Droht der DFB-Elf im eigenen Lande das große Versagen?

Erst einmal in der 74-jährigen Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften ist die Mannschaft des Gastgebers deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Das Gesetz der Serie spricht für ein erfolgreiches Abschneiden

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"El gran fracaso" (das große Versagen) nennen spanische Fußball-Fans bis heute den Auftritt ihres Fußball-Nationalteams bei der Weltmeisterschaft 1982 im eigenen Land. Als Gastgeber zählten die Kicker aus Madrid und Barcelona damals zu den Favoriten des Turniers, zumal es an Weltklasse-Akteuren in ihren Reihen nicht mangelte. Doch die hohen Erwartungen erwiesen für die Spanier als Last, die sie nie abschütteln konnten. Selbst gegen so unbedeutende Fußballnationen wie Honduras und Nordirland konnten die Gastgeber nicht gewinnen, und so konnten sich die spanischen Kicker am Ende bei den Schiedsrichtern bedanken, die ihnen mit gleich mehreren fragwürdigen Entscheidungen wenigstens den Einzug in Runde 2 ermöglichten. Dort warteten mit Deutschland und England jedoch zwei Mannschaften in einer Dreiergruppe, die sich für die Spanier als unüberwindbare Hürde erwiesen. In der Endabrechnung stand dadurch Platz 10 zu Buche, und "El gran fracaso" war perfekt.

Das große Versagen der Spanier bei ihrem Heimatauftritt 1982 bildet bis heute eine Ausnahme in der WM-Geschichte. Bei den anderen 16 bisher ausgetragenen Fußball-Weltmeisterschaften erfüllten die Gastgeber nämlich stets die Erwartungen oder blieben zumindest nicht weit dahinter zurück. Teilweise setzte die Heimmannschaft sogar zu einem ungeahnten Höhenflug an. Sechsmal erreichten die Gastgeber dabei das Maximum: den Gewinn des Titels. Uruguay (1930), Italien (1934), England (1966), Argentinien (1978) und Frankreich (1998) gehören diesem elitären Klub der Weltmeister im eigenen Lande an. Komplettiert wird das Feld von den Deutschen, die bei ihrem bisher einzigen Heimatauftritt im Jahr 1974 die Oberhand behielten.

Einen Patzer leistete sich dagegen Brasilien. Als die Südamerikaner 1950 die Weltmeisterschaft ausrichteten, musste sich ihr Team mit Platz 2 genügen. 1990 erreichte Italien in der gleichen Situation gar nur den dritten Rang. Von einem großen Versagen zu sprechen, erscheint in diesen Fällen jedoch übertrieben, da auch eine Platzierung unter den ersten Dreien einen sportlichen Erfolgt darstellt. Auch in Frankreich redete niemand von Versagen, nachdem die Equipe Tricolore 1938 im eigenen Land gegen die damals überragenden Italiener im Viertelfinale die Segel streichen musste.

Und wie sah es bei den weniger bedeutenden Fußballnationen aus, die in den Genuss einer WM im eigenen Land kamen? Auch sie erfüllten durch die Bank die Erwartungen. So kamen die Mexikaner bei ihren beiden Heimspiel-WMs 1970 und 1986 jeweils unter die besten acht. Mehr konnte man von den Lateinamerikanern nicht erwarten. Mit dem gleichen Resultat schloss die Schweiz 1954 ihren WM-Auftritt im eigenen Land ab und konnte damit ebenfalls zufrieden sein. Zufrieden war man auch in den USA 1994, denn die Heimmannschaft erreichte die Runde der letzten 16, wo man gegen Brasilien ausschied. Für das Soccer-Entwicklungsland bedeutete das einen Achtungserfolg, und ähnlich verhielt es sich mit Japan, das 2002 ebenfalls in die besten 16 Mannschaften der Welt vorstieß.

Einige andere Fußballnationen aus der zweiten oder dritten Reihe sorgten zuhause gar für faustdicke Überraschungen. Die Schweden zum Beispiel: Sie belegten 1958 als Gastgeber einen sensationellen zweiten Platz. Vier Jahre später beendete Chile das Turnier in der Heimat mit einem kaum weniger überraschenden dritten Rang. Und wer erinnert sich nicht an den völlig unerwarteten vierten Platz der gastgebenden Südkoreaner bei der letzten WM im Jahr 2002?

Im Achtelfinale könnte Deutschland auf England oder Schweden treffen. Diese Hürde muss die DFB-Elf nehmen, ansonsten wäre eine der größten Blamagen der WM-Geschichte perfekt

Die historische Hypothek

Doch was bedeutet dieser Blick in die WM-Geschichte nun für die Deutschen? Man kann es positiv sehen: Die historische Erfahrung lehrt, dass der WM-Gastgeber die besten Chancen hat, erfolgreich abzuschneiden. Das Gesetz der Serie spricht also dafür, dass die Deutschen mindestens den Einzug ins Halbfinale schaffen. Dies gilt zumindest dann, wenn wir davon ausgehen, dass Deutschland tatsächlich noch zu den großen Fußballnationen zählt und wir nicht die Maßstäbe von Mexiko oder den USA anlegen müssen.

Man kann es aber auch negativ sehen: Die Deutschen laufen Gefahr, sich bei der WM im eigenen Land nach Kräften zu blamieren. Man stelle sich einmal vor, Ballack und Co. scheiterten in der ersten Runde, wie es beispielsweise bei den letzten beiden Europameisterschaften der Fall war. Oder nehmen wir an, die deutschen Nationalkicker erreichten zwar die zweite Runde, wo England oder Schweden als Gegner warten könnten, würden dort jedoch ausscheiden. Die Folge eines Scheiterns in Runde 1 oder 2 wäre klar: Die Deutschen hätten ein noch schlechteres Resultat abgeliefert als die Spanier bei ihrem großen Versagen von 1982. Und wie gesagt: Die WM-Pleite der Spanier im eigenen Land ist bisher ein einzigartiger Fall.

Die Lage ist also eindeutig: Achtelfinale oder weniger bedeutet die größte Heimpleite in der WM-Geschichte. Ein Aus im Viertelfinale wäre immer noch die zweitgrößte Gastgeber-Enttäuschung in 74 Jahren WM. Erst ab dem Halbfinale wäre die historische Normalsituation erreicht. Als deutscher Fußballfan kann man nur hoffen, dass Klinsis Kicker dieser Hypothek gewachsen sind.

Klaus Schmeh ist Autor des Buchs "Titel, Tore, Transaktionen - Ein Blick hinter die Kulissen des Fußball-Business" (Redline Wirtschaft).