Dracula und die Faschisten: Mit Christopher Lee im Lande des spanischen Diktators

Seite 5: Sprachverbot und Peitsche

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Der Film beginnt auf einem Platz im Barri Gòtic, dem Gotischen Viertel in der Altstadt von Barcelona. Bezogen auf die Dracula-Geschichte müsste das irgendwo in Transsilvanien sein, denn bis zum Schloss des Grafen ist es nicht mehr weit. Ein nasskalter Tag. Gedreht wurde im Dezember 1969, was auch erklärt, warum Maria Rohm ihren Pelzmantel über der Mina-Bluse trägt, wenn sie nicht als Schauspielerin vor Merinos Kamera stehen muss. Eine Kutsche bringt Harker zum Gasthof, in dem er die letzte Nacht vor der Ankunft beim Grafen verbringen wird. Die Wirtsleute begrüßen ihn.

Draußen vor dem Gasthof läuft ein Mann in einem Regenmantel über das Pflaster, um ins Trockene zu kommen. Auch zwei Männer mit Regenschirmen überqueren den Platz. Einer hat eine Aktentasche dabei. Das sind Passanten und Eindringlinge aus einer anderen Zeit, die in so einer Vampirgeschichte aus dem Viktorianismus nichts zu suchen haben. Sie sind zufällig in die Filmaufnahme geraten, oder nach einer Regieanweisung von Portabella. Jedenfalls ist ihre Anwesenheit höchst erwünscht, denn durch sie wird das 19. Jahrhundert mit dem Barcelona des Jahres 1969 verknüpft.

Sprachverbot und Peitsche (25 Bilder)

Cuadecuc

Bei diesem Anfang auf einem verregneten Platz in Barcelona denke ich unwillkürlich an den Anfang von Jacques Demys Les parapluies de Cherbourg (1962), bei jedem Sehen ein Stück mehr. Das hat nicht nur mit den Regenschirmen zu tun. Beide Filme nähern sich Themenbereichen an, die gesellschaftlich tabuisiert waren. Bei Demy ist es der Algerienkrieg, bei Portabella die Diktatur. Beide Filmemacher entschieden sich für einen unkonventionellen Umgang mit dem Ton, um Dinge zu sagen, die nicht ausgesprochen werden durften. Bei Demy werden alle Dialoge gesungen. Portabella lässt sie weg. Man sieht nur die sich bewegenden Lippen der Akteure.

Durch das Verstummen der Darsteller erhält der Zuschauer "interpretatorische Freiheiten", wie Portabella es einmal nannte. Das Publikum wird zur Mitwirkung aufgefordert und kriegt keine abgeschlossene, sondern eine fragmentarische Geschichte vorgesetzt, die es selbst vervollständigen soll, indem es die Leerstellen füllt. Im Spanien des Generalísimo war darüber hinaus bereits das Verstummen eine kraftvolle politische Aussage. Die Sprache der Katalanen war verboten. Das Schweigen in Cuadecuc ist sehr laut. Ein stummer Protest gegen eine Wirklichkeit, die für viele Katalanen unerträglich war.

Sogar die Information im Vorspann von No compteu amb els dits, dass Portabella die Texte von Joan Brossa aus dem Katalanischen übersetzt habe, war in Francos System der Uniformität eine Provokation. In No compteu gehen zwei alte Frauen durch eine Landschaft. Dann sieht man die Ruine einer Burg. Dazu hört man das Knallen einer Peitsche. Eine Männer- und eine Frauenstimme lesen Texte aus einem Katalog vor, in dem ein Peitschenverkäufer seine Produkte anpreist. Es gibt Peitschen für Tiere und für Menschen, für Erwachsene und für Schulkinder.

Man erfährt, welche Peitschen besonders schmerzhaft sind und wozu der Händler rät, wenn man eine Peitsche mit einem federleichten Griff will, die trotzdem sehr wirkungsvoll ist. Vielleicht ist das aber auch die Broschüre einer Behörde, die ihren Schergen empfiehlt, was man am besten nimmt, wenn man einen Katalanen beim Sprechen seiner Sprache ertappt hat. Zuwiderhandlungen gegen das Sprachverbot wurden mit Prügel- oder Gefängnisstrafen geahndet. Vielleicht hat Brossa den Werbetext selbst geschrieben, weil er in der gewünschten sprachlichen Prägnanz bei Händlern und Polizeibütteln nicht zu finden war.

Soviel ich weiß war es auch Brossa, der vorschlug, dem Filmtitel Vampir das katalanische Cuadecuc hinzuzufügen, als Zeichen des Widerstands gegen die Gleichmacherei. Das Land durfte der Film so nicht verlassen. Als er im Mai 1971 in einer Sonderreihe des Festivals von Cannes gezeigt wurde lief er als Vampir, ohne den Wurmfortsatz. Portabella hieß Pedro und nicht Pere, weil unter Franco sogar die Vornamen hispanisiert wurden. Die Ausreise nach Frankreich musste ihm das Regime gar nicht erst verweigern, weil er seit dem Viridiana-Skandal keinen Pass mehr hatte.

Unheimliche Gesichte

Cuadecuc ist stumm, nicht ohne Ton. Der Multimediakünstler Carles Santos, ein Schüler von John Cage, hat eine Klanglandschaft aus Presslufthämmern, Hundegebell, Kirchenglocken, Flugzeuglärm, Opernarien und elektronisch generierten Tönen geschaffen, von einem nach Wellblech klingenden Donnergrollen bis zu einem ominösen Dröhnen, von dem man sich durch eine einschmeichelnde Lounge-Musik erholen kann. Der elektronische, lang nachhallende Donner begleitet Harker durch die ersten Minuten und wird ergänzt durch die Wirtsfrau, die ihn vor der Weiterreise warnt.

Zum Vorspann fährt ein Auto durch ein geflashtes, mit Bäumen bestandenes Gelände. In dem Auto sitzt der Herr der Vampire. Graf Dracula oder, mit bürgerlichem Namen, Christopher Lee. Der Betrachter darf (soll) selbst entscheiden, ob das Harkers Albtraum ist oder die Wirklichkeit. Vielleicht beides. Cuadecuc sei während der Dreharbeiten zu Jess Francos "Dracula" entstanden, informiert ein Vorspanntext, produziert von der Firma Hammer Films. Das ist ein Irrtum und trotzdem nicht ganz falsch. Harry Alan Towers war nicht auf Originalität aus, sondern wollte mit möglichst geringen Mitteln die Konkurrenz kopieren.

Unheimliche Gesichte (32 Bilder)

Cuadecuc

Mit Dracula Has Risen from the Grave, dem dritten und bisher schwächsten ihrer Vampirfilme mit Christopher Lee, war der Hammer soeben einer der größten Kassenschlager der Firmengeschichte gelungen. An diesen Erfolg wollte sich Towers anhängen, indem er mit seiner Firma Towers of London sowie Partnern aus Spanien, Deutschland und Italien einen eigenen "Hammer-Film" produzierte - ohne den Namen "Hammer" im Vorspann und auf dem Plakat, dafür aber mit dem Schauspieler, den man am meisten mit der Dracula-Figur assoziierte, seit er für die Hammer in Frauenhälse biss: Christopher Lee. Das war zumindest ein angestrebter Etikettenschwindel.

Am Drehort angekommen, hat der Chauffeur seine Arbeit getan und erst mal Pause. In einem Gebüsch findet die Kamera Christopher Lee. Ein Mann macht künstlichen Nebel, ein elektronischer Wind weht dazu, und Lee hält sich die Hand vors Gesicht, als fühle er sich ertappt und wolle nicht gefilmt werden. Eine Kutsche fährt durch den Wald. Lee grinst jetzt und grüßt gut gelaunt in die Kamera als freue er sich auf sein Opfer. Im Kunstnebel taucht eine andere Kamera auf, die von Merino. In der Szene, die sie filmt, sind wir am Borgo-Pass. Dracula, als Kutscher verkleidet, holt Harker ab, um ihn in sein Schloss zu bringen.

So gruselig wie hier, verstärkt durch einen elektronisch erzeugten Wind wie aus der Gruft, hat man die Szene selten gesehen. Am ehesten kann man sie noch mit Nosferatu vergleichen, wo der Leichenwagen des Vampirs in Negativbildern durch den Wald fährt. "Kaum hatte Hutter [Harker] die Brücke überschritten, da ergriffen ihn die unheimlichen Gesichte, von denen er mir oft erzählt hat", berichtet bei Murnau der anonyme Chronist. Cuadecuc vermittelt einem ein Gefühl dafür, was es bedeutet, wenn man von "unheimlichen Gesichten" ergriffen wird. Bilder rauschen vorbei. Wie in Nosferatu nimmt die Kutsche Fahrt auf, wird immer schneller als sei sie nicht mehr zu stoppen, wenn man erst mal drin sitzt.

Vor dem Aufprall am Ende dieser Höllenfahrt rettet uns ein Filmschnitt. Ein stiller See. Dahinter, durch kahle Bäume, das Vampirschloss. Der Requisiteur macht frische Spinnweben an die Eingangstür, bevor Harker anklopft und Dracula öffnet, jetzt als Schlossherr. Ehe Lee die Tür wieder schließt wirft er einen kurzen Blick in die Kamera - in die von Cuadecuc und nicht in die von El conde Drácula, denn dort gilt das Gebot der unsichtbaren vierten Wand zwischen Publikum und fiktionaler Welt. Der Blick in die Kamera ist verpönt, weil er die Illusion zerstört, dass die vor ihr agierenden Schauspieler nicht wissen, dass sie da ist (stellvertretend für uns, die Zuschauer).

Portabella legt die Mechanik des Illusionskinos offen als würde er die Motorhaube des Wagens hochklappen, in dem der Chauffeur Christopher Lee durch die Gegend kutschiert, damit wir sehen können, was darunter verborgen ist und was man braucht, damit das Auto fahren kann. Dabei ist alles gleichermaßen phantastisch, das Nebel- und Spinnwebmachen genauso wie der Vampirismus. Einmal ist man mit der Kutsche unterwegs, dem Vehikel des 19. Jahrhunderts, ein andermal mit dem des 20. Jahrhunderts, dem Automobil. Einmal ist man in Transsilvanien und ein andermal in Spanien, und immer in einer Welt, in der ein Feudalherr darauf wartet, dass er Menschen das Blut aussaugen kann.

Im zweiten (und letzten) Teil besichtigen wir das Schlafzimmer des Vampirs und schauen nach, was da an der Wand hängt. Damit geht es demnächst weiter:

Im Schattenhaus: Bei den Geistern der Vergangenheit

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