bleiben, ".. dass die britische Justiz nicht das Ausführungsorgan der US- Strafverfolgungsbehörden ist, sondern deren Ersuchen sehr genau und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen prüft."

Und Prof. Ambos behält am Ende sogar mit seinem Hinweis Recht:

Leider gehen die juristischen Feinheiten bei solch höchst polarisierenden Persönlichkeiten wie Assange sehr schnell unter.

Nur ist er selbst derjenige, dem offensichtlich "juristische Feinheiten" wie die Befangenheit von Richtern entgangen sind. So etwas geschieht schon mal, wenn eine Medienkampagne einen Regierungskritiker zu einer "polarisierenden Persönlichkeit" umfrisiert. So entgeht dem Buchautor mit dem Fall Assange auch ein besonders gutes Beispiel für die von ihm bezüglich des Ukrainekrieges bemängelte Doppelmoral des Westens.

Literatur:

Kai Ambos: Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine, Westend Verlag 2022, 96 S., 15 Euro

Nis Melzer: Der Fall Assange – Geschichte einer Verfolgung, Piper 2021