Doppelmoral des Westens im Ukraine-Krieg?

Seite 3: Nachtrag zum Interview: Ein Kommentar.

Anmerkung des Interviewers: Der Abbruch erfolgte nach Einführung weiterer Informationen aus Melzers Buch zur mangelnden Rechtsstaatlichkeit des Abschiebungsverfahrens und zur Fragwürdigkeit schon des Rechtshilfeverfahrens zwischen Schweden und dem Vereinigten Königreich, da dieses auf manipulierten Zeugenaussagen und Protokollen basierte, wie Melzer mit Nachweisen unterlegt behauptet.

Die Frage, ob angesichts von Verfehlungen der schwedischen und britischen Justiz die Verletzung gerichtlicher Auflagen durch Assange nicht eine lässliche Sünde oder überhaupt rechtswidrig sei (vgl. Melzers Buch, Kap. "Richterliche Befangenheit"), wollte Prof. Ambos nicht beantworten, er strich sie aus dem Interview.

Ebenso verfuhr er mit der Vorhaltung von nach Ansicht des Autors dieses Beitrags glaubwürdigen westlichen Quellen zum Einfluss von Rechtsextremen in der Ukraine. Es ging um Quellen, die der These von der evidenten Abwegigkeit derartiger, wenn auch propagandistisch übertriebener "russischer Narrative" widersprechen.

Nazis und Narrative in der Ukraine

"Wird aber dem Westen, repräsentiert durch die ehemaligen Kolonialmächte und die USA als postkoloniale Imperialmacht, im Globalen Süden wenig bis kaum Vertrauen entgegengebracht, so ist es nicht verwunderlich oder doch zumindest verständlich, dass das russische Narrativ einer Bedrohung durch eine neo-nationalsozialistisch kontaminierte Ukraine, zudem unterwandert und militärisch aufgerüstet durch die Nato, so abwegig dieses Narrativ aus unserer Sicht auch sein mag, durchaus auf offene Ohren stößt",

schreibt Ambos in seinem Buch (S.36).

Im Buch wie auch auf Nachfrage im Interview zeigt sich Ambos nicht geneigt, die Existenz von Nazis oder anderen Rechtsextremen in der Ukraine sowie ihren politischen Einfluss oder ihr militärisches Training durch westliche Firmen zu diskutieren.

Es scheint, dass in seiner Sicht solches nicht vorkommt? Ungeachtet entsprechender Parlamentarischer Anfragen im Bundestag oder von Studien, die eine rechtsextreme Unterwanderung des ukrainischen Militärapparats nahelegen.

Prof. Ambos Erstaunen über die Identität des Mordopfers Bandera in einem juristischen Standardfall könnte nach Meinung des Autors Indiz für eine Ausblendung sein. Ob Ambos etwas vom Bandera-Kult (siehe: "Das Tragische am Bandera-Kult ist, dass Ukrainer oft nicht wissen, wen sie eigentlich verehren") in der Westukraine mitbekommen hat? Seine Sorge gilt bei diesem Thema, wie es den Anschein hat, vorwiegend einem Machtverlust des Westens – auch weil das "russische Narrativ" andernorts eben doch nicht so abwegig erscheint?

Statt das westliche Täter-Opfer-Narrativ-Russland als brutalen Aggressor und die Ukraine als unschuldiges Opfer- zu übernehmen, sieht man sich im Globalen Süden häufig mit der These eines legitimen russischen Verteidigungskriegs, sei es zur Entnazifizierung der Ukraine oder zur Zurückdrängung der Nato, konfrontiert.

Kai Ambos, Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine, S.36

Dieses Wegschauen geht nach Ansicht des Autors konform mit dem weitgehenden Ausblenden ukrainischer Nazis aus dem Großteil der gegenwärtigen Berichterstattung großer Medien. Noch 2017 warnte etwa die eher nicht als Stimme Moskaus verdächtige Washington Post vor einflussreichen Rechtsextremen mit Neonazi-Verbindungen in Kiew:

Das deutlichste Beispiel für dieses Problem findet sich im Innenministerium, das von Arsen Awakow geleitet wird. Awakow unterhält seit langem Beziehungen zum Asow-Bataillon, einer paramilitärischen Gruppe, die das SS-Symbol als Abzeichen verwendet und mit einigen anderen in die Armee oder Nationalgarde integriert wurde... Awakows stellvertretender Minister Vadym Troyan war Mitglied der neonazistischen paramilitärischen Organisation Patriot of Ukraine (PU)... Awakow selbst nutzte die PU, um seine geschäftlichen und politischen Interessen zu fördern, während er als Gouverneur in der Ostukraine diente, und als Innenminister gründete und bewaffnete er das extremistische Asow-Bataillon unter der Führung von Andriy Biletsky, einem Mann mit dem Spitznamen "Weißer Häuptling", der zu einem Kreuzzug gegen die "von Semiten geführte Untermenschlichkeit" aufrief. (Übersetzt mit DeepL)

Joshua Cohen, Washington Post, June 15, 2017

Frontbegradigung im Propagandakrieg

Auch die Ausgangsfrage von Kai Ambos wirkt, genauer betrachtet, dem Mainstream näher als man auf den ersten Blick denken könnte. Auf dem Klappentext ist über die Annahme zu erfahren, "dass unsere Verurteilung des russischen Angriffskriegs von der ganzen Welt geteilt wird". Diese Falschdarstellung einer behaupteten "Internationalen Gemeinschaft" gegen Russland hört und liest man zwar oft in den Leitmedien, doch unsere Außenministerin selbst gab dazu schon Anfang September ihren Diplomaten öffentlich eine Linie von mehr Wahrheitstreue und Bescheidenheit vor:

Es stimmt: Wir haben als Weltgemeinschaft im März mit überwältigender Mehrheit in den Vereinten Nationen den russischen Angriffskrieg verurteilt. 141 Staaten. Aber zur Wahrheit gehört auch: Staaten, die mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, haben nicht mit uns gestimmt. Viele Staaten tragen auch die Sanktionen gegenüber Russland nicht mit... Wenn wir erreichen wollen, dass beim nächsten Mal anders abgestimmt wird... dann funktioniert das nur, wenn man mit vielen Fragen in Gespräche hineingeht und nicht nur mit seiner eigenen Haltung.

Annalena Baerbock, Berlin 05.09.2022

Der G20-Gipfel hat wohl just erste Erfolge der neuen taktischen Ehrlichkeit gezeitigt, die man auch Frontbegradigung im Propagandakrieg nennen könnte. Auch wenn Ambos sich vielen Fragen nicht stellen mag, dürften doch einige seiner Antworten weder der Bundesregierung noch der Nato gefallen.

Das Buch "Doppelmoral" bewegt sich zwischen Mainstream und einer Regierungskritik, die teilweise fast ambivalent wirkt. So erwähnt der Ambos zwar den für den Westen heiklen Amnestie-International-Bericht und nennt sogar die von AI angeprangerte Verwendung "menschlicher Schutzschilde" durch Selenskyjs Truppen beim Namen.

Damit geht er weiter als viele Journalisten. Doch geschieht dies nur in einer Fußnote (Fn.6) und dort wird zudem besonders ausführlich der AI-Kritiker Schmitt zitiert, der die Vorwürfe von AI "nicht überzeugend und genau genug nachgewiesen" findet. Andererseits zeigt die Quellenangabe, dass besagter Mr.Schmitt aus dem Umfeld der US-Elite-Militärakademie Westpoint stammt, was eine neutrale Bewertung des ukrainischen Verbündeten wieder fraglich scheinen lässt.

Die Quellen, die Ambos zitiert, sind meist amtlich oder Mainstream. Stärken zeigt er vor allem beim Bericht von juristischen Bestrebungen, ein nicht vom Westen dominiertes Internationales Recht anzustreben: TWAIL (Third World Approaches in International Law). Ziel sei, ein "posthegemoniales Völkerrecht", dessen Regeln "multilateral ausgehandelt werden müssen", gegen den bisherigen Hegemon, genannt "der Westen" (S.35).

Aber warum unterstützen nun so wenige Länder die Sanktionierung des russischen Aggressors? Die Antwort von Ambos fällt am Ende seiner kurzen Abhandlung doch eher paternalistisch aus: Der Westen sei durch Doppelmoral, koloniale und aktuelle Verfehlungen gegen das Völkerrecht zwar unglaubwürdig geworden, aber die Länder des Südens verfolgten auch "wirtschaftliche und andere Interessen", geben sich prinzipienloser Machtpolitik hin und empfinden "klammheimlich wohl eine gewisse Schadenfreude", weil Russland der westlichen Hegemonie in der Ukraine entgegentrete (S.53).

Dass es im globalen Süden auch die rationale Einschätzung geben könnte, der Westen befördere insgeheim den Ukrainekrieg, und man auch aus humanistischem Verantwortungsbewusstsein gegen die Verwüstung der Weltwirtschaft durch das westliche Sanktionsregime sein könnte, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn – anders als dem hier abschließend zitierten afrikanischen Diplomaten:

"Am unverständlichsten ist für uns die Idee, dass ein Konflikt wie dieser im Grunde genommen genährt wird, um unbegrenzt weiterzugehen."