EU: Von der Leyen im Paralleluniversum
Die EU-Kommissionspräsidentin zur Lage der Union: Die Realität entgleitet ihr, große Fragen werden ausgeklammert. Sie spricht auch nicht zu den Bürgern. Wer sich darüber freut.
Es ist ein Ritual: Einmal im Jahr, immer im September, hält die Präsidentin der Europäischen Kommission vor dem Europaparlament in Straßburg eine Rede zum "State of the Union" (Soteu). Eine Stunde lang darf Ursula von der Leyen dann vortragen, was ihr zur Lage der EU einfällt - und was ihr Emmanuel Macron und Olaf Scholz, ihre Parteifreunde und Unterstützer sowie diverse Thinktanks eingeflüstert haben.
Am vergangenen Mittwoch war es wieder so weit. Die "Soteu"-Rede versprach spannend zu werden - schließlich ist Krieg in Europa, Deutschland steckt in der Rezession, die Klimakrise spitzt sich bedrohlich zu. Die Bürger murren, die Rechtspopulisten frohlocken, sogar von der Leyens konservative Parteifreunde von der Europäischen Volkspartei werden unruhig und fordern einen Kurswechsel.
Doch wer von der CDU-Politikerin so etwas wie Orientierung, gar Führung, erwartet hatte, wurde enttäuscht. In ihrer Rede in Straßburg ging es "um alles, nur nicht um die Zukunft", wie die Süddeutsche Zeitung treffend formulierte.
Wohin geht die Reise, wo sieht sie die EU nach der Europawahl im Juni 2024, strebt sie eine zweite Amtszeit an? Zu all dem sagte die EU-Chefin - nichts.
Dabei ist die Lage ernst
Von der Leyen blieb auch klare Worte zur Lage der Union schuldig. Dabei ist die Lage ernst. Die EU hat ihr höchstes Gut - den Frieden - verloren, und das schon im zweiten Jahr und ohne Aussicht auf Besserung. Sie hat das Wohlstandsversprechen gebrochen, mit dem einst der Binnenmarkt und der Euro begründet wurden. Und sie gerät im geopolitischen Ringen ins Hintertreffen.
Jeder normale Politiker, der sich zur Wiederwahl stellen will, hätte dazu etwas gesagt und die Bürger beruhigt. Nicht so von der Leyen. Sie ist nicht von den Bürgern gewählt.
Und sie spricht auch nicht zu den Bürgern, sondern zu einem Parlament, das ihr weitgehend ergeben ist - und zu einer Brüsseler Blase, die sich längst zum Paralleluniversum entwickelt hat. Reale Probleme kommen da kaum noch vor.
Es zählen die Versprechen
Für von der Leyen zählen vor allem die Versprechen, die sie zu Beginn ihrer Amtszeit 2019 selbst gegeben hat. Von sechs Schwerpunkten in der Klima-, Digital- und Wirtschaftspolitik will sie 90 Prozent umgesetzt haben. Und das, obwohl die Corona-Pandemie und der "unprovozierte russische Angriffskrieg" (so die offizielle Brüsseler Sprachregelung) dazwischen gekommen sind.
Einer nüchternen Betrachtung hält das natürlich nicht stand; Das Europaparlament kommt nur auf 69 Prozent Planerfüllung. Zudem verdecken die blumigen Titel ("An Economy that works for the people", "A stronger Europe in the world" etc.), dass sich die realen Lebensbedingungen und die Sicherheitslage in Europa spürbar und in einem schwindelerregenden Tempo verschlechtert haben.
Linke und Sozialdemokraten haben darauf hingewiesen, immerhin. Konservative und Grüne hingegen haben vor allem darauf geachtet, ob ihre Wünsche und Forderungen in der Rede zur Sprache kamen.
Die einen wollten (und bekamen) ein ausdrückliches Lob für die Bauern und ein Bekenntnis zum Bürokratieabbau. Die anderen durften sich über die Zusage freuen, dass der "Green Deal" fortgesetzt wird.
Was nicht zur Sprache kommt
Erwartungsmanagement und Klientelpolitik - das waren die Leitmotive der Soteu-Rede 2023. Von der Leyen wollte es allen recht machen und es sich mit niemandem verscherzen. Wobei der Blick wohlgemerkt nach innen ging, in die Brüsseler Blase und den exklusiven Kreis der EU-Entscheider.
Einem normalen Bürger wäre diese Rede nicht zuzumuten, sie richtete sich eigentlich nur an Insider.
In diesem "Inner Circle" gibt es einige Gewissheiten, die "gesetzt" sind und nicht hinterfragt werden dürfen. Dazu zählt selbstverständlich der "Angriffskrieg" Russlands, den die EU gar nicht genug verurteilen kann - aber auch die Unterstützung der Ukraine, die ausgebaut und auf Dauer gestellt werden muss. Die Hilfe darf weder vom realen Kriegsgeschehen noch vom Ausgang der Europawahl erschüttert werden.
Nur so lässt sich erklären, dass von der Leyen mit keinem Wort auf die schleppende Gegenoffensive eingegangen ist - und dass sie auch nicht ansatzweise versucht hat, die enormen Finanztransfers nach Kiew und die massive Waffenhilfe zu rechtfertigen.
Diese kritischen Themen, die im US-Wahlkampf zu Recht für Aufregung sorgen, werden in der EU tabuisiert. Von der Leyen sparte sie einfach aus.
Wie lange soll der Krieg noch weitergehen? Ist eine Fortsetzung im europäischen Interesse? Hat die EU genug Ressourcen, um die Ukraine noch über Jahre zu unterstützen - oder droht ein "Mission Creep", eine unkontrollierte Ausweitung von Aufgaben und Ausgaben?
Ein kritisches Publikum hätte diese und viele andere Fragen gestellt. Im Europaparlament kamen sie nicht zur Sprache.
Der Ruf der Geschichte und die Bevölkerung
Und so konnte von der Leyen am Ende ungestört ins Pathetische und Utopische abschweifen. Sie forderte die EU auf, den "Ruf der Geschichte" zu erhören und alles zu tun, um die Ukraine und weitere Länder aufzunehmen.
Eine Union mit mindestens 30 Mitgliedsländern werde ein "Katalysator für den Fortschritt" sein, behauptete sie. Es klang wie eine Flucht nach vorn. Denn ein Beitrittsdatum fehlt, ein Plan zur Umsetzung auch.
Während ihr die Realität entgleitet, sucht die ungeliebte EU-Chefin ihr Heil in einer fernen Zukunft. Und das in ihrer womöglich letzten großen Rede - denn ob von der Leyen nach der Europawahl noch mal antritt, ist nach der Soteu 2023 genauso unklar wie zuvor.
Die Stimmung ist schlecht: Nach einer Umfrage von Table.Media sind 60 Prozent der Deutschen gegen eine zweite Amtszeit.