Ein prominenter Völkerrechts-Experte stellt die provokante Frage: Kann der Westen angesichts eigener völkerrechtswidriger Kriege den Anspruch erheben, mittels seiner Ukraine-Politik die Völkerrechtsordnung zu verteidigen?
Prof. Kai Ambos, Autor des Buches "Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine", ist Lehrstuhlinhaber für Internationales Strafrecht und Völkerrecht, List Counsel am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und seit 2017 Richter am Kosovo Sondertribunal.
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"Wir sollten uns klar machen, dass wir nicht die Welt sind"
Sie sehen beim Westen eine Doppelmoral hinsichtlich des Ukraine-Konflikts – wie kamen Sie darauf?
Kai Ambos: Der Westen, geführt von den USA, wirft Russland zu Recht einen eklatanten Bruch des Gewaltverbots – der Fundamentalnorm unserer regelbasierten Völkerrechtsordnung – vor, doch er hat sich selbst nicht immer an diese Norm, insbesondere nicht bei der Irak-Invasion, gehalten. Das ist ein Beispiel, vielleicht das wichtigste, westlicher Doppelmoral auf dem Gebiet des Völkerrechts.
Sie werfen dem "hiesigen Mainstream" vor, "unreflektiert und fast postkolonial" von einer "Internationalen Gemeinschaft" zu reden, die Russlands Aggression entgegentritt. Was spricht gegen diese Sichtweise?
Kai Ambos: Unsere derzeitige Welt besteht aus über 190 Staaten, wenn die hiesigen Medien von "internationaler Gemeinschaft" sprechen, meinen sie in der Regel den Westen, also die Nato und einige weitere Verbündete (z.B. Australien, Japan, Südkorea, Neuseeland), im Kern sind das ca. 40 Staaten. Diese Staaten unterstützen auch tatsächlich die westliche Ukraine-Politik, das heißt, sie beteiligen sich an Sanktionen gegen Russland und unterstützen die Ukraine militärisch.
Praktisch der gesamte "Globale Süden" gehört dieser Allianz nicht an, darunter so wichtige Staaten wie Brasilien, Indien, Südafrika und natürlich auch nicht China (wenn man die noch zum Globalen Süden rechnen will). Wir sollten uns endlich klar machen, dass wir nicht die Welt sind und damit auch nicht beanspruchen können, die internationale Gemeinschaft alleine zu repräsentieren.
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Welche historischen völkerrechtlichen Verfehlungen des Westens sind besonders hervorzuheben?
Kai Ambos: Neben dem schon genannten Irak-Krieg sind auch die extralegalen Hinrichtungen im Rahmen des globalen US-Kriegs gegen den Terror höchst problematisch. Sie richten sich direkt gegen die völkerrechtliche Ordnung.
Denn wenn sich ein Staat das Recht herausnimmt, bestimmte als "Terroristen" qualifzierte Personen einfach hinzurichten, so ist niemand mehr sicher und so werden auch andere Staaten, die dazu militärisch in der Lage sind, dies auch tun. Denken wir nur an die Russland zugeschriebene Tötung im Berliner Tiergarten und die zahlreichen Vergiftungen von Regimegegnern.
Kein Verschwörungstheoretiker
Warum sind viele dieser Verfehlungen in unseren Medien kaum bekannt?
Kai Ambos: Das ist eine gute Frage. Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber es ist doch erstaunlich, wie bestimmten Narrative in den dominanten Medien verbreitet und andere nicht oder kaum berichtet werden.
Welche aktuellen völkerrechtlichen Verfehlungen des Westens spielen eine Rolle?
Kai Ambos: Aktuell erwähne ich im Buch etwa die jüngsten Waffenlieferungen an die saudische Kriegskoalition, die seit Jahren den Jemen zerstört und dabei Kriegsverbrechen begeht. Ferner ist das trilaterale Memorandum of Understanding zwischen der Türkei, Finnland und Schweden, um die türkische Zustimmung zum Nato-Beitritt dieser beiden Staaten zu erhalten, sehr bedenklich.
Es wurde unter Nato Vermittlung ausgehandelt und bedient im Kern nur das antikurdische und anti-Gülen Erdogan-Narrativ. Schließlich sind auch die englischen Bestrebungen, die Wirksamkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu unterminieren, sehr besorgniserregend.
Sie kritisieren die Position des früheren Hamburger Bürgermeisters Klaus von Dohnany. Wo irrt er sich?
Kai Ambos: Ich glaube nicht an die in der Sache von ihm geäußerte These der Äquidistanz zwischen Deutschland/Europa zu Russland und zur USA. Die USA ist, bei aller berechtigten Kritik, eine Demokratie, wo man nicht zuletzt gerade solche Dinge, wie ich sie in meinem Buch sage, vertreten kann.
Russland hingegen ist ein autoritärer, ja faschistischer Staat, der Andersdenkende unterdrückt. Wenn ich wählen muss, lebe ich lieber unter US-amerikanischer als russischer Hegemonie. Am liebsten ist mir allerdings ein europäisches Gegengewicht und eine selbstbewusste Beziehung auch zu den USA, wo unterschiedliche Ansätze und Auffassungen offen angesprochen werden.
Was muss der Westen tun, um größere Glaubwürdigkeit zu erlangen?
Kai Ambos: Er muss sich konsequenter an das Völkerrecht halten, wozu auch gehört, dass fragliche Praktiken westlicher Staaten, einschließlich der USA, auch thematisiert und ggf. kritisiert werden.
USA versus ICC in Den Haag
Nach der Ratifizierung des Gründungsvertrages von 60 Staaten trat das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs im Juli 2002 in Kraft und schon einen Monat später erließ die US-Regierung von George W. Bush jr. ein Gesetz, das implizit mit einer US-Militärintervention drohte, sollte der ICC je wagen, Kriegsverbrecher zu inhaftieren, die im Dienste der USA stehen.
Ist dieses US-Gesetz nicht eigentlich das maßgebliche und grundlegende Ereignis für den Glaubwürdigkeitsverlust des Westens, was das Völkerstrafrecht angeht? Inwiefern wurde aus Ihrer Sicht die Arbeit des ICC dadurch belastet und ist diese Androhung von Gewalt nicht bereits selbst ein Verstoß gegen das Gewaltverbot des Völkerrechts?
Kai Ambos: Die Trump-Regierung ist mit der Sanktionierung der Chefanklägerin und anderer ICC-Mitarbeiter/-innen wegen der Afghanistan Ermittlungen sogar noch darüber hinausgegangen. Und genau das kritisiere ich auch scharf in meinem Buch und frage mich, wieso nun plötzlich der Chefankläger – bezüglich der Ukraine-Ermittlungen – über die Parteigrenzen hinweg aus Washington unterstützt wird.
Da kommt natürlich der Verdacht auf, dass es nur mit dem Adressat dieser Ermittlungen – Putin und das russische Regime – zu tun hat und das zeigt natürlich keine konsequente Unterstützung des Völkerstrafrechts.
Der Wind in Washington würde sich wohl ziemlich schnell drehen, wenn Ermittlungen gegen Verbündete der USA oder gar deren eigene Staatsbürger geführt würden. Genau das war ja der Grund der ICC-Sanktionen der Trump-Regierung.
Völkerrechtswidrige Kriege des Westen
Für den Jemen-Krieg, dessen Verlauf ebenfalls die Frage nach Völkermord aufwirft, verweisen Sie auf Waffenlieferungen an die "saudi-geführte" Angreiferkoalition; es gibt noch weitere, teils gravierendere Verstrickungen der USA und Großbritanniens im immer wieder "vergessenen Krieg". Wäre eine präzisere Aufarbeitung westlicher Kriegsführung bei einer Debatte über Doppelmoral nicht angebracht?
Kai Ambos: Absolut. Der Jemen-Krieg ist vielleicht derzeit das größte Schandmal westlicher und auch deutscher Politik. Es gibt derzeit ein Vorermittlungsverfahren beim ICC zu den früheren Waffenlieferungen zahlreicher westlicher Unternehmen und natürlich wissen wir auch, dass mit diesen Waffen Kriegsverbrechen begangen werden. Vertragliche Lieferverpflichtungen sind insoweit eine schwache Rechtfertigung für die jüngste Genehmigung weiterer Waffenlieferungen.
Am Ende Ihres Buches betonen Sie ausdrücklich, dass die Verletzungen des Völkerrechts durch Nato-Staaten moralisch weniger schwer wiegen als der aktuelle Angriffskrieg Russlands mit einem "autoritären, vielleicht sogar faschistischen Regime" Putins, weil dieser das Existenzrecht der Ukraine in Frage stelle. Auf der anderen Seite sah man bei völkerrechtswidrigen Interventionen des Westens Millionen Tote – so wurde man anlässlich des Documenta-Eklats an den vielen bis dato unbekannten "Indonesian Genocide" mit seinen ein bis drei Millionen Todesopfern hingewiesen; etwa ebenso viele Zivilisten starben im Vietnamkrieg. Kann man den Unwert von Massenmorden und dem (möglicherweise nur propagandistischen) Bestreiten von staatlichem Existenzrecht vergleichen?
Kai Ambos: Das ist eine gute und berechtigte Frage. Es gibt leider viele westliche Kriege, etwa auch den Vietnamkrieg, den ersten Irakkrieg (operation desert storm) oder den Kosovokrieg, in dem viele menschlichen Opfer und ungeheure Sachschäden zu beklagen sind.
Ich sage ja nicht, dass diese Völkerrechtsverletzungen moralisch weniger schwer wiegen, sondern dass man jenseits der prinzipiellen Gleichartigkeit solcher Verletzungen mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine graduelle Unterschiede machen kann und sollte.
Natürlich ist das fallabhängig und man kann vielleicht bei einem noch genauerem und auch weiter zurückreichenden (Kolonialismus!) Vergleich zum Ergebnis kommen, dass insoweit der Westen auch nicht graduell besser ist.
Es gab und gibt auch Stimmen, sogar aus der Bundeswehr, die den Westen vor einer Ukraine-Politik gewarnt hatten, die Russland provoziere. Halten Sie den russischen Überfall auf die Ukraine für "unprovoked" (unprovoziert), wie die US-Medien ihn meist nennen?
Kai Ambos: Das kommt darauf an, wie man die westliche Politik der Nato-Osterweiterung beurteilt, insbesondere die explizite Einladung des Beitritts an die Ukraine (und Georgien) auf dem Bukarester Gipfeltreffen im Jahre 2008.
Zur Wahrheit gehört aber eben auch, dass Russland die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine im Budapester Memorandum von 1994 und in dem ukrainisch-russischen Freundschaftsvertrag von 1997 explizit anerkannt hat.
Und völkerrechtlich geben eben "Provokationen", die weit unter der Schwelle eines Angriffs i.S.v. Artikel 51 UN Charta liegen, dem "Provozierten" nicht das Recht zur Gewaltanwendung, geschweige denn zu einem zerstörerischen Angriffskrieg, wie wir ihn leider gerade sehen.
Staschinski-Fall und Stepan Bandera
Sie bezeichnen das "russische Narrativ einer Bedrohung durch eine neo-nationalsozialistische Ukraine" als "aus unserer Sicht abwegig" (S.36). Würde man die propagandistische Fixierung Moskaus auf "Neonazis" übergehen und stattdessen auch von "Rechtsextremen, Ultranationalisten und Faschisten" sprechen, erschiene Ihnen das Bedrohungs-Narrativ dann weniger abwegig?
Dazu eine Anmerkung zu Ihrer Erwähnung des Staschinsky-Falles, den sie als "Ermordung eines ukrainischen Oppositionellen im Jahre 1957 in München" erläutern . Tatsächlich tötete der KGB-Agent Staschinsky damals zwei Ukrainer: 1957 Lew Rebet und 1959 Stepan Bandera, besonders letzterer ist bekannt als faschistischer Ultranationalist, Nazi-Kollaborateur und mutmaßlicher Massenmörder. Bandera wurde als Idol der ukrainischen Rechtsextremisten besonders ab 2014 zur wichtigen Symbolfigur für den politischen Rechtsruck der Ukraine. Haben Sie Bandera bewusst ausgelassen oder war ihnen seine Rolle nicht bekannt?
Kai Ambos: Staschinsky wurde wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen zu Lasten von "R." und "Ba." verurteilt. Dass "Ba." für Bandera steht war mir nicht bekannt. Danke für den Hinweis.
Nils Melzer und Julian Assange
Eine letzte Frage abseits der Ukraine. Sie intervenierten 2012 zuungunsten von Assange, 2021 mit einer ihm gewogeneren Bewertung. Seither haben die Assange-Enthüllungen Ihres Kollegen Nils Melzer (Jura-Prof, UN-Folterbeauftragter) die bisherige Faktenlage geändert. Sind Ihnen Melzers Ermittlungsergebnisse bekannt, die skandalöse Manipulationen der schwedischen Justiz offenbarten? (Ausführlich dargelegt im Buch "Der Fall Assange") Hat dies Ihre Einschätzung verändert?
Melzer beschreibt in seinem Buch, wie er verbreiteten Medien-Darstellungen von Assange zunächst aufgesessen ist und wie er dies überwand.
Kai Ambos: Ich kenne Melzer, aber das Buch zu Assange nicht. Ich habe mich zu dem Fall immer aus rein juristischer Perspektive geäußert. Wir dürfen insoweit nicht vergessen, dass Assange während des Rechtshilfeverfahrens zwischen England und dem Vereinigten Königreich die dortigen gerichtlichen Auflagen verletzt hat und dann aus eigenem Entschluss in der ecuadorianischen Botschaft Zuflucht gesucht hat. Es war immer klar, dass er sich dem Verfahren nicht ewig würde entziehen können und er hätte natürlich die Möglichkeit gehabt, seine juristische Situation früher zu klären.
Das aktuelle langwierige Auslieferungsverfahren zeigt übrigens, dass die britische Justiz nicht das Ausführungsorgan der US- Strafverfolgungsbehörden ist, sondern deren Ersuchen sehr genau und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen prüft. Leider gehen die juristischen Feinheiten bei solch höchst polarisierenden Persönlichkeiten wie Assange sehr schnell unter.
Abruch des Interviews durch Prof. Ambos. Dies war die von ihm freigegebene Version.
Nachtrag zum Interview: Ein Kommentar.
Anmerkung des Interviewers: Der Abbruch erfolgte nach Einführung weiterer Informationen aus Melzers Buch zur mangelnden Rechtsstaatlichkeit des Abschiebungsverfahrens und zur Fragwürdigkeit schon des Rechtshilfeverfahrens zwischen Schweden und dem Vereinigten Königreich, da dieses auf manipulierten Zeugenaussagen und Protokollen basierte, wie Melzer mit Nachweisen unterlegt behauptet.
Die Frage, ob angesichts von Verfehlungen der schwedischen und britischen Justiz die Verletzung gerichtlicher Auflagen durch Assange nicht eine lässliche Sünde oder überhaupt rechtswidrig sei (vgl. Melzers Buch, Kap. "Richterliche Befangenheit"), wollte Prof. Ambos nicht beantworten, er strich sie aus dem Interview.
Ebenso verfuhr er mit der Vorhaltung von nach Ansicht des Autors dieses Beitrags glaubwürdigen westlichen Quellen zum Einfluss von Rechtsextremen in der Ukraine. Es ging um Quellen, die der These von der evidenten Abwegigkeit derartiger, wenn auch propagandistisch übertriebener "russischer Narrative" widersprechen.
Nazis und Narrative in der Ukraine
"Wird aber dem Westen, repräsentiert durch die ehemaligen Kolonialmächte und die USA als postkoloniale Imperialmacht, im Globalen Süden wenig bis kaum Vertrauen entgegengebracht, so ist es nicht verwunderlich oder doch zumindest verständlich, dass das russische Narrativ einer Bedrohung durch eine neo-nationalsozialistisch kontaminierte Ukraine, zudem unterwandert und militärisch aufgerüstet durch die Nato, so abwegig dieses Narrativ aus unserer Sicht auch sein mag, durchaus auf offene Ohren stößt",
schreibt Ambos in seinem Buch (S.36).
Im Buch wie auch auf Nachfrage im Interview zeigt sich Ambos nicht geneigt, die Existenz von Nazis oder anderen Rechtsextremen in der Ukraine sowie ihren politischen Einfluss oder ihr militärisches Training durch westliche Firmen zu diskutieren.
Es scheint, dass in seiner Sicht solches nicht vorkommt? Ungeachtet entsprechender Parlamentarischer Anfragen im Bundestag oder von Studien, die eine rechtsextreme Unterwanderung des ukrainischen Militärapparats nahelegen.
Prof. Ambos Erstaunen über die Identität des Mordopfers Bandera in einem juristischen Standardfall könnte nach Meinung des Autors Indiz für eine Ausblendung sein. Ob Ambos etwas vom Bandera-Kult (siehe: "Das Tragische am Bandera-Kult ist, dass Ukrainer oft nicht wissen, wen sie eigentlich verehren") in der Westukraine mitbekommen hat? Seine Sorge gilt bei diesem Thema, wie es den Anschein hat, vorwiegend einem Machtverlust des Westens – auch weil das "russische Narrativ" andernorts eben doch nicht so abwegig erscheint?
Statt das westliche Täter-Opfer-Narrativ-Russland als brutalen Aggressor und die Ukraine als unschuldiges Opfer- zu übernehmen, sieht man sich im Globalen Süden häufig mit der These eines legitimen russischen Verteidigungskriegs, sei es zur Entnazifizierung der Ukraine oder zur Zurückdrängung der Nato, konfrontiert.
Kai Ambos, Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine, S.36
Dieses Wegschauen geht nach Ansicht des Autors konform mit dem weitgehenden Ausblenden ukrainischer Nazis aus dem Großteil der gegenwärtigen Berichterstattung großer Medien. Noch 2017 warnte etwa die eher nicht als Stimme Moskaus verdächtige Washington Post vor einflussreichen Rechtsextremen mit Neonazi-Verbindungen in Kiew:
Das deutlichste Beispiel für dieses Problem findet sich im Innenministerium, das von Arsen Awakow geleitet wird. Awakow unterhält seit langem Beziehungen zum Asow-Bataillon, einer paramilitärischen Gruppe, die das SS-Symbol als Abzeichen verwendet und mit einigen anderen in die Armee oder Nationalgarde integriert wurde... Awakows stellvertretender Minister Vadym Troyan war Mitglied der neonazistischen paramilitärischen Organisation Patriot of Ukraine (PU)... Awakow selbst nutzte die PU, um seine geschäftlichen und politischen Interessen zu fördern, während er als Gouverneur in der Ostukraine diente, und als Innenminister gründete und bewaffnete er das extremistische Asow-Bataillon unter der Führung von Andriy Biletsky, einem Mann mit dem Spitznamen "Weißer Häuptling", der zu einem Kreuzzug gegen die "von Semiten geführte Untermenschlichkeit" aufrief. (Übersetzt mit DeepL)
Auch die Ausgangsfrage von Kai Ambos wirkt, genauer betrachtet, dem Mainstream näher als man auf den ersten Blick denken könnte. Auf dem Klappentext ist über die Annahme zu erfahren, "dass unsere Verurteilung des russischen Angriffskriegs von der ganzen Welt geteilt wird". Diese Falschdarstellung einer behaupteten "Internationalen Gemeinschaft" gegen Russland hört und liest man zwar oft in den Leitmedien, doch unsere Außenministerin selbst gab dazu schon Anfang September ihren Diplomaten öffentlich eine Linie von mehr Wahrheitstreue und Bescheidenheit vor:
Es stimmt: Wir haben als Weltgemeinschaft im März mit überwältigender Mehrheit in den Vereinten Nationen den russischen Angriffskrieg verurteilt. 141 Staaten. Aber zur Wahrheit gehört auch: Staaten, die mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, haben nicht mit uns gestimmt. Viele Staaten tragen auch die Sanktionen gegenüber Russland nicht mit... Wenn wir erreichen wollen, dass beim nächsten Mal anders abgestimmt wird... dann funktioniert das nur, wenn man mit vielen Fragen in Gespräche hineingeht und nicht nur mit seiner eigenen Haltung.
Der G20-Gipfel hat wohl just erste Erfolge der neuen taktischen Ehrlichkeit gezeitigt, die man auch Frontbegradigung im Propagandakrieg nennen könnte. Auch wenn Ambos sich vielen Fragen nicht stellen mag, dürften doch einige seiner Antworten weder der Bundesregierung noch der Nato gefallen.
Das Buch "Doppelmoral" bewegt sich zwischen Mainstream und einer Regierungskritik, die teilweise fast ambivalent wirkt. So erwähnt der Ambos zwar den für den Westen heiklen Amnestie-International-Bericht und nennt sogar die von AI angeprangerte Verwendung "menschlicher Schutzschilde" durch Selenskyjs Truppen beim Namen.
Damit geht er weiter als viele Journalisten. Doch geschieht dies nur in einer Fußnote (Fn.6) und dort wird zudem besonders ausführlich der AI-Kritiker Schmitt zitiert, der die Vorwürfe von AI "nicht überzeugend und genau genug nachgewiesen" findet. Andererseits zeigt die Quellenangabe, dass besagter Mr.Schmitt aus dem Umfeld der US-Elite-Militärakademie Westpoint stammt, was eine neutrale Bewertung des ukrainischen Verbündeten wieder fraglich scheinen lässt.
Die Quellen, die Ambos zitiert, sind meist amtlich oder Mainstream. Stärken zeigt er vor allem beim Bericht von juristischen Bestrebungen, ein nicht vom Westen dominiertes Internationales Recht anzustreben: TWAIL (Third World Approaches in International Law). Ziel sei, ein "posthegemoniales Völkerrecht", dessen Regeln "multilateral ausgehandelt werden müssen", gegen den bisherigen Hegemon, genannt "der Westen" (S.35).
Aber warum unterstützen nun so wenige Länder die Sanktionierung des russischen Aggressors? Die Antwort von Ambos fällt am Ende seiner kurzen Abhandlung doch eher paternalistisch aus: Der Westen sei durch Doppelmoral, koloniale und aktuelle Verfehlungen gegen das Völkerrecht zwar unglaubwürdig geworden, aber die Länder des Südens verfolgten auch "wirtschaftliche und andere Interessen", geben sich prinzipienloser Machtpolitik hin und empfinden "klammheimlich wohl eine gewisse Schadenfreude", weil Russland der westlichen Hegemonie in der Ukraine entgegentrete (S.53).
Dass es im globalen Süden auch die rationale Einschätzung geben könnte, der Westen befördere insgeheim den Ukrainekrieg, und man auch aus humanistischem Verantwortungsbewusstsein gegen die Verwüstung der Weltwirtschaft durch das westliche Sanktionsregime sein könnte, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn – anders als dem hier abschließend zitierten afrikanischen Diplomaten:
"Am unverständlichsten ist für uns die Idee, dass ein Konflikt wie dieser im Grunde genommen genährt wird, um unbegrenzt weiterzugehen."
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