Drei Jahre Pandemie im Spiegel der Übersterblichkeitsstatistik
Wie schneidet Deutschland im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern ab? Was ist aus Schwedens "Sonderweg" geworden? Eine Zwischenbilanz.
Mit dem allmählichen Abklingen der Maßnahmen ist es ruhiger geworden um die Pandemie und damit auch um die Frage nach der Übersterblichkeit. Die Abkühlung der erhitzten Gemüter sollten wir nutzen für eine Zwischenbilanz: Wie ist Deutschland – im Vergleich zu den übrigen OECD-Ländern – bisher durch die Pandemie gekommen? Und was ist aus dem "Schwedischen Sonderweg" in der Pandemie geworden?
Grundsätzlich ist festzustellen, dass Deutschland im unteren Mittelfeld liegt – während einige Länder für die drei vergangenen Jahre Übersterblichkeiten von bis zu 30 Prozent gegenüber der erwartbaren Sterblichkeit verzeichnen, waren es in Deutschland circa sechs Prozent; in einigen Ländern lag die Übersterblichkeit sogar bei null. Allerdings ist zu beobachten, dass bei den anfänglichen No-Covid-Musterschülern im Verlauf der drei Jahre der Erfolg deutlich nachgelassen hat.
Das gilt nicht nur für China, das deswegen öffentlichkeitswirksam mit klammheimlicher Schadenfreude bedacht wird, sondern eher still und leise auch für einige andere Länder, wie zum Beispiel Australien, Norwegen, Korea und Japan, die 2020 noch Untersterblichkeit vermelden konnten, aber gerade 2022 höhere Übersterblichkeiten aufweisen.
Umgekehrt liegen bei den ehemaligen schwarzen Schafen, die wegen anfangs hochschnellender Ansteckungen und Todeszahlen einer laxen Politik geziehen wurden, die Mortalitätsraten vielfach wieder im Normalbereich oder sogar darunter.
Schweden, das wegen seiner entspannteren Politik anfangs besonders am Pranger stand, hat, auf die drei Jahre gerechnet, eine niedrigere Übersterblichkeit als Deutschland, das sich dank seines aufgeregten Aktivismus wohlbehütet wähnte. Es scheint sich also anzudeuten, dass über die Jahre die weißen Schafe schwärzer und die schwarzen Schafe weißer geworden sind, so dass am Ende alle grau gescheckt aus der Pandemie herauskommen – 37 shades of grey, denn so viele Länder werden wir im Folgenden betrachten (für die Türkei als 38. OECD-Land liegen keine ausreichenden Daten vor).
Beim Vergleich dieser Länder kann man dann auch fragen, was "die Maßnahmen" gebracht haben. Hierzu hat Our World in Data einen recht umfangreichen Datensatz zusammengetragen und zum Download zur Verfügung gestellt.
Das Ergebnis ist etwas ernüchternd: Für die Kontaktbeschränkungen lassen sich dämpfende Wirkungen gar nicht, für die Impfungen lassen sie sich nur für 2021 nachweisen. Im Wesentlichen sind die Unterschiede zwischen den Ländern statistisch korreliert mit systemischen Ursachen, auf die die Politik kurzfristig keinen Einfluss hat.
Andererseits sind aber auch kaum Übersterblichkeitswellen auszumachen, die nicht mit Covid-Todesfällen assoziiert wären. Außer in der zweiten Hälfte 2022: In diesem Zeitraum sind in Deutschland und einigen anderen Ländern Mortalitätswellen aufgelaufen, die von Corona weitgehend entkoppelt waren.
Diese Beobachtung hat in der deutschen Öffentlichkeit zu allen möglichen Überlegungen Anlass geboten – die einen wollen hier Impfschäden deklarieren, die anderen Nachwirkungen der Pandemie am Werk sehen. Da dieses Muster aber nur in einem Teil der 37 Länder zu finden ist und mit der Impfquote weder positiv noch negativ korreliert, sollte man sich mit vorschnellen Mutmaßungen zurückhalten.
Übersterblichkeit als Maßstab von Katastrophen
In einer Pandemie kann man nicht wissen, ob alle Todesfälle akkurat erfasst werden. Einerseits sterben viele Menschen, ohne dass ihr Tod zuverlässig der entsprechenden Infektion zugerechnet werden kann. Oder man könnte umgekehrt den Verdacht hegen, dass ein mittels Infektionsnachweis zugerechneter Covid-Tod sich ohnehin im betreffenden Zeitraum ereignet hätte – die Menschen also mit Covid, aber nicht an Covid gestorben wären.
Jenseits der Infektionen gibt noch eine Reihe anderer Gründe für zusätzliche Todesfälle infolge einer Pandemie. Sie könnten auch der Angst ins Krankenhaus zu gehen, dem Hunger infolge von Einkommensausfall, der Überlastung der Krankenhäuser usw. geschuldet sein, und müssten außerdem gegengerechnet werden zu eventuell verminderten Todeszahlen aufgrund von beschränkenden Maßnahmen – weniger Autoverkehr und entsprechend weniger Verkehrsopfer zum Beispiel. Das ist die erste Unschärfe, die man bei der Übersterblichkeitsstatistik im Auge behalten muss.
Die zweite Unschärfe liegt im Berechnungsverfahren der Übersterblichkeit. Übersterblichkeit liegt vor, wenn die Todeszahlen über die normal erwartbare Mortalität ansteigen. Wenn in Deutschland zum Beispiel im Jahr ca. 1 Million Tote zu erwarten sind und tatsächlich 1,1 Millionen sterben, dann betrüge die Übersterblichkeit 100.000 Todesfälle oder zehn Prozent.
Aber woher wissen wir, dass in Deutschland im Jahr 2022 tatsächlich mit rund einer Million Toten zu rechnen ist? Das einfachste Verfahren, wie es auch die statistischen Ämter verwenden, besteht darin, den Durchschnitt der letzten vier oder fünf Jahre als Erwartungswert anzusetzen. Durchschnitt deshalb, weil die Todeszahlen normalerweise von Jahr zu Jahr schwanken – in bevölkerungsreichen Ländern um bis zu fünf Prozent, in kleinen Ländern bis zu 20 Prozent.
Neben den Schwankungen gibt es aber auch Trends: In manchen Ländern sinken die Todeszahlen in gewissen Zeiträumen wegen steigender Lebenserwartung oder wegen Abwanderung; in anderen Ländern steigen sie aufgrund von Zuwanderung oder der Alterung der Bevölkerung.
Das Mittelwertverfahren kann diese Trends nur sehr unzureichend erfassen und zeigt einen deutlichen Nachlaufeffekt. In Phasen sinkender Todeszahlen werden die Erwartungswerte zu hoch angesetzt und damit die Übersterblichkeitswerte unterschätzt.
Andere Verfahren versuchen, diese Trends zu extrapolieren und sind daher viel besser geeignet, die Übersterblichkeit akkurat zu erfassen. Das in Our World in Data verwendete Verfahren, auf das man interaktiv und frei zugreifen kann, arbeitet mit solchen Trendprojektionen. Es wurde anhand historischer Daten evaluiert und hat sich gegenüber dem von den statistischen Behörden verwendeten Mittelwertverfahren als klar überlegen erwiesen.
Abbildung 1 zeigt die entsprechenden Unterschiede auf. Es wird sichtbar, dass das Mittelwertverfahren der statistischen Ämter die Übersterblichkeit in der Mehrzahl der Fälle überschätzt – weil in den meisten OECD-Ländern die Bevölkerungszahl und die Zahl älterer Menschen schneller steigt als die Lebenserwartung.
Wenn das Mittelwertverfahren die Übersterblichkeit in allen Ländern gleichmäßig überschätzen würde, wäre das für unsere Frage nach dem relativen Erfolg der Länder und ihrer Maßnahmen kein Problem – denn es käme hier nur auf die Abstände der Maßzahlen untereinander und nicht die absolute Höhe an. Aber die Überschätzung ist eben nicht gleichmäßig; und in einigen Ländern – LTU, LVA, SWE – unterschätzt das Mittelwertverfahren sogar die Sterblichkeit und verwirrt damit die Reihenfolge.
Daher werden wir im Folgenden ausschließlich das Extrapolationsverfahren anwenden. Auf die Ergebnisse des Mittelwertverfahrens sei daher jetzt nur ganz kurz verwiesen, um eine besonders streitbare Aussage abzusichern – nämlich, dass Schweden besser durch die Pandemie gekommen ist als Deutschland: Dem Extrapolationsverfahren zufolge betrug die Übersterblichkeit in Schweden im Mittel der drei Jahre 5,1 und in Deutschland 5,7 Prozent.
Dem Mittelwertverfahren der Statistischen Ämter zufolge war der Unterschied noch sehr viel deutlicher: In Schweden betrug die Übersterblichkeit demnach 3,8 und in Deutschland 9,1 Prozent. Wie man in Abbildung 1 zudem bei näherer Betrachtung deutlich erkennen kann, wäre Schweden – dem Mittelwertverfahren zufolge – sogar Spitzenreiter im Ranking. Für alle anderen Länder würde demnach eine höhere Übersterblichkeit registriert. Das ist überraschend, angesichts der Verdikte über den "schwedischen Sonderweg".
Konvergenz der Übersterblichkeit im Zeitverlauf: 37 grau gescheckte Schafe
Im Folgenden wollen wir die zusammengefasste Übersterblichkeit des Dreijahreszeitraums aus Abbildung 1 über die einzelnen Jahre verfolgen. Zu diesem Zweck ordnen wir die Länder in drei Gruppen (Abbildung 2abc). Die erste Gruppe – hauptsächlich süd- und westeuropäischer Länder sowie Schweden – wurde von der ersten Corona-Welle, das heißt im Frühjahr 2020, besonders hart getroffen.
Die zweite Gruppe hat im Jahr 2021 Übersterblichkeiten bis zu 45 Prozent zu vermelden – das waren die osteuropäischen Länder sowie Länder auf dem amerikanischen Kontinent. Die dritte Gruppe – geografisch weit verstreute Länder – hat ihre höchsten Übersterblichkeiten im Jahr 2022 zu verzeichnen.
Diese Länder hatten fast alle im ersten Jahr der Pandemie sehr niedrige Übersterblichkeiten, weshalb ihnen in den Mainstream-Medien im Umkehrschluss häufig eine besonders engagierte – sprich strenge – Pandemiepolitik zugerechnet wurde.
Abbildungen 2abc: Verlauf der Pandemie in Ländern, die die höchste Übersterblichkeit jeweils im Jahr 2020 (a), 2021 (b) und 2022 (c) ereilt hat. (3 Bilder)
Wenn wir die Gesamtdurchschnitte dieser drei Gruppen ausrechnen, stellen wir fest, dass die zweite Ländergruppe im Gesamtzeitraum der drei Jahre mit Abstand am härtesten getroffen wurde (16,4 Prozent), während die erste und die dritte Gruppe mit 7,7 Prozent respektive 4,6 Prozent vergleichsweise deutlich besser davonkamen.
Abbildung 3 zeigt für Deutschland und Schweden – unsere beiden Systemkonkurrenten – noch einmal im Detail den Verlauf der über den Gesamtzeitraum zusammengefassten Übersterblichkeit. Schweden wurde von der ersten Welle im April 2020 tatsächlich schwer getroffen, während Deutschland 2020 infolge der ausgebliebenen Grippewelle lange Zeit Untersterblichkeit aufwies. Die Welle zum Jahreswechsel 20/21 traf beide Länder gleich schwer.
Danach blieb Schweden weitgehend verschont, während Deutschland von der Omikron-Welle im Frühjahr 2022 noch einmal stark tangiert wurde und danach, wie schon erwähnt, die Übersterblichkeit entkoppelt von Corona weiter hoch blieb. Entsprechend ist Deutschland dann im Herbst 2022 an Schweden vorbeigezogen.
Die Verläufe zeigen also, dass man sich nicht zu früh freuen sollte: Die meisten der anfangs so weißen Schafe sind mittlerweile ebenfalls durch Übersterblichkeit befleckt, während sich die Situation in Ländern, die 2020 oder 2021 besonders stark betroffen waren, neuerdings aufzuhellen scheint.
Der Fall der No-Covid-Politik in China ist zwar extrem, aber gerade deshalb scheint er auch lehrreich: Viren werden im Verlauf ihrer Evolution üblicherweise infektiöser, die Ansteckungen dafür aber auch weniger gefährlich. Eine No-Covid-Politik müsste also immer strengere Maßnahmen erlassen, könnte diese aber – angesichts der zunehmend milderen Verläufe – immer weniger begründen. Und je ärmer eine Bevölkerung, umso weniger ist sie willens und in der Lage, Kontaktbeschränkungen dauerhaft durchzuhalten.
Selbst ein extrem autoritäres Regime ist dann gezwungen, irgendwann die Zügel zu lockern. Auszulöschen ist ein Virus ohnehin nicht mehr, wenn es sich erst einmal in einem pandemischen Ausmaß rund um die Welt verbreitet hat. In einigen der anfangs fast unbefleckten Länder haben die Behörden das auch verstanden und im Laufe des Jahres 2022 die meisten Maßnahmen fallen gelassen, bevor sich in der Bevölkerung breiterer Widerstand regte.
Norwegen hat sogar schon zum 12. Februar, also mitten in der Omikron-Welle, fast alle Beschränkungen aufgegeben: "The Covid-19 pandemic is no longer a great threat to the health of most of us", verkündete damals der norwegische Premierminister in einer Presserklärung. Aufgrund einer Übersterblichkeit von ca. 12 Prozent im Jahr 2022 liegt Norwegen nun im Gesamtergebnis fast gleichauf mit Schweden (NOR: 4,7 Prozent versus SWE: 5,1 Prozent).
Haben die Kontaktbeschränkungen geholfen?
Viele Epidemiologen sind überzeugt, und der Fall Chinas scheint es zunächst auch zu bestätigen: Mit drakonischen Kontaktbeschränkungen lässt sich die Verbreitung auch von relativ infektiösen Krankheitserregern kontrollieren. Aber lassen sich solche drakonischen Maßnahmen in relativ liberalen Ländern über längere Zeiträume aufrechterhalten?
Die OECD-Länder können allesamt und beinahe definitionsgemäß als einigermaßen liberal und demokratisch gelten. Deswegen geben sie einen guten Testfall ab: In welchem Ausmaß haben die ergriffenen Maßnahmen hier geholfen, Übersterblichkeit zu verhindern?
Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, verwenden wir den zusammengefassten Stringency-Index. In diesem Index werden an der Universität Oxford tagesaktuell und weltweit möglichst umfassend alle Regierungsmaßnahmen aufgelistet, die die Ausbreitung der Coronainfektionen bremsen sollen. Dieser Index ist in seinem Zeitverlauf für ausgewählte Länder auch bei Our-World-in-Data interaktiv abrufbar.
In Abbildung 4 wird nun das Abschneiden der Länder auf dem Strenge-Index mit ihrem Abschneiden im Übersterblichkeit-Ranking grafisch abgeglichen. Wie mit der rot gestrichelten Trendlinie angedeutet, besteht ein unerwarteter Zusammenhang: Je strenger die Regierungsmaßnahmen, desto höher die Übersterblichkeit. Dieser Zusammenhang ist aber statistisch sehr schwach (R2=0,04) und soll daher nicht weiter interpretiert werden.
Es bleibt also beim Nicht-Zusammenhang: Die zusammengefasste Strenge der Regierungsmaßnahmen hatte auf die Übersterblichkeit keinen statistisch messbaren Einfluss. Für viele Länder mit offenbar milden Beschränkungen werden niedrige Übersterblichkeiten verbucht, während Länder mit hohen Übersterblichkeiten – wie etwa Mexiko und Kolumbien – keineswegs durch besonders schwache Maßnahmen auffallen.
Bei diesem Ergebnis ist allerdings eine Reihe von Einschränkungen zu machen:
1) Einzelne Maßnahmen, wie etwa die wirtschaftliche Unterstützung bei Verdienstausfällen, könnten einen dämpfenden Einfluss gehabt haben, indem sie den Menschen geholfen hätten, Kontaktbeschränkungen tatsächlich auch einzuhalten. Das Gesamtbündel der Regierungsmaßnahmen entsprechend aufzuschnüren, wäre Aufgabe für weitere Analysen.
2) Die Maßnahmen der Regierung werden im Strenge-Index ohne Rücksicht auf kulturelle und geografische Kontextbedingungen aufaddiert. In Japan zum Beispiel sind die Maßnahmen allein schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht so streng – die Behörden können hier im Wesentlichen nur Empfehlungen aussprechen. Aber entsprechende Empfehlungen werden in Ostasien von der Bevölkerung sehr ernst genommen und können auch mit erheblichem Gruppendruck einhergehen. In Osteuropa ist eher das Gegenteil der Fall: Die Regierung erlässt strenge Maßnahmen, die aber kaum beachtet werden. Neuseeland sticht durch seine Insellage hervor: Die Regierung hat die Grenzen sehr konsequent geschlossen, konnte dafür aber im Land auf umfassendere Maßnahmen weitgehend verzichten und wird entsprechend im zusammengefassten Index ebenfalls mit einem niedrigen Strengewert gerankt.
3) Schließlich ist auch daran zu denken, dass viele Maßnahmen – gerade in der ersten Welle – infolge von verschärften Infektionslagen erlassen wurden; und zwar oft zu einem Zeitpunkt, als diese Wellen wahrscheinlich schon aus natürlichen Gründen am Zusammenbrechen waren. Hier liegt dann reverse Kausalität vor – die Maßnahmen wirken nicht auf die Übersterblichkeit, sondern die Übersterblichkeit auf die Maßnahmen.
Haben die Impfungen geholfen?
Wenn die Kontaktbeschränkungen die Unterschiede in der Sterblichkeit nicht erklären können, wie sieht es dann aus mit den Impfungen? Bekanntlich differieren die Impfquoten zwischen den Ländern, teils wegen des unterschiedlichen Zugangs zu den Impfstoffen, teils wegen der Impfbereitschaft in der Bevölkerung. Abbildung 5ab untersucht diese Frage für die Jahre 2021 und 2022.
Wie wir sehen, ist der erwartete Zusammenhang – je mehr Impfungen, desto geringer die Übersterblichkeit – im Jahr 2021 statistisch klar gegeben (R2=0,50). Allerdings verliert er sich im Jahr 2022. Die Trendlinie zeigt dort sogar in die umgekehrte Richtung, aber das Zusammenhangsmaß ist so schwach (R2=0,03), dass man für 2022 von einem Nicht-Zusammenhang sprechen sollte.
Bezogen auf den gesamten Zeitraum 2021 und 2022 bleibt es zwar beim intentionalen Zusammenhang (dass Impfungen die Sterblichkeit reduzieren), weil 2021 wegen der insgesamt höheren Sterblichkeit mehr ins Gewicht fällt als 2022.
Aber eventuell muss man den quer stehenden Befund für 2022 so interpretieren, dass die Impfwirkung – insbesondere im Hinblick auf Omikron – schnell nachgelassen hat. Die Boosterimpfungen konnten die nachlassende Wirkung zwar ein wenig aufhalten, aber nicht stoppen (deutet sich jedenfalls so in den betrachteten Daten an).
Schließlich ist auch zu bedenken, dass gerade im zweiten Halbjahr 2022 die Übersterblichkeit in einigen Ländern nicht mehr auf Corona, sondern auf andere Ursachen zurückzuführen ist. Abbildung 6 zeigt beispielhaft für Deutschland den Verlauf über die Wochen des Jahres 2022. Hier wird deutlich, dass ab der Jahresmitte die Übersterblichkeit deutlich höher liegt als die Corona-Sterblichkeit, mit Corona selbst (oder ausbleibenden Impfwirkungen) also nicht mehr erklärt werden kann.
Ähnliche Muster finden sich auch für die Nachbarländer Österreich und die Schweiz sowie für Großbritannien und die baltischen Republiken. Über die Ursachen ist in den deutschsprachigen Medien umfassend spekuliert worden. Es kann sich demnach um Langfristwirkungen von Corona, Nachholeffekte bei den sonstigen Atemwegserkrankungen, aufgeschobene Vorsorgeuntersuchungen und Langfristwirkungen der Impfungen handeln.
Eventuell auch alles zusammen, denn sachlich schließen sich diese Erklärungen wechselseitig nicht aus. Es ist aber zu bedenken, dass vergleichbare Muster in vielen anderen OECD-Ländern so nicht aufgetreten sind. In Spanien und Italien zum Beispiel scheinen die im zweiten Halbjahr hochschießenden Übersterblichkeitskurven auf ausgeprägte Hitzewellen hinzudeuten. Es kommen also auch Ursachen jenseits der Pandemie infrage.
Wie erklären sich denn nun die Unterschiede?
Bisher können wir festhalten: Die Kontaktbeschränkungen erklären statistisch nichts, und die Impfungen haben offenbar nur 2021 die Übersterblichkeit reduziert. Wir haben hier aber noch eine Reihe anderer Variablen getestet, die im Datensatz zur Verfügung gestellt werden.
Als besonders robust hat sich dabei der Zusammenhang zwischen dem Human-Development-Index (HDI) und der Übersterblichkeit erwiesen. Der HDI ist auf einen Wert von 0 bis 100 normiert und setzt sich aus drei Komponenten zusammen – dem monetären Wohlstand, der Lebenserwartung und dem Bildungsniveau der Bevölkerung.
Wie Abbildung 7 zeigt, haben Länder mit höherem HDI eine niedrigere Übersterblichkeit, und der statistische Zusammenhang ist dabei auch recht stark (R2=0,60).
Die Frage ist dann jedoch, wie sich dieser Einfluss von Wohlstand, Bildung und hoher Lebenserwartung auf das Sterbegeschehen erklärt. Man kann schließlich das Virus nicht mit Geldscheinen wegwedeln. Welche kausalen Zwischenglieder können aufgefunden werden?
Nehmen wir zunächst die gesundheitspolitischen Maßnahmen, also Instrumente, auf die die Behörden im Rahmen einer Pandemie – jenseits von Kontaktbeschränkungen und Impfungen – ebenfalls Einfluss haben: Mehr Coronatests und mehr Krankenhausbetten pro Kopf könnten die Übersterblichkeit reduzieren. Mehr registrierte Ansteckungsfälle könnten sie erhöhen. Die Statistik meldet jedoch Fehlanzeige (vgl. Tabelle 1).
Nehmen wir dann eine Reihe von Strukturgegebenheiten, auf die die Regierung keinen Einfluss hat, und die alle die Übersterblichkeit erhöhen könnten: Eine höhere Bevölkerungsdichte könnte den Ansteckungsverlauf beschleunigen.
Ein höherer Anteil von älteren Menschen an der Bevölkerung könnte die Vulnerabilität für das Virus erhöhen. Ebenso der Anteil der Raucher an der Bevölkerung. Auch hier meldet die Statistik: Falsches Vorzeichen oder nicht signifikant – also ebenfalls Fehlanzeige. Einzig eine erhöhte Todesrate durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Diabetes-Prävalenz korrelieren positiv und signifikant mit der Übersterblichkeit (und negativ mit dem HDI) – hier ist tatsächlich eine Vermittlung zwischen HDI und Übersterblichkeit denkbar.
Tabelle 1: Getestete Variablen – erwartetes Vorzeichen, Korrelationskoeffizient, Signifikanz (+ p<0.10; * p < 0.05) und daraus resultierende statistische Bewertung |
|||
Variablen | Theoretische Erwartung | Korrelation mit Übersterblichkeit | Statistische Bewertung |
Strenge Regierung (Index) | minus | 0,26 | falsches Vorzeichen |
Vollständig geimpft ( Prozent Bev.) | minus | -0,46* | Vorzeichen richtig und Korrelation signifikant |
Geboostert ( Prozent Bev.) | minus | -0,45* | |
C19-Tests pro Kopf | minus | -0,09 | nicht signifikant |
Hospitalbetten pro Kopf | minus | -0,21 | nicht signifikant |
registrierte C19-Fälle ( Prozent Bev.) | plus | -0,32+ | falsches Vorzeichen |
Bevölkerungsdichte (Bev./qkm) | plus | -0,19 | falsches Vorzeichen |
Über-70-Jährige ( Prozent Bev.) | plus | -0,41* | falsches Vorzeichen |
Raucher männlich ( Prozent Bev.) | plus | 0,16 | nicht signifikant |
Raucher weiblich ( Prozent Bev.) | plus | -0,04 | falsches Vorzeichen |
Herz-Kreislauf-Todesrate | plus | 0,41* | Vorzeichen richtig und Korrelation signifikant |
Diabetes-Prävalenz ( Prozent Bev.) | plus | 0,41* | |
Human-Development-Index (HDI) | ? | -0,78* | überraschend starker Einfluss |
Lebenserwartung 2019 | plus | -0,74* | |
Bruttoinlandprodukt pro Kopf 2019 | minus | -0,63* |
Es bleibt am Ende dennoch etwas rätselhaft, wie der HDI auf die Übersterblichkeit einwirkt. Die identifizierten Wirkmechanismen – Impfungen, Diabetes-Prävalenz und Todesrate durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen – erklären nämlich nur einen kleineren Teil des Effekts. Der HDI hat direkt einen größeren Einfluss auf die Übersterblichkeit als indirekt über diese Vermittlungsglieder. Wir werden im abschließenden Fazit auf diese Erklärungslücke noch einmal zurückkommen.
Abschließendes Fazit: Der "Schwedische Sonderweg" hat sich bewährt
Verglichen mit ärmeren OECD-Ländern ist Deutschland bis jetzt recht gut durch die Pandemie gekommen. Insofern muss man den Mainstream-Experten recht geben, die dies in den Mainstream-Medien verkünden. Aber deswegen muss sich niemand auf die Schultern klopfen und dieses Ergebnis einer besonders klugen oder vorsichtigen Politik oder einer besonders gut beratenen Bevölkerung zurechnen.
Denn verglichen mit den Ländern auf dem gleichen sozio-ökonomischen Entwicklungsstand (HDI) hat Deutschland ganz normal abgeschnitten; und sogar einen halben Prozentpunkt Übersterblichkeit schlechter als Schweden, das im HDI gleichauf und exakt auf der Regressionslinie, also im Mittel liegt (vgl. oben Abbildung 7).
Wichtig in diesem Zusammenhang ist das Jahr 2022: Viele der anfänglichen Musterschüler von No-Covid, so auch Deutschland, hatten in diesem Jahr eine gestiegene Übersterblichkeit zu verbuchen, während Länder mit hohen Sterblichkeitszahlen während der ersten beiden Jahre nun schon zur Normalität zurückgekehrt waren. Dies geschah weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit.
Die anfangs viel beachteten Unterschiede in den hoheitlich angeordneten Kontaktbeschränkungen haben für die Übersterblichkeitsstatistik keine nachweisliche Rolle gespielt. Wenn man in Rechnung stellt, dass Nachbarländer häufig ungefähr gleich abgeschnitten haben, sind zunächst natürliche Faktoren zur Erklärung heranzuziehen: Die Ansteckungswellen kamen und gingen und brachten mal mehr und mal weniger gefährliche Varianten mit sich.
Da die Ansteckungswellen aus bisher noch wenig geklärter Ursache mit den Jahreszeiten korrespondieren, traf es die Länder in den Tropen und auf der Südhalbkugel oft anders als Länder auf der Nordhalbkugel. Genetische Faktoren und Kreuzimmunitäten in der Bevölkerung können – wie bei allen Pandemien – ebenfalls eine Rolle spielen.
Der größte Teil (ca. 60 Prozent) der beobachteten Unterschiede in der Übersterblichkeit wird jedoch statistisch durch den sozio-ökonomischen Entwicklungsstand (HDI) erklärt. Die Länder mit höherem HDI haben mehr geimpft und haben weniger Vorerkrankungen, weshalb die Menschen hier im Schnitt offenbar weniger schwer erkrankt sind.
Aber diese Zwischenglieder erklären wiederum auch nur einen Teil des negativen Zusammenhangs zwischen Übersterblichkeit und HDI. Auf Basis der bisherigen Auswertungen können wir für den Rest nur spekulieren: In wohlhabenden Ländern wie Schweden oder Deutschland können es sich die Bürger eher leisten, Schutzmaßnahmen gleich welcher Art zu ergreifen, als in Kolumbien und Mexiko.
Unterstützt werden sie dabei auch von den wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen ihrer Regierungen, die in den wohlhabenderen und egalitäreren Ländern wahrscheinlich großzügiger ausgefallen sind als in armen und wirtschaftsliberalen Ländern.
Entsprechende Daten liegen vor und wären noch auszuwerten. Bildung und hohe Lebenserwartung, die beide positiv in den HDI einfließen, könnten mit stärkeren Motivationen zum Schutz der eigenen Gesundheit einhergehen. Besonders autoritäre Regierungsmaßnahmen sind dabei weder erforderlich noch sonderlich hilfreich.
Jens Spahn, bis Ende 2021 Gesundheitsminister in Deutschland, hat den Satz geprägt, dass "wir uns nach der Pandemie viel verzeihen müssen". Dazu befragt, inwieweit er nun im Nachhinein um Verzeihung bitten müsste, hat er auf die besonders prekäre Lage der Kinder und Familien verwiesen, die man mit den Corona-Maßnahmen psychisch und physisch schwer belastet hätte. Besonders kritisch werden in diesem Zusammenhang in jüngerer Zeit immer wieder die extrem langen Schulschließungen in Deutschland angesprochen.
Entsprechend müssten nun alle, die einstmals den "Schwedischen Sonderweg" gegeißelt haben, eine Bußprozession zum Büro von Anders Tegnell, dem Architekten dieses Weges in Stockholm, unternehmen. Schweden hat die Familien weit weniger mit Zwangsmaßnahmen belastet und die Schulen für die Kinder und Jugendlichen bis 15 Jahren stets im Präsenzunterricht offen gelassen. Offenbar hat sich für Schweden die besonnene Haltung während der Pandemie am Ende ausgezahlt.
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