ESC 2017 - Der nackte Affe tanzt
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Der Streit um das Einreiseverbot der behinderten russischen Kandidatin beherrscht das Spektakel, das dieses Jahr in Kiew stattfindet
Es dürfte einer der brisantesten Wettbewerbe seit langem werden: der Eurovision Songcontest 2017, der in Kiew in der Ukraine ausgetragen wird. Von vielen als peinliches Spektakel abgetan, von den meisten als guilty pleasure zelebriert, geht der ESC in eine weitere Runde, die wieder einmal reich an rührseligen und heiteren Geschichten, Mikrokatastrophen und handfesten Skandalen sein dürfte - der erste wird gerade dieser Tage ausgetragen.
Schon 2016 wird vielen Mitgliedern der European Broadcasting Union (EBU) beim Gedanken, ihre Acts in die Ukraine zu schicken, unwohl gewesen sein. Besonders schwierig war der Stand der russischen Fernsehstation Perwy Kanal, hatte doch die Ukraine im Vorfeld der Kandidatenauswahl eine "Schwarze Liste" russischer Sänger veröffentlicht, die in Kiew unerwünscht sind. Zugleich war klar, dass sich die Russen einen Auftritt beim ESC nicht würden nehmen lassen, schon gar nicht, nachdem der letztjährige haushohe Favorit Sergej Lasarew so bitter um den Sieg gebracht worden war (Press ESC to Party)
Schon in den letzten Jahren waren die teilnehmenden russischen Künstlern einer regelrechten Medienhatz und schrillen Pfeifkonzerten ausgesetzt, wenn sie ihr Land beim ESC repräsentierten. Ausgerechnet in Kiew würde das nicht anders laufen, das musste den Verantwortlichen klar sein. Naheliegend also, dass man sich nach einer Sängerin umgesehen hat, die auszupfeifen ein Armutszeugnis darstellen würde.
Mit der Wahl von Julia Samoilowa ist den Russen ein Schachzug gelungen, der auch den Gastgeber Ukraine in Bedrängnis bringt. Erstens ist die Songwriterin Samoilowa kein unbeschriebenes Blatt. Bei der russischen Ausgabe von "The X-Factor" kam sie bis ins Finale, bei der Eröffnung der Paralympischen Spiele in Sotschi sang sie das Lied "Together". Wie kaum eine zweite verkörpert sie zudem den Slogan, den die ukrainischen Veranstalter des ESC ausgerufen haben: celebrate diversity. Samoilowa ist seit ihrer Kindheit auf einen Rollstuhl angewiesen. Ihrem Auftritt Steine in den Weg zu legen, wirft ein schlechtes Licht auf die Organisatoren des Events. Und die können schlechte PR nach Korruptionsvorwürfen, Personaländerungen im Management und dem Chaos um den Ticketverkauf wahrlich nicht gebrauchen.
Dennoch ist nun genau das passiert: Da Samoilowa ein Konzert auf der Krim gegeben hat und dabei aus ukrainischer Sicht illegal auf die Halbinsel eingereist ist, wurde sie vom Veranstalter mit einem Einreiseverbot belegt (Ukrainischer Geheimdienst lässt russische ESC-Kandidatin nicht einreisen). Vermittlungsversuche der EBU blieben bislang erfolglos, sodass als Lösung die noch nie dagewesene Entscheidung getroffen wurde, Samoilowa eine Live-Schaltung nach Kiew zu ermöglichen, die sie auch im Falle ihres Überstehens des Semifinales im Großen Finale wiederholen könnte. EBUs Generaldirektorin Ingrid Deltenre hat jetzt in der schweizerischen Zeitung "Blick" gegenüber Kiew gedroht. Das Verhalten sei inakzeptabel, sie bedauere es zutiefst, dass der ESC "für eine politische Aktion missbraucht" werde. Wenn es zu keiner Lösung komme, könne die Ukraine vorübergehend für die Teilnahme am ESC gesperrt werden.
Die Ukraine befindet sich nun in einer unangenehmen Lage. Weiter am Einreiseverbot festzuhalten, begünstigt eine russische Opferhaltung. Es zu kippen, hieße jedoch, sich einer moralischen Erpressung zu beugen. Umgekehrt bleibt die Situation auch für die russische Delegation schwierig. Dass Samoilowas Nominierung eine Provokation darstellen würde, war vorhersehbar. Unter den Fans polarisiert die Entscheidung, und antirussische Ressentiments, die schon in den letzten Jahren immer wieder spürbar gewesen waren, greifen um sich.
Neben der Geschichte mit dem Einreiseverbot sind vor allem Unkenrufe laut geworden, die anprangern, dass Russland eine behinderte Frau schamlos ausnutze. Das Gedächtnis dieser Unken scheint jedoch nicht besonders weit zu reichen. 2015 wurde Finnland von einer Punk-Band vertreten, deren Mitglieder eine Lernschwäche aufweisen. Im selben Jahr trat auch eine partiell gelähmte Sängerin auf: Die Polin Monika Kuszyńska thematisierte in ihrem Lied "In The Name Of Love" ihr eigenes Schicksal, das sie nach einem Autounfall in den Rollstuhl zwang.
Natürlich gab es auch vor zwei Jahren kontroverse Diskussionen um diese beiden Teilnahmen, aber letztendlich war man sich einig, dass der ESC für Vielfalt, Toleranz und Einzigartigkeit stehe. Sollten diese Werte nun plötzlich für die russische Teilnehmerin nicht gelten? Es ist zu hoffen, dass sich hier noch eine Lösung findet, die es beiden Parteien ermöglicht, ihr Gesicht zu wahren.