Dr. Goebbels und die Weltverschwörung: Antisemitismus mit Spiel und Tanz und FSK
Seite 3: Schreckliche Welt
Arische Normabweichler wie die beiden Vagabunden hießen im Dritten Reich "Bummelanten". Wenn sie sich nicht "freiwillig" zum Wehrdienst meldeten, steckte man sie in ein Konzentrationslager. Zerlett konnte das mit seinen Helden schlecht machen. Die Art, wie er versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, trägt zum Charme des Films bei. Weil alles unweigerlich darauf hinausläuft, dass Robert und Bertram im Gefängnis enden, dies aber nicht geschehen soll, eröffnet ihnen das Drehbuch den einzig verbliebenen Ausweg: es schickt sie in den Himmel. Das wird sorgfältig vorbereitet. Zerlett streut Momente in die Handlung ein, die auf den Fiktionscharakter verweisen und den Übergang von der (filmischen) Realität in die Phantasie vorwegnehmen: Am Anfang geht der Vorhang auf wie beim Puppenspiel; Bertram träumt von zwei dicken Bauchtänzerinnen und zusammen mit Robert von zum Leben erwachenden Statuen; durch die Fenster im Palais Ipelmeyer schauen wir den Gästen beim Ankleiden für den Maskenball zu, und diesen ist bewusst, dass sie als Figuren in einem Film beobachtet werden - einem Film, der eigenen Gesetzen folgt und seine Charaktere darum auch in den Himmel bringen kann, wenn er das will.
Der Charme verfliegt, wenn Zerlett die Geschichte wieder in der Wirklichkeit verankert. Einmal blättert Robert in der Zeitung und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: "Eine schreckliche Welt! Diese Überschriften! Ach, der Aufstand im Fernen Osten, die Kämpfe in Indien, neue Attentate in Russland, Unruhen in Spanien, die Rassenkämpfe zwischen Weißen und Negern in Amerika … Gibt’s denn nun gar keine Ruhe? Wir leben doch schließlich im Jahre 1839!" Und Bertram antwortet beruhigend: "Lass man, mein Junge. In hundert Jahren sieht das alles anders aus." Hundert Jahre später, als der Film ins Kino kam, hatte der Führer bereits die Legion Condor nach Spanien geschickt (zu ihr gehört der Held in Wunschkonzert), um den dortigen "Unruhen" ein Ende zu machen, und die "gewaltige Abrechnung mit all denen, die Eigennutz über Gemeinnutz stellen" (Presseheft), hatte spätestens mit den Pogromen im November 1938 begonnen.
Die Nazis warfen anderen vor, was sie selber taten. Die jüdischen Opfer der Pogrome wurden nach Kräften ausgeplündert. Eine gesetzliche Grundlage für solche Raubzüge gab es da noch nicht, was selbst innerhalb der NSDAP für Unmut sorgte. Auch dazu hat Zerletts Film etwas zu sagen. Lenchens Vater will die von Robert und Bertram geschickten Juwelen zunächst nicht haben. Es war zwar moralisch richtig (sagt der Film), den Juden ihren bestimmt unrechtmäßig erworbenen Schmuck wegzunehmen, und sogar noch für einen guten Zweck, aber ein Diebstahl war es doch auch. Das bereitet sogar den Behörden Sorge. Sollten Robert und Bertram irgendwann gefasst werden, überlegt sich der Polizeipräsident, müsste man sie einsperren, weil das Gesetz es so verlangt. Die Verantwortung dafür will er nicht übernehmen. Also geht er zum Regierungspräsidenten, der zum Minister, und der Minister trägt die Sache dem König vor. Seine Majestät ist auch der Ansicht, dass mit solchen Gesetzen etwas nicht stimmt, kann aber leider nichts dagegen tun.
So funktioniert Propaganda. Man erfindet einen vermeintlichen Missstand in der fiktionalen Welt (Juden darf man nicht ausrauben), der in der Realität zur Genugtuung des Publikums behoben wird. Nach den Novemberpogromen wurde die dabei entdeckte Gesetzeslücke schnell geschlossen. Unter der Überschrift "Wiederherstellung der Ordnung" identifizierten die Nazis die Juden als die Schuldigen an den Ausschreitungen. Dann bestimmte Göring per Verordnung, dass alle Juden 20 Prozent ihres Vermögens als "Sühneleistung" abgeben mussten, wenn dieses 5000 Reichsmark überstieg. Der Raub war jetzt legal. In diesem Staat hätten Robert und Bertram nicht in den Himmel fliehen müssen - wobei, als "Bummelanten" wären sie ins KZ gekommen. Oder sie hätten sich zum Militär gemeldet. Das machten sie, als bald nach der Premiere mit Hitlers Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann. Dafür wurde ein neuer Schluss gedreht. "In Reih und Glied stehen Robert und Bertram als stramme Soldaten", schreibt das Programm von Heute, "und Michel kommandiert von der Front: ‚Das Gewehr über! Kompanie marsch!’"
Unabhängig davon, ob junge Männer wie Michel in Robert und Bertram eine SA- oder eine Operettenuniform tragen: immer ist es eine militaristische Gesellschaft, die in solchen Filmen als Normalität vorgeführt wird. Je mehr von diesen paradierenden Soldaten ich sehe, desto irritierter reagiere ich auf sie. Aber wie das damals ankam, weiß ich nicht. Wurde durch das dauernde Wiederholen derselben Muster die richtige Gesinnung eingeübt wie bei einer Gehirnwäsche? Wurde die Propaganda durchschaubarer und somit weniger wirkungsvoll, weil den Autoren und Regisseuren selten etwas Neues einfiel? Wirkten diese Umzüge auf das Publikum des Jahres 1939 so euphorisierend, wie es beabsichtigt war, ähnlich bedrückend wie auf mich, oder war es für damalige Kinogänger vielleicht sogar noch schlimmer, weil nicht nur auf der Leinwand marschiert wurde, sondern auch draußen vor dem Kino?
65 Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wissen wir erstaunlich wenig. Das fängt damit an, dass außer Leuten über 80 nur ganz wenige die Filme gesehen haben, die nach 1945 unter eher dubiosen Umständen als besonders schlimm und gefährlich eingestuft wurden und bis heute nicht gezeigt werden dürfen, weil die "Vorbehaltsfilme" scheinbar Nazi-Viren in sich tragen und deshalb unter Quarantäne bleiben müssen. Für die in Sonntagsreden so gern beschworene Diskussionskultur kann das nicht gut sein. Während die Zeitzeugen ständig weniger werden oder sich nicht mehr erinnern können, sind die Nachgeborenen längst dazu übergegangen, die Filmpropaganda im Dritten Reich immer stärker auf ein einziges Werk eines einzigen Regisseurs zu reduzieren: auf ein Werk, das kurioserweise so unbekannt ist (weil von der in rechtlichen Grauzonen operierenden Murnau-Stiftung mit Aufführungsverbot belegt), dass Oskar Roehler für Jud Süß - Film ohne Gewissen einige Schlüsselszenen neu drehen musste, damit das Publikum ungefähr weiß, wovon die Rede ist. Ich bin dafür, dass baldmöglichst jemand den kompletten Film Jud Süß originalgetreu nachdreht und ins Kino bringt. Dann hätten wir die urdeutsche Art der Vergangenheitsbewältigung per Verbot endgültig ad absurdum geführt.
Antisemitismus für kleine Kinder
Vor dem Spielfilm über den Propagandafilm, den keiner kennt, gab es schon den Dokumentarfilm über den Propagandafilm, den keiner kennt: Felix Moellers leider ziemlich dröge ausgefallenen Harlan - Im Schatten von Jud Süß. Der Verfasser des zugehörigen Werbetextes wusste, was verlangt ist: "Einer der Meisterregisseure der Filmgeschichte, bleibt Veit Harlan (1899-1964) immer verbunden mit dem antisemitischen Propagandafilm Jud Süß (1940) …" und so weiter. Dafür gab es freundliches Schulterklopfen. Ein großer Mann (der "Meisterregisseur") macht einen schlimmen Film. Aber der richtige Mann sollte es schon sein. An den medialen Äußerungen zu Roehlers Film ohne Gewissen fällt mir neben einer schon lange nicht mehr erlebten Verrissorgie noch auf, wie oft bemängelt wird, dass Veit Harlan so blass bleibt.
Kritisiert wird nicht die Verdichtung auf eine einzige Person (in einem Spielfilm muss das erlaubt sein), sondern auf die falsche. Veit Harlan ist bei Roehler ein eitler Fatzke, Opportunist und Befehlsempfänger. Der eigentliche Schöpfer von Jud Süß heißt Joseph Goebbels. "So nicht!", sagt das deutsche Feuilleton. Harlan war’s. Wir haben uns nämlich so an ihn gewöhnt, an "des Teufels Regisseur" (Untertitel von Frank Noacks Biographie, die manchmal arg apologetisch ist, aber nie so daneben wie Ingrid Buchlohs Veit Harlan: Goebbels’ Starregisseur). Harlan ist der Dämon, der deutsche Arier durch die Macht seiner Bilder dazu brachte, ihre jüdischen Mitbürger zu ermorden. Ihn geben wir jetzt nicht mehr her.
Wohlgemerkt: Veit Harlan und der Film Jud Süß sind mir ganz unsympathisch. Ich behaupte nicht, genau zu wissen, wer welche propagandistischen Leistungen erbrachte und welche Wirkung mit ihnen erzielt wurde. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man nichts verstanden hat, wenn man in Kategorien wie "Meisterregisseur" oder "große Männer" denkt. Eine der gruseligsten Szenen in Roehlers Film ist die, in der Ferdinand Marian (Tobias Moretti) nach anfänglichem Widerstand dazu gebracht wird, die Rolle des Süß Oppenheimer zu übernehmen. Goebbels stellt seinen Hauptdarsteller in großer Runde vor. Da klatschen die Figuren, die sonst noch dazu beigetragen haben, dass Jud Süß der Film wurde, der er ist: von Werner Krauß, Heinrich George und Veit Harlan über die Denunziantin bis zu den Uniformträgern, die das Unrechtssystem der Nazis am Laufen hielten.
Mag sein, dass einer von den Beteiligten - von mir aus Harlan oder Goebbels - ein genialer Mensch war. Aber Jud Süß ist auch das Ergebnis einer Experimentierphase, in der das eine verworfen und das andere für gut befunden wurde. Wichtig war die Wiederholung bestimmter Elemente. Ein Film für sich allein - ohne die Vorgänger, ohne das Publikum der Zeit und ohne den Staat, von dem er produziert wurde und in dem er lief - bewirkt vermutlich gar nichts. Jedenfalls nicht bei halbwegs intelligenten Erwachsenen. Wir könnten anfangen, darüber zu reden, wenn die Vorbehaltsfilme endlich frei zugänglich wären (für Erwachsene, nicht für Kinder). Wer kein Nazi ist, wird es durch sie heute nicht mehr werden.
An dieser Stelle muss ich ausdrücklich die Murnau-Stiftung loben. Die Inhaltsangabe zu Robert und Bertram ist richtig und nicht von alten Nazi-Filmprogrammen abgeschrieben wie etwa die zu Ritt in die Freiheit. Wundern muss ich mich aber doch. Laut Stiftungs-Website handelt es sich um einen "Vorbehaltsfilm". Hier noch einmal die Definition der Murnau-Stiftung:
Vorbehaltsfilme (VB-Filme) sind vorwiegend Propagandafilme aus der Zeit des Dritten Reichs, deren Inhalt kriegsverherrlichend, rassistisch oder volksverhetzend ist, denen z.T. die Freigabe der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) verweigert wurde und die auf Beschluss des Kuratoriums der Murnau-Stiftung von ihr nicht gewerblich ausgewertet werden.
Warum gab es den Film dann jahrelang als VHS-Kassette (zuerst in der "Ufa-Silber-Serie", später neu verpackt in der Reihe "Die großen Ufa-Klassiker")? Hat die Stiftung das nicht gemerkt? Was war bei der FSK los, als man den Film ab 6 Jahren (!) freigab? Falls die Angaben der Murnau-Stiftung zur Laufzeit stimmen, fehlen etwa drei Minuten. Beim Ipelmeyer-Teil gab es höchstens einige kosmetische Veränderungen, wenn überhaupt. Während also Erwachsene durch Aufführungs- und Verbreitungsverbote ausgewählter NS-Propagandafilme vor dem Faschismusvirus geschützt werden (die Alternative wären fachkundig kommentierte DVD-Ausgaben), dürfen 6-Jährige mit dem Segen der FSK einen Film sehen, aus dem sie erfahren, dass Juden an ihrem Äußeren zu erkennen (Hakennase, fett, watschelnder Gang) und geldgierig sind, dass sie keine Kultur und keine Moral haben und es in Ordnung ist, sie zu bestehlen, weil alle Juden große Gauner sind. Selbstredend ohne "von kompetenten Referenten eingeführt und anschließend mit dem Publikum diskutiert" zu werden (die Murnau-Stiftung zu ihrem Umgang mit den VB-Filmen). Dafür steht auf dem Cover der leicht umformulierte Anfang der Inhaltsangabe des Reichsfilmarchivs. Wenigstens war man so sensibel, nicht noch den Regisseur zu zitieren. Etwa so: "Der Antisemitismus steht auch in meinem Film im Mittelpunkt." Bravo. Es tut gut zu wissen, dass der "verantwortungsbewusste Umgang mit dem NS-Filmerbe" (Selbstdarstellung der Murnau-Stiftung) bei uns in guten Händen ist.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.