Doppelmoral des Westens im Ukraine-Krieg?
Seite 2: Völkerrechtswidrige Kriege des Westen
- Doppelmoral des Westens im Ukraine-Krieg?
- Völkerrechtswidrige Kriege des Westen
- Nachtrag zum Interview: Ein Kommentar.
- Auf einer Seite lesen
Für den Jemen-Krieg, dessen Verlauf ebenfalls die Frage nach Völkermord aufwirft, verweisen Sie auf Waffenlieferungen an die "saudi-geführte" Angreiferkoalition; es gibt noch weitere, teils gravierendere Verstrickungen der USA und Großbritanniens im immer wieder "vergessenen Krieg". Wäre eine präzisere Aufarbeitung westlicher Kriegsführung bei einer Debatte über Doppelmoral nicht angebracht?
Kai Ambos: Absolut. Der Jemen-Krieg ist vielleicht derzeit das größte Schandmal westlicher und auch deutscher Politik. Es gibt derzeit ein Vorermittlungsverfahren beim ICC zu den früheren Waffenlieferungen zahlreicher westlicher Unternehmen und natürlich wissen wir auch, dass mit diesen Waffen Kriegsverbrechen begangen werden. Vertragliche Lieferverpflichtungen sind insoweit eine schwache Rechtfertigung für die jüngste Genehmigung weiterer Waffenlieferungen.
Am Ende Ihres Buches betonen Sie ausdrücklich, dass die Verletzungen des Völkerrechts durch Nato-Staaten moralisch weniger schwer wiegen als der aktuelle Angriffskrieg Russlands mit einem "autoritären, vielleicht sogar faschistischen Regime" Putins, weil dieser das Existenzrecht der Ukraine in Frage stelle. Auf der anderen Seite sah man bei völkerrechtswidrigen Interventionen des Westens Millionen Tote – so wurde man anlässlich des Documenta-Eklats an den vielen bis dato unbekannten "Indonesian Genocide" mit seinen ein bis drei Millionen Todesopfern hingewiesen; etwa ebenso viele Zivilisten starben im Vietnamkrieg. Kann man den Unwert von Massenmorden und dem (möglicherweise nur propagandistischen) Bestreiten von staatlichem Existenzrecht vergleichen?
Kai Ambos: Das ist eine gute und berechtigte Frage. Es gibt leider viele westliche Kriege, etwa auch den Vietnamkrieg, den ersten Irakkrieg (operation desert storm) oder den Kosovokrieg, in dem viele menschlichen Opfer und ungeheure Sachschäden zu beklagen sind.
Ich sage ja nicht, dass diese Völkerrechtsverletzungen moralisch weniger schwer wiegen, sondern dass man jenseits der prinzipiellen Gleichartigkeit solcher Verletzungen mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine graduelle Unterschiede machen kann und sollte.
Natürlich ist das fallabhängig und man kann vielleicht bei einem noch genauerem und auch weiter zurückreichenden (Kolonialismus!) Vergleich zum Ergebnis kommen, dass insoweit der Westen auch nicht graduell besser ist.
Es gab und gibt auch Stimmen, sogar aus der Bundeswehr, die den Westen vor einer Ukraine-Politik gewarnt hatten, die Russland provoziere. Halten Sie den russischen Überfall auf die Ukraine für "unprovoked" (unprovoziert), wie die US-Medien ihn meist nennen?
Kai Ambos: Das kommt darauf an, wie man die westliche Politik der Nato-Osterweiterung beurteilt, insbesondere die explizite Einladung des Beitritts an die Ukraine (und Georgien) auf dem Bukarester Gipfeltreffen im Jahre 2008.
Zur Wahrheit gehört aber eben auch, dass Russland die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine im Budapester Memorandum von 1994 und in dem ukrainisch-russischen Freundschaftsvertrag von 1997 explizit anerkannt hat.
Und völkerrechtlich geben eben "Provokationen", die weit unter der Schwelle eines Angriffs i.S.v. Artikel 51 UN Charta liegen, dem "Provozierten" nicht das Recht zur Gewaltanwendung, geschweige denn zu einem zerstörerischen Angriffskrieg, wie wir ihn leider gerade sehen.
Staschinski-Fall und Stepan Bandera
Sie bezeichnen das "russische Narrativ einer Bedrohung durch eine neo-nationalsozialistische Ukraine" als "aus unserer Sicht abwegig" (S.36). Würde man die propagandistische Fixierung Moskaus auf "Neonazis" übergehen und stattdessen auch von "Rechtsextremen, Ultranationalisten und Faschisten" sprechen, erschiene Ihnen das Bedrohungs-Narrativ dann weniger abwegig?
Dazu eine Anmerkung zu Ihrer Erwähnung des Staschinsky-Falles, den sie als "Ermordung eines ukrainischen Oppositionellen im Jahre 1957 in München" erläutern . Tatsächlich tötete der KGB-Agent Staschinsky damals zwei Ukrainer: 1957 Lew Rebet und 1959 Stepan Bandera, besonders letzterer ist bekannt als faschistischer Ultranationalist, Nazi-Kollaborateur und mutmaßlicher Massenmörder. Bandera wurde als Idol der ukrainischen Rechtsextremisten besonders ab 2014 zur wichtigen Symbolfigur für den politischen Rechtsruck der Ukraine. Haben Sie Bandera bewusst ausgelassen oder war ihnen seine Rolle nicht bekannt?
Kai Ambos: Staschinsky wurde wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen zu Lasten von "R." und "Ba." verurteilt. Dass "Ba." für Bandera steht war mir nicht bekannt. Danke für den Hinweis.
Nils Melzer und Julian Assange
Eine letzte Frage abseits der Ukraine. Sie intervenierten 2012 zuungunsten von Assange, 2021 mit einer ihm gewogeneren Bewertung. Seither haben die Assange-Enthüllungen Ihres Kollegen Nils Melzer (Jura-Prof, UN-Folterbeauftragter) die bisherige Faktenlage geändert. Sind Ihnen Melzers Ermittlungsergebnisse bekannt, die skandalöse Manipulationen der schwedischen Justiz offenbarten? (Ausführlich dargelegt im Buch "Der Fall Assange") Hat dies Ihre Einschätzung verändert?
Melzer beschreibt in seinem Buch, wie er verbreiteten Medien-Darstellungen von Assange zunächst aufgesessen ist und wie er dies überwand.
Kai Ambos: Ich kenne Melzer, aber das Buch zu Assange nicht. Ich habe mich zu dem Fall immer aus rein juristischer Perspektive geäußert. Wir dürfen insoweit nicht vergessen, dass Assange während des Rechtshilfeverfahrens zwischen England und dem Vereinigten Königreich die dortigen gerichtlichen Auflagen verletzt hat und dann aus eigenem Entschluss in der ecuadorianischen Botschaft Zuflucht gesucht hat. Es war immer klar, dass er sich dem Verfahren nicht ewig würde entziehen können und er hätte natürlich die Möglichkeit gehabt, seine juristische Situation früher zu klären.
Das aktuelle langwierige Auslieferungsverfahren zeigt übrigens, dass die britische Justiz nicht das Ausführungsorgan der US- Strafverfolgungsbehörden ist, sondern deren Ersuchen sehr genau und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen prüft. Leider gehen die juristischen Feinheiten bei solch höchst polarisierenden Persönlichkeiten wie Assange sehr schnell unter.
Abruch des Interviews durch Prof. Ambos. Dies war die von ihm freigegebene Version.