Dracula und die Faschisten: Mit Christopher Lee im Lande des spanischen Diktators

Seite 2: Entführung in Barcelona

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Ein Jahr nach dem Buñuel-Desaster starteten die Franquisten einen neuen Anlauf. Sie pumpten nun Geld in die marode Filmindustrie und erhofften sich im Gegenzug das kulturelle Prestige, das die Regierung für ihre EWG-Kampagne dringend brauchte. Begleitend gab es eine moderate Liberalisierung der Zensurvorschriften, weil mit dem, was reaktionäre Katholiken auf der Leinwand sehen wollten, in Westeuropa kein Staat zu machen war. Sogar ein wenig Kritik an den herrschenden Verhältnissen war erlaubt, wenn dadurch Filme entstanden, mit denen das Regime dem Ausland das Bild eines modernen und europäischen Spanien präsentieren konnte.

Unter der Franco-Diktatur musste erst das Drehbuch genehmigt werden und dann der fertige Film. Das Verfahren war völlig willkürlich. Beamte entschieden nach eigenem Ermessen oder folgten Regeln, die je nach Bedarf formuliert und dann wieder verworfen wurden. Um für mehr Klarheit zu sorgen wurde 1963 ein Katalog mit einheitlichen Zensurvorschriften erstellt, der trotz einiger Lockerungen im Wesentlichen bis zu Francos Tod so blieb. Hintergrund waren die vom katholischen Laienorden Opus Dei angestoßenen Reformen, die der oft chaotisch operierenden Wirtschaft eine allgemein verbindliche, regelbasierte Grundlage geben sollten.

Entführung in Barcelona (18 Bilder)

Umbracle

In Portabellas Umbracle stellt uns der Kritiker Román Gubern (Spezialgebiete: Genrefilme, Comics, Luis Buñuel) den Zensurkatalog kurz vor. Verboten war beispielsweise die "würdelose oder abwertende Darstellung politischer Ideologien", aber das galt nur, wenn Kritik am Franquismus geübt wurde. Verboten war alles, was die Verteidigungsfähigkeit des Landes schwächen konnte; alles, was gegen die Dogmen und die Moral der katholischen Kirche gerichtet war; alles, was den Status quo und den Staatschef in Frage stellte; und alles, was nicht in katholisches Weltbild passte: Suizid, Ehebruch, Abtreibung, Geburtenkontrolle, Scheidung, außerehelicher Sex, Prostitution und so weiter.

Artikel 18 hielt fest, dass Filme zu verbieten waren, die durch eine Ansammlung von Szenen "eine lüsterne, brutale, vulgäre oder morbide Atmosphäre schaffen", auch wenn an den einzelnen Szenen, für sich genommen, nichts zu beanstanden war. So konnte man Filme verbieten, denen kein direkter Regelverstoß nachzuweisen war. Der Gipfel der Heuchelei ist für Gubern Artikel 12, der "Bilder oder Szenen mit Grausamkeiten gegenüber Menschen oder Tieren oder Bilder des Schreckens" verbietet.

Gubern findet das zynisch, "weil die Polizei in diesem Land auf den Straßen terroristische Methoden anwendet, brutal gegen Bürger, Arbeiter, Studenten vorgeht, und doch verbietet es diese Heuchelei, auf einer Leinwand die Brutalität und den Terror zu zeigen, den [das Regime] selbst praktiziert." Bevor Gubern über die Zensur spricht kauft sich Christopher Lee eine Zigarre, geht aus dem Tabakladen hinaus auf die Straße und sieht, wie Geheimpolizisten einen Mann in ein Auto zerren und verschleppen. Offen bleibt, ob Lee ein Tourist ist oder der Auftraggeber, der eine von ihm angeordnete Aktion beobachtet.

Je schlimmer die real ausgeübte Gewalt, desto weniger darf sie in einem Film gezeigt werden: Nach dieser Logik des Zensurkatalogs wurde die - durch die künstlerische Verfremdung sowohl auf das Wesentliche wie auf das Ungeheuerliche reduzierte - Entführung durch die Wahl des Schauplatzes zum umso größeren Regelverstoß. Sie spielt sich in Barcelona ab, der Hauptstadt der Katalanen. Im Bürgerkrieg hatten die Feinde der Republik in Katalonien besonders schlimm gewütet. Danach ging Franco mit einer erschreckenden Ruchlosigkeit gegen alles vor, was katalanisch war. Die Eigenständigkeit der katalanischen Kultur war ihm ein Dorn im Auge, den es zu beseitigen galt.

Besiegt, aber nicht bezwungen

Die Franco-Diktatur wirkt lange nach. Die Unterdrückung ihrer Kultur ist einer der Gründe dafür, warum sich viele Katalanen von Spanien abspalten wollen. Ein einschneidendes Ereignis für die katalanischen Cineasten war eine Konferenz im Badeort Sitges (eine halbe Autostunde von Barcelona entfernt) im Oktober 1967. Dort trafen sich Studenten, Kritiker und junge Filmemacher, um über den Zustand und die Zukunft des spanischen Kinos zu diskutieren. So etwas hatte es seit den "Conversaciones Cinematográficas de Salamanca" im Jahr 1955 nicht mehr gegeben.

Damals hatte der Regisseur Juan Antonio Bardem erklärt, dass das spanische Kino "politisch nutzlos, gesellschaftlich falsch, intellektuell niedrigstehend, ästhetisch zu vernachlässigen und industriell notleidend" sei. Salamanca war die Gründungsveranstaltung des "Neuen spanischen Films". Der Aufbruch war von einer gehörigen Portion Pragmatismus begleitet. Mit eingeladen waren der Generaldirektor für Film und Theater José María García Escudero und José Luis Sáenz de Heredia, Francos Schwager, der 1942 den Propagandafilm Raza gedreht hatte, basierend auf einer von Franco höchstpersönlich verfassten Erzählung (in Dialogform) über die Rettung des Vaterlandes durch den Faschismus.

Besiegt, aber nicht bezwungen (21 Bilder)

No compteu amb els dits

Bardem und andere forderten mehr staatliche Unterstützung und sprachen sich dafür aus, die Qualität des spanischen Films im Rahmen des Möglichen zu steigern, also innerhalb der vom Regime vorgegebenen Bedingungen, statt Luftschlösser zu bauen. Deshalb verlangten sie nicht nur mehr Freiheiten für Filme, die ein realistisches Bild der Gesellschaft zeichneten, sondern auch eine Zensur mit klaren Richtlinien (was 1963 verwirklicht wurde), damit man wusste, in welchem Rahmen man sich zu bewegen hatte. Wenn schon Zensur, dann bitte eine solche, auf die man sich einstellen konnte, weil es feste Regeln gab.

Den Cineasten, die sich zwölf Jahre danach in Sitges versammelten, war das viel zu angepasst. Die Konferenz wurde rasch zur Gegenveranstaltung zu Salamanca und zur Absage an das neue, mit Madrid assoziierte spanische Kino, das sich damals konstituiert hatte. Der evolutionäre Ansatz, dem zufolge nach und nach alles besser werden würde, wenn man sich mit kleinen Schritten begnügte und die Toleranz des Regimes nicht zu sehr beanspruchte, führte für die Konferenzteilnehmer nur in die Selbstzerstörung. Einer der Organisatoren, der Drehbuchautor und Regisseur Joaquín Jordà, verlas einen Text, der zum Gründungsmanifest der "Barcelona-Schule" wurde.

Unter den Bedingungen der franquistischen Zensur sei es sinnvoller gewesen, meinte Jordà später, einen Film über einen Billardball zu drehen als über den Bürgerkrieg, weil man über einen weißen Ball mehr Wahres habe sagen dürfen als über den Krieg. In Sitges forderte er ein alternatives Kino, das sich selbst finanzierte, statt auf staatliche Zuwendungen angewiesen zu sein; ein Kino, das außerhalb der Zensurvorschriften operierte, das von Leuten gemacht wurde, die ihr Handwerk nicht an den staatlichen Filmschulen gelernt hatten und das sich Vertriebswege suchte, die nicht staatlich kontrolliert wurden.

In Abkehr von Madrid und dem dort propagierten Sozialrealismus sollte dieses Kino avantgardistisch sein und die Repräsentationsformen des Mediums hinterfragen. Was das bedeuten konnte ließ sich beispielsweise anhand von No compteu amb els dits erkunden, der in Sitges zum ersten Mal gezeigt wurde. Mit "Zähle nicht mit den Fingern", entstanden in Zusammenarbeit mit dem katalanischen Dichter Joan Brossa, meldete sich der seit Viridiana verfemte Pere Portabella als engagierter Filmemacher zurück, experimentierte mit neuen Erzählformen und gab gleich mit dem ersten Satz seines ersten Films seine Visitenkarte ab: "Besiegt … aber nicht bezwungen."

Das Regime fühlte sich durch Sitges so sehr herausgefordert, dass zur Abschlussveranstaltung die Polizei erschien und Verhaftungen vornahm. Escudero, dem für den Film zuständigen Generaldirektor, wurde vorgeworfen, zu liberal zu sein; er verlor seinen Posten. In Barcelona wurde das Filmmuseum geschlossen. An der staatlichen Filmhochschule durfte vorübergehend nicht mehr unterrichtet werden. Die harsche Reaktion des Regimes zeigt, dass die Avantgarde mehr ist als eine esoterische Spielerei. Während sich der Kommerzfilm arrangiert kann sie eine subversive Kraft entfalten, die Diktatoren fürchten.

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