EM 2024: Europa zu Gast bei den Guten

Fußball überstrahlt BRD-Flagge im Abschwung

Alle sollten sich lieb haben und fast jeden Ausländer hieß man willkommen. Die Fußball-EM endet. Und mit ihr ein Fest der Ideologie eines einigen Volks.

Neulich im Sportverein sagt der Trainer: "Wir spielen Freitag!" "Ach, gegen wen?", antwortet verdutzt einer. "Nein, da spielen wir doch gegen die Spanier. Das gucken wir alle!"

Wir wissen nicht, ob das Erstaunen nur gespielt war oder der Sportkamerad tatsächlich die Ansage missverstand. Was allerdings sicher ist und allgemein verbreitet: die Gleichsetzung der Nationalelf mit der Gesellschaft. Es treten dann "die Deutschen" an gegen "die Spanier", oder, noch pathetischer, "Deutschland" gegen "Spanien".

Nichts gegen Feiern und schönen Fußball. Aber eine solche Europameisterschaft ist mehr: Die Kicker treiben nicht einfach nur Sport, sondern repräsentieren das Beste der sie entsendenden Nation. Das gemeine Volk soll im Jubel alle Konkurrenz um Geld und Glück vergessen. Und "seinem" Land natürlich die Daumen drücken. Was die Veranstaltung weniger genießbar macht.

Natürlich weiß jeder, da kämpfen nicht zwei ausgewachsene Staaten gegeneinander. Das sähe bekanntlich ziemlich anders aus. Es würden nicht elf gegen elf antreten, um Tore zu schießen. Sondern hunderttausende auf beiden Seiten.

Sie würden zwar auch schießen, allerdings mit Kugeln und sonstigen Geschossen. Und doch gibt es Momente bei solchen Turnieren, die von herzlicher Abneigung bis Feindschaft zwischen den Nationen zeugen.

EM, WM, Olympia: Athleten kämpfen um den Erfolg für ihre Nation

Warum sollte das auch bei sportlichen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern von Staaten anders sein? Ob bei Weltmeisterschaften, Europameisterschaften oder demnächst Olympia: Es treten Athleten an, die von ihrem jeweiligen Land ausgewählt und gefördert wurden – auf dass sie möglichst großen Erfolg haben in der Konkurrenz zu den anderen Athleten, die von ihrem jeweiligen Land … usw.

Die Staaten investieren sehr viel Geld, um ihre Sportler fit zu machen. Und noch mehr Geld, wenn sie Ausrichter des internationalen Wettkampfs werden. Allein die Bewerbung bei den Verbänden Fifa, Uefa und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) kostet bereits eine Menge, und da bilden die Aufwendungen für die obligatorische Korruption gar nicht einmal den größten Teil.

Beim nationalen Schaulaufen gilt es zu beweisen, dass der Staat über die nötigen dem Anlass angemessenen Stadien verfügt, über die Infrastruktur für die Beherbergung und den Transport der Sportdelegationen und natürlich über das erforderliche Kleingeld, die fällige Veranstaltungsgebühr an die Verbände zu überweisen.

Böse Nationen dürfen gar nicht erst antreten – dafür sorgen die Guten

Das war bei der gerade endenden gegangenen Fußball-Europameisterschaft in Deutschland nicht anders. Aber was tut ein Staat nicht alles, damit die "Welt endlich wieder zu Gast bei Freunden" ist? Noch dazu, wenn angesichts der aktuellen politischen Lage Deutschland mehr Verantwortung übernehmen will in der Welt, sprich sich überall nicht nur ökonomisch einmischen, sondern auch militärisch, Stichwort "Zeitenwende".

Dann ist die Welt, zumindest der europäische Teil, zu Gast bei den Guten – also dem Staat, der mit noch mehr Panzern, U-Booten und Raketen den Bösen Einhalt gebietet.

Klar, dass die Bösen aus Europa – Russland – nicht dabei sein durften. Die kleineren Bösen – Belarus – waren so freundlich gewesen, in der Qualifikation zur Europameisterschaft zu scheitern. Dass sie überhaupt daran hatten teilnehmen dürfen, brachte der Uefa allerdings harsche Kritik ein.

Korrupte und gierige Uefa? Dazu gehören mindestens zwei.

Überhaupt die Uefa: Ein Haufen korrupter Funktionäre, die sich die Taschen füllen mit dem Geld der Staaten, die ein Uefa-Turnier veranstalten wollen. Die Kritik ist so alt wie dieser Verband selbst. Seltsam, dass ihm dennoch nie die Bewerber ausgegangen sind. Zu einer Bestechung gehören eben zwei.

Offenbar verbinden die Staaten mit der Ausrichtung einen überragenden Vorteil für sich. Es gilt der Welt zu zeigen, welch überragende Nation der Gastgeber darstellt. Denn ein Geschäft springt nicht heraus. Das unterstreichen immer wieder die Bilanzen von findigen Journalisten, die riesige Einnahmen der Uefa errechnen, bei überproportional großen Ausgaben der Staaten.

So auch bei dieser Europameisterschaft:

Die Uefa erwartet einen Umsatz von 2,4 Milliarden Euro mit der EM und einen Gewinn von ca. 1,1 Milliarden Euro. Beteiligt sich die Uefa an den Kosten? Das war Gegenstand des Films Fußball.Macht.Geld, eine Produktion von ZDF und Spiegel. Spiegel-Journalist Michael Fröhlingsdorf hat mit Kollegen zu dem Thema recherchiert.

Er beschreibt, dass die Uefa beispielsweise die Spielstädte dazu verpflichtet, die kostenintensiven Fan-Feste und Fan-Meilen während der EM zu organisieren. An den Kosten dafür beteiligt sie sich nicht.

Einen ganzen Katalog an Forderungen an die Spielstädte hat die Uefa im Gepäck. Wer sich weigert, zu akzeptieren – so wie beispielsweise Bremen – bekommt dann nicht den Zuschlag. Und auch Steuern auf ihren Milliardengewinn möchte die Uefa lieber nicht zahlen.

MDR

Sport: Vorsicht vor Missbrauch durch falsche Nationen

Solche Klagen hörte man vor der Europameisterschaft in den Medien – die maßgeblichen Politiker hielten sich da eher bedeckt. Kunststück, sie hatten schließlich das Turnier nach Deutschland geholt und sich ganz bewusst auf die damit verbundenen Kosten eingelassen.

Damit ist die hiesige Herrschaft in bester Gesellschaft: Katar war es bekanntlich keine Mühe zu viel, sprich Geld, die Fußball-Weltmeisterschaft auszurichten. So sahen das auch China (Olympiade Sommer 2008 und Winter 2022) und Russland (Winter-Olympiade 2014 und Fußball-Weltmeisterschaft 2018).

In diesen Fällen missbrauchten aber nach hiesiger Lesart die Machthaber die Veranstaltung dafür, ihre Nation in einem glanzvollen Licht zu zeigen und ihr Volk von den täglichen Drangsalen abzulenken. Bei ihnen handelt es schließlich um Staaten, die Deutschland politisch und wirtschaftlich nicht in den Kram passen. Ihnen ist deshalb ein Imagegewinn auf internationaler Bühne nicht zu gönnen.

Auf einen Staat wie Deutschland kann das natürlich nicht zutreffen. Hier läuft das ganz anders:

Oh, wie ist das schön. Packende Spiele, viele Tore und ein sympathisches Team: Für viele Deutsche ist die Fußball-Europameisterschaft eine willkommene Auszeit von den Mühen des Alltags.

Der Spiegel (Nr. 26, 22. Juni 2024, Seite 5)

Die Europameisterschaft ist schon jetzt ein Stimmungsaufheller: für die Zuschauer, für die Politik, für das ganze Land. Und wieder einmal feiern alle den Fußball, weil er das Schwere manchmal ganz leicht macht.

Der Spiegel (Nr. 26, 22. Juni 2024, Seite 80

Der Kanzler als Trainer: Spirit der Kicker, Vorbild für die Gesellschaft!?

Das sah der Bundeskanzler genauso:

In seiner letzten Regierungserklärung zog Scholz sogar eine Parallele zu der wieder erstarkten Nationalmannschaft. Er zählte auf, welche neuen Industrien sich entgegen dem Geunke vom Niedergang des Wirtschaftsstandorts hierzulande ansiedelten. "Manchmal erinnert mich das an das Geraune vor der EM. Noch Anfang des Jahres haben viele in Deutschland große Skepsis gehabt über die Zukunftsperspektiven von Fußball-Deutschland", fachsimpelte Scholz.

Es klang fast so, als wäre er in diesem Moment nicht Bundeskanzler, sondern Bundestrainer. "Dann zwei wichtige Siege im Frühjahr, Spirit im Team, und im Land hat sich ganz schön viel verändert." Deshalb sage er, "was wir alle gemeinsam brauchen, sind Zuversicht und Selbstvertrauen in unsere Stärke und unsere Möglichkeiten.

Berliner Morgenpost

Ist das nicht alles ein wenig viel verlangt? Meinen Politiker und Medien ernsthaft, wenn Kicker aus 24 Ländern in deutschen Stadien sich messen, ist die Krise wie weggeblasen und alle ziehen an einem Strang? Ja und Nein.

Mit guter Laune wird die Konkurrenz der Nationen nicht entschieden …

Um mit dem Nein anzufangen, auch wenn es jetzt so negativ ist und das gar nicht zur Stimmung passt: Der Kampf Deutschlands, weiter Standort weltweit erfolgreicher Kapitalisten zu sein, hört nicht auf oder wird wenigstens nicht ganz so brutal.

Ungebrochen fortgesetzt wird desgleichen die Kriegsvorbereitung im Rahmen der Zeitenwende oder die Unterstützung Israels. Um nur zwei Punkte der aktuellen deutschen Verantwortung zu nennen.

In diesem Zusammenhang wird es für den Großteil der Bevölkerung ungemütlich bleiben. Die Unternehmen steigern den Leistungsdruck auf die Beschäftigten, sparen an ihnen bei Lohn und Gehalt oder gleich ganz durch Rationalisierung.

Und von staatlicher Seite bekommen diese Leute täglich mitgeteilt: Deutschland geht es schlecht! Wohlgemerkt Deutschland, also dem Staat. Eine Verwechslung mit dem Wohl der Mehrheit des Volks ist gewollt und wird mit dem Wörtchen "wir" intensiv von Politik und Medien gepflegt.

Jetzt zählt – noch mehr als sonst – der Erfolg der Wirtschaft. Es droht Abwanderung von großer Industrie, weil es anderswo günstigere und bessere Standorte gibt. Das muss verhindert werden.

Nein, nicht mit einer erfolgreichen Europameisterschaft. Sondern mit moderner Infrastruktur, schnelleren Genehmigungen für Investitionen, weniger Steuern und ordentlichen Subventionen für Zukunftsbranchen wie Künstliche Intelligenz oder Elektromobilität.

Das Geld dafür muss natürlich irgendwoher kommen, wie auch jenes für das bisher größte bundesdeutsche Rüstungsprogramm. Die staatlichen Ausgaben setzen daher Prioritäten.

Es wird einige Gewinner geben – ThyssenKrupp, Rheinmetall, Tesla neben anderen – und zahlreichere Verlierer. Letztere werden die Zeche zahlen, mit härterer Arbeit, kargerem Einkommen und weniger Sozialleistungen, auf die viele angewiesen sind.

… aber sie taugt bestens für den Schein einer nationalen Einheit

Dennoch, und damit kommen wir zum Ja: Allenthalben wurde eine neue Stimmung festgestellt. Eine Stimmung, die "das Schwere", sprich die Krise, "leicht macht". Nur wessen Krise ist da gemeint?

Tatsächlich fanden sich gemeinsam Millionen vor den Fernsehern ein, bei den vielen Public Viewings, in den Spielstätten, vor und in den Stadien. Aber haben all diese Leute die gleiche Krise zu bewältigen?

Also Politiker, Kapitalisten, deren hoch bezahlte Manager, Banker, Wissenschaftler, Künstler und sonstige führende Vertreter des Staates so wie leitende und nicht leitende Angestellte, Arbeiter und Vorarbeiter, echte und Schein-Selbstständige, Alleinerziehende, Lang- und Kurzzeitarbeitslose, Minijobber, Mindestlöhner und Bürgergeld-Bezieher?

Allein diese gewiss nicht vollständige Aufzählung der zahlreichen Lebenswege in der deutschen Gesellschaft zeigt: Diese Menschen haben täglich mit sehr unterschiedlichen Krisen zu kämpfen. Die einzige gemeinsame Klammer lautet: An Geld kommen, um die Existenz zu bestreiten.

Die einzige Gemeinsamkeit: Jeder muss an Geld kommen, um zu leben

Aus dieser Notwendigkeit einer kapitalistischen Wirtschaft ergeben sich ganz verschiedene Notlagen. Politiker sorgen sich darum, dass genügend Steuern hereinkommen, um damit ihren Staat zu finanzieren. Kapitalisten beklagen zu hohe Lohnkosten, zu viele Steuern, zu schlechte Infrastruktur und zu viele staatliche Hindernisse für ihren Profit.

Banker steigen in den Chor mit ein, weil sie von den Zinsen leben, die nur erfolgreiche Kapitalisten in der Lage sind, zu zahlen. Und der vielen Krisen weitere, die allesamt sich um den Reichtum von Staat und Wirtschaft drehen.

Der restliche Teil der Bevölkerung hat auch mit diesem Reichtum zu tun. Nur macht er ihn möglich, weil er an sehr verschiedenen Stellen für ihn arbeitet – ohne dass er ihn besitzt.

Das kann für manche Leute halbwegs erträglich sein, solange die Beschäftigung andauert und ein Einkommen dabei herausspringt, das eine Familie ernährt und eine ordentliche Wohnung oder gar Haus ermöglicht.

Die weniger anständig bezahlten Bürger haben da schon mehr zu kämpfen. Ihre Krise findet jeden Monat statt: Reicht das Geld für Miete, Essen, Kleidung und auch für den Schulausflug der Kinder?

Jeder gegen jeden: die Notwendigkeit einer sozialen Marktwirtschaft

Ob ganz oben in der gesellschaftlichen Hierarchie oder ganz unten – alle Bürger befinden sich außerdem untereinander in ständiger Konkurrenz. Das ist eine systematische Krise.

Die Politiker bekämpfen sich bis aufs Messer, wer die Regierung stellt. Die Kapitalisten konkurrieren um die Kaufkraft der Gesellschaft und treiben ihresgleichen in die Pleite oder kaufen sie auf.

Die Menschen ohne Besitz hingegen strampeln sich ab, einen Arbeitsplatz zu bekommen, ihn zu behalten, Karriere zu machen und dabei die vielen anderen auszustechen.

Bei der Fußball-Europameisterschaft waren wir alle vereint? Das kann angesichts der täglichen deutschen Wirklichkeit nicht stimmen. Jedoch schrieben und sendeten die Medien ohne Unterlass, dass genau dies eingetroffen wäre.

Und die Politik sah es mit Wohlgefallen. Selbst das Ausscheiden der deutschen Fußballer gegen Spanien tat der Begeisterung keinen Abbruch – im Gegenteil: Gerade wie dies geschah und wie der Bundestrainer die Niederlage in den großen Zusammenhang der Nation stellte, bestätigte den überragenden Erfolg der Veranstaltung für Deutschland.

Jeder für jeden: Der Bundestrainer phantasiert sich eine Idylle

Ich finde, dass wir es gemeinschaftlich geschafft haben, ein Land, das viel zu viel in Tristesse und stetig in Schwarzmalerei verfällt, ein bisschen aufzuwecken. Schöne Momente zu bescheren. Ich hoffe, dass diese Symbiose zwischen Fußball-Fans und der Fußball-Mannschaft auch in der normalen Gesellschaft stattfindet, dass wir begreifen, dass wir als Gemeinschaft mehr bewegen können, dass nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht und individueller sein will als sein Nachbar.

Ich wünsche mir für dieses Land, dass es versteht, dass es gemeinsam einfach besser geht. Wenn ich meinem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig, als wenn er es alleine macht (…)

Einfach ein Tick mehr Dinge wieder gemeinsam machen, diese Gemeinschaft hat sehr gutgetan (…)

Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen. Und ich hoffe, dass sich diese Symbiose nachhaltig in weit wichtigeren Bereichen fortsetzt.

Julian Nagelsmann auf der Pressekonferenz nach dem Ausscheiden im Viertelfinale gegen Spanien

Das Zusammenleben verschiedener Lebewesen zum gegenseitigen Nutzen – Symbiose – ist also den Deutschen bei der Europameisterschaft gelungen? Natürlich kann man von einem Fußballtrainer nicht unbedingt erwarten, die genaue Bedeutung von Symbiose zu kennen.

Doch was Nagelsmann ausdrücken wollte mit diesem Begriff, ist klar: Zwischen seinen Kickern und ihren Fans passte während des Turniers kein Blatt Papier, so sehr fieberten die Anhänger mit ihrem Nationalteam. Und nicht nur sie. Ganz Deutschland stand hinter den Fußballern und war stolz auf sie.

Perfekter Gastgeber, perfekte Mannschaft: Hat nicht ganz geklappt

Das hatte Ende vergangenen Jahres noch ganz anders ausgesehen. Das deutsche Team verlor gegen Österreich und die Türkei, eine Schmach gegen zwei Nationen, die nicht zur First Class des Fußballs zählen. Damit setzte sich eine Serie einer überragenden Fußballnation unangemessener Pleiten fort.

Erst als im Frühjahr gegen zwei "Große", Frankreich und die Niederlande, erfolgreich und auch ansehnlich gespielt wurde, wendete sich das Blatt. Nun keimte die Hoffnung, bei der Europameisterschaft im eigenen Land doch eine gute Figur abzugeben. Also Deutschland durch sportlichen Erfolg zur angemessenen Ehre zu verhelfen.

Denn um nichts Geringeres geht es bei einer solchen Veranstaltung: Wie gut repräsentieren die Fußballer die Nation, mithin deren Rang im Verhältnis zu den anderen Nationen?

Die ökonomische Weltmacht Deutschland, die auf dem Weg ist, auch eine militärische zu werden, hat da einen weit höheren Anspruch, als, sagen wir mal, Schottland, Ungarn oder Dänemark. Natürlich ist diese Macht nicht gefährdet, wenn die Mannschaft keinen Erfolg hat. Aber ihr Auftreten sollte Ausdruck einer starken Nation sein.

Noch dazu bei einem Heimturnier, das der Welt einen möglichst perfekten Staat zeigen sollte. Das hätte auch beinahe geklappt mit modernen Stadien und auf freundlich programmierten Einheimischen gegenüber einfallenden Horden von Ausländern – denen man sonst skeptisch bis ablehnend begegnet.

Doch dann funktionierten viele Bahnverbindungen nicht, in Gelsenkirchen war der öffentliche Personennahverkehr überfordert, im Frankfurter Stadion der Rasen nicht genug angewachsen, und es regnete für ein "Sommermärchen 2.0" zu oft. Und zwar so heftig, dass in Dortmund regelrechte Wasserfälle entstanden, was nicht gerade von deutscher Perfektion zeugte.

"In eure Stadien regnet es rein" spottete darauf ein ehemaliger ägyptischer Fußballer. Der Fernsehsender al-Jazeera aus Katar schlug in die gleiche Kerbe und berichtete von Massenschlägereien zwischen serbischen und englischen Fans, einem Bierverbot und überfüllten U-Bahnen.1

Kritik ausgerechnet aus Katar, jenem Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft 2022, gegen den in Deutschland eine Boykott-Kampagne gelaufen war Kein Schelm, wer da an eine Retourkutsche denkt...

"Wir alle" stehen mit auf dem Platz

Die hohen Erwartungen der deutschen Politik, des Deutschen Fußballbunds und der Leitmedien an die Nationalmannschaft teilten nicht nur die Hardcore-Fans von Schwarz-Rot-Gold. Es sind eben wir alle, die mit unseren elf Stellvertretern auf dem Platz stehen.

Als Deutscher drückt man halt seiner Mannschaft die Daumen. Egal, dass es sich bei den Jungs um bestverdienende Profis handelt, zu denen man keine persönliche Beziehung hat und deren einzige Gemeinsamkeit mit dem normalen Volk darin besteht, einen Pass der Bundesrepublik zu besitzen.

Allerdings versteht dabei ein guter Deutscher keinen Spaß: Wenn diese Jungs sich nicht ins Zeug legen und nicht erkennen lassen, dass sie der Ehre würdig sind, für Deutschland zu spielen, bekommen sie es mit einem empörten Volk zu tun. Sie geben schließlich vor aller Welt ein Bild der Nation ab. Und das sollte gefälligst "uns" im besten Licht zeigen.

Dann, aber auch nur dann, erscheint es sehr einleuchtend, wenn der Bundestrainer von einem Fußballturnier auf die Gesellschaft schließt. Dann ist die Gemeinschaft der Nationalspieler so etwas wie die Gemeinschaft der Deutschen. Sie haben gottlob alles gegeben, sind gelaufen, nicht nur für sich, sondern auch füreinander.

Was zwar im Spiel einer Mannschaftssportart angelegt ist. Aber man hörte keinen Neid, und niemand wollte individueller sein als sein Nachbar. Sie waren eine "geschlossene Gruppe, die einfach gut ist und was bringt" (Julian Nagelsmann2).

Weg mit Problemen: Einfach mit dem Nachbarn über Lösungen reden …

Eine nationale Idylle in klein: Halt ein wenig weniger Konkurrenz um Geld und Gewinn, um Macht und Einfluss, um den besseren Job und um die größten persönlichen Erfolgsmeldungen auf Instagram & Co, schlicht mehr Gemeinsamkeit – und schon läuft es für den Bundestrainer in Deutschland wieder.

Dazu muss man sich nur alles wegdenken, was diese Nation täglich an Kämpfen mit sich und mit den anderen Staaten in der Welt austrägt und was die Gründe dafür sind. Das klappt gut, denn diese Sorte Spielanalyse gibt es nicht in der Trainer-Ausbildung.

Es kommt eben auf die richtige Einstellung an, dann fluppt das auch mit dem Nachbarn – und mit dem Erfolg der Nation. Das sollte sich jeder Deutsche hinter die Ohren schreiben.

Und: "Nicht in Problemen denken, sondern in Lösungen" (Julian Nagelsmann3). Vor allem diese Leute, die immer lamentieren über zu wenig Geld, kaputt machende Arbeit, kaum Zeit und Mittel für Lebensgenuss! Das ist ja nicht zum Aushalten.

Einfach sich mit dem Nachbarn zusammensetzen, mit ihm seine Hecke schneiden, und dann in Lösungen denken. Vielleicht in die Richtung: Schluss mit dem sich Abrackern für fremden Reichtum und einen Staat, der einen mit Gewalt dazu zwingt und dafür auch noch Begeisterung erwartet.