EU: Neuer Flüchtlingsdeal mit Erdogan?

Screenshot von RT-Video, das Auseinandersetzungen zwischen Migranten und griechischen Polizisten an der türkisch-griechischen Grenze im März 2020 zeigt.

Die Schockwellen von 2015 sind noch da. Der türkische Präsident nutzt jede Chance, seine Macht zu festigen

Soll der Flüchtlingsdeal mit der Türkei verlängert werden? Die Frage wird heute wieder neu aufgeworfen, da die Abmachung auf den Tag genau nun fünf Jahre zurück liegt und die politischen Schockwellen von 2015 zwar seit einem Jahr von der Corona-Krise überdeckt werden, aber dennoch unter der Oberfläche der Aktualität weiter präsent sind. Die politische Maxime "2015 soll sich nicht wiederholen" gilt noch immer.

Das Abkommen mit Ankara, geschlossen am 18. März 2016 (genau sechs Jahre nach Ausbruch des kriegerischen Konflikts in Syrien), sollte einen weiteren Exodus aus den Krisenzonen verhindern. Die Balkanroute war geschlossen und die Seeroute zwischen der Türkei und Griechenland sollte als nächstes möglichst dichtgemacht werden, damit sich der Schock der Monate seit September 2015 nicht wiederholt.

Der Plan hieß, dass so wenig Flüchtlinge wie möglich auf illegalen Wegen bis Kerneuropa vordringen können und dass die Sicherung der europäischen Außengrenze möglichst mit den Werten der EU vereinbar ist, also mit Menschenrechten und insbesondere dem Asylrecht.

Die Abmachung über den gemeinsamen Aktionsplan, der der Europäische Rat am 18. März 2016 zustimmte, hat "Operative Schritte in der Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei im Bereich der Migration" als Überschrift. Der operative Schritt, der in der Medienöffentlichkeit hohe Aufmerksamkeit bekam, war ein Austausch:

Für jeden von der Türkei von den griechischen Inseln rückübernommenen Syrer Neuansiedlung eines weiteren Syrers aus der Türkei in den EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Verpflichtungen.

Abmachung zum Flüchtlings-Aktionsplan zwischen der EU und der Türkei

Inwieweit diese Regelung funktionierte, darüber weiß die größere Öffentlichkeit kaum Bescheid. Das liegt daran, dass der sogenannte Flüchtlingsdeal, öfter auch "Merkel-Plan" genannt, in den letzten Jahren vielen Streitigkeiten zwischen der Türkei und der EU ausgesetzt war, der Zwischenmeldungen zum Stand der Dinge übertünchte.

Streits und Erpressungen: "Schleusen öffnen"

Es gab Streit über die Milliarden-Zahlungen, zu denen sich die EU verpflichtet hatte, und die laut mehrmaligen Aussagen Erdogans nicht fristgerecht oder nur teilweise bezahlt wurden. Der türkische Präsident unterstrich seine Forderung nach Erfüllung der Zahlungen und anderer Versprechungen der EU (von Ankara wurde dazu die Visafreiheit für türkische Staatsbürger mehrmals ins Spiel gebracht) regelmäßig mit Drohungen, den Deal aufzukündigen und "die Schleusen" zu öffnen.

Das setzte er dann vor Jahresfrist auch in eine Wirklichkeit um, die der EU in aller Härte vorführen sollte, wie die Konsequenzen einer Schleusenöffnung aussehen könnten: Die Türkei half mit, dass sich Tausende Flüchtlinge an der Grenze zu Griechenland in großer Wut versammelten ( Erdogan will die Flüchtlingskrise 2015 noch einmal herbeiführen, Die Situation an der türkisch-griechischen Grenze ist am Platzen und Flüchtlinge in der Falle).

Auffällig war, wie Erdogan seine politische Erpressung auf Grundlage des EU-Flüchtlingsdeals mit seinen Plänen in Syrien verband. Der einzige Ausweg aus dem Flüchtlingsproblem sei, dass die Türkei einen weiträumigen Sicherheitskorridor in Syrien bekomme, um dort die syrischen Flüchtlinge neu anzusiedeln. Von der EU forderte er, dass sie die türkischen Syrien-Pläne unterstütze.

Dass die türkischen Syrienpläne mit militärischer Gewalt durchgeführt werden, mithilfe von islamistischen Milizen, die auf Vertreibung der Kurden setzen, und die Angriffe stets in einer Besatzung enden, sollte dabei tunlichst nicht zur Sprache kommen. Erdogan reagierte auf jeden Spitzenpolitiker der EU, der solche Militäraktionen als das bezeichnete, was sie sind, nämlich "Invasionen", mit wütenden Ausfällen.

Idlib

Ein Blick auf den Nordwesten Syriens, auf Idlib und den Raum Aleppo zeigt, dass Erdogan über große Hebel verfügt, um mit den nächsten Katastrophen zu drohen. Im Großraum Aleppo sind die islamistischen Milizen, die mit Erdogan verbündet sind, ein dominierender Faktor. In Idlib mischen sie auch mit.

Die dort herrschende Miliz, der al-Qaida-Abkömmling Hayat Tahrir asch-Scham, ist auf die türkische Unterstützung angewiesen, wenn der Plan ihres Führers, al-Golani, aufgehen soll, dass er als Verhandlungspartner für eine Neuordnung der Verhältnisse in der Region akzeptiert wird. Die ersten "wissenschaftlichen Politik-Berater" sind schon auf diesen Zug aufgesprungen ("normaliser les rebelles").

Die Aufteilung Syriens liegt ganz im Interesse der Nato-Partner, die Macht des syrischen Präsidenten so weit wie möglich zu beschränken. Es besteht dort auch kein Interesse, etwas daran zu ändern, dass der nominelle Souverän Syriens die Grenzen zur Türkei nicht kontrolliert.

So kann die Türkei jederzeit damit drohen, weitere Schleusen zu öffnen und eine humanitäre Katastrophe zu eskalieren, falls die westlichen Verbündeten ihre "gutgemeinten" Syrienpläne zur "nationalen Sicherheit der Türkei" nicht unterstützen.

Eine Verlängerung des EU-Flüchtlingsdeals müsste die Möglichkeiten der Wiederauflage von erpresserischen Methoden mitberücksichtigen. Ein neu unterzeichnetes Dokument würde Forderungen des türkischen Präsidenten auch eine neue Legitimität verschaffen.

Erbärmliche Zustände in griechischen Flüchtlingslagern

Zu beachten sind auch die erbärmlichen Zustände, in denen Tausende von Flüchtlingen in den griechischen Lagern leben. Die Hoffnung, dass die EU-Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei für eine Lage gesorgt hat, die die Menschenrechte der Migranten verbessert, ist nur dann erfüllt, wenn man sich Hände vor die Augen hält, ähnlich wie bei einem Horrorfilm.

Und doch gibt es Plädoyers für eine neue Initiative. In der Süddeutschen Zeitung argumentieren Thomas Kirchner und Matthias Kolb damit, dass der Deal beiden Seiten nützt. Die EU habe mit der Abmachung ein wesentliches Ziel erreicht: "die Kontrolle über den Flüchtlingsstrom zurückzugewinnen".

"Weiterhin kommen relativ wenige Migranten über das Mittelmeer nach Europa: 2019, vor der Pandemie, waren es 100 000", so die SZ. Festgestellt wird auch: "Die Hilfe der EU kommt an. Sie bewirkt, dass Millionen Flüchtlinge in der Türkei versorgt werden, Kinder in die Schule gehen können."

Die SZ-Autoren äußern die Hoffnung, dass die Regierungschefs beim EU-Gipfel Ende März eine Initiative für einen neuen Vorschlag ausarbeiten können, der den Flüchtlingen zugutekommt, weil dadurch die Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei fortgesetzt werden kann: "Darüber könnte man im Juni beim nächsten Gipfel sprechen. Auf diese Weise, meinen viele, werde die Türkei kooperativ bleiben."

Auch der Migrationsforscher Gerald Knaus, der oft als Architekt des Merkel-Plans geschildert wird, der dem EU/Türkei-Aktionsplan zugrunde liegt, ist für eine Neuauflage.

Zurück zum "Win-Win"?

Die ursprüngliche, am 18. März 2016 getroffene Übereinkunft, habe bis zu den oben geschilderten Ereignissen eine "Win-Win-Win-Situation für alle" gebracht, wird Knaus zitiert. Die EU "hat Kontrolle gehabt, die Türkei hat Hilfe bekommen und auch das Recht auf Asyl wurde gewahrt." Die Ankunftszahlen seien umgehend gesunken.

Seit März 2020 sei es jedoch eine "Lose-lose-lose-Situation" geworden: die Türkei ohne zusätzliches Geld, die EU, die mit illegalen Pushbacks von Frontex Schlagzeilen gemacht hat - und die Situation auf den griechischen Inseln… Nach seiner Ansicht bleiben zwei Optionen:

Ob die EU einen humanen Grenzschutz will und auf Kooperation setzt, oder auf verbotene Pushbacks, das entscheiden europäische Regierung(!). Im ersten Fall braucht die EU Partner, auch die Türkei. Für Abschreckung durch das Aussetzen aller Rechtsstandards nicht. Nur wäre das ein sehr hoher Preis.

Gerald Knaus

Sein Vorschlag zur Weiterführung der EU-Türkei-Abmachung ist hier zu lesen.

Laut den Zahlen der Internationale Organisation für Migration zur östlichen Mittelmeerroute gibt es in diesem Jahr sehr niedrige Zahlen: 501 Ankünfte und 1 Toten zählt man bislang. Der Druck, schnell zu handeln, ist bei der Absicherung der Seegrenzen auf der östlichen Mittelmeerroute augenblicklich nicht gegeben.

Dringend sind Verbesserungen für die Flüchtlinge und Migranten, die auf den griechischen Inseln untergebracht sind. Wie es aussieht, gehören die elenden Bedingungen aber zur Abschreckungspolitik der griechischen Regierung.

Heute wurde bekannt, dass die Regierung Erdogan die Oppositionspartei HDP verbieten lassen will. Das hatte sich schon angekündigt, wie dieser Stelle von Elke Dangeleit vor zehn Tagen berichtet. Man muss sich also nichts vormachen, auf wen man sich bei einem neuen Deal einlässt und dass die Kurden und Syrien zum Paket dazugehören.