Ein Calatrava für die New Economy

Bisher fühlten sich die Unternehmen der Netzwelt besonders wohl in alten Fabrikgemäuern. Ist es an der Zeit, eine neue Architektur für die Neue Wirtschaft zu wagen?

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"Hauptsache, es ist der Tendenz nach alt, ein wenig benutzt und eher dunkelbraun", schrieb Florian Illies der "Generation Golf" ins Stammbuch. Und diese beherzigte das. Wichtiger als ein ordentlicher Business-Plan schien in den goldenen Zeiten der New Economy eine hippe Location zu sein. Eine Fabriketage war da mindestens angesagt.

Aperto bezog gleich eine ganze Pianofabrik in Berlin-Mitte, der Venture Capitalist Econa richtete sich nebenan in der Lokfabrik ein und die Chausseestraße hoch, Richtung Wedding, machte es sich Scholz & Friends in einer Dampfbrotbäckerei gemütlich. Pixelpark hingegen zog es in die entkernte Narva-Glühlampenfabrik, während sich Plenum New Media in einer ehemaligen Gurkeneinlegerei wohlfühlt, auf deren Fassade man mit großen Buchstaben "Alte Seifenfabrik" gepinselt hat. Und schließlich sei da noch das ehemalige Brötchenbackkombinat erwähnt, das am Fuße des Prenzlauer Bergs zur Backfabrik.de mutierte.

Was hat es bloß mit dieser Industrieromantik auf sich? Sind es generationsspezifische Erfahrungen - der erste verschämte Kuss, damals bei Hermann van Veen in der Kulturfabrik, das E-Werk mit seinen wummernden Techno-Beats - oder ist wieder Amerika an allem schuld: Ob Andy Warhols "Factory" oder Wired, das seine Redaktionsräume in der 3rd Street San Franciscos bezog und die Gegend bald zum "Multimedia Gulch" werden ließ - das prägte sicher den Backstein-Chic. Und es war doch faszinierend, wie sich Michael Douglas und Demi Moore in "Disclosure" (1994) hinter der Klinkerfassade eines Software-Unternehmens böse balgten.

Ein Hauch Bohème

Andrerseits kann man es ganz pragmatisch sehen: Die Fabriketagen sind ungemein praktisch - und in Berlin, der ehemals größten Industrieansiedlung des europäischen Kontinents, unschlagbar billig. Meist brauchen die jungen Unternehmen doch nur Platz für Schreibtische und Computer - da ist die helle Großzügigkeit eines Lofts ideal, zumal sich hier flache Hierarchien mit offenen Kommunikationsstrukturen wie von selbst realisieren.

Und dann gibt es da noch den historischen Mehrwert. Im Gegensatz zu "gesichtslosen Karnickelställen" - damit meinte Erik Spiekermann, Gründer von Metadesign, die Neubauten der alten Wirtschaftswelt - bietet Industriearchitektur individuelle Geschichte und unverwechselbaren Charakter. Das konnte man in der New Economy durchaus gebrauchen, waren die Firmen doch selten älter als zwei Jahre. "Branding" in eigener Sache war gefragt, der Firmenname musste zu einer unkonventionellen und authentischen Marke stilisiert werden. Ein Hauch Bohème schadet da nie.

Das historische Gebäude diente also, ohne dass es großer Worte bedarf, dem eigenen Image. Schließlich war das einzige, was sich während des Hypes mit Bestimmtheit über die New Economy sagen ließ, dass sie ganz und gar anders sein wollte als die Vertreter der alten Welt. Und so wisperte es in einem alten Fabrikgebäude aus allen Fugen: "Hey, wir sind hip!" Das raunte es den eigenen Mitarbeitern ins Ohr. Die Flüsterparole aber zielte auch auf potenzielle Kunden und potente Geldgebern; selbst Visitenkarten und Websites priesen die eigene Location an.

Nach dem Crash: Ab auf die grüne Wiese?

Dann kam der Crash und seitdem hat sich einiges geändert. Statt T-Shirts trägt man vielerorts wieder Anzug und Krawatte. Es bleibt abzuwarten, ob der Stilwandel damit schon vollzogen ist oder ob er auch vor den Unterkünften nicht Halt machen wird. Noch scheint Ebay Deutschland eine Ausnahme zu sein. Die haben ihre Kreuzberger Fabriketage, wo sie als "Alando" begannen, aufgegeben und auf der grünen Wiese vor den Toren Berlins eine Investorenschachtel von der Stange bezogen. Nun lässt sich spekulieren, wie weit solche Umzüge als Signale an den Finanzmarkt zu verstehen sind, dass man erwachsen und gewinnorientiert geworden ist.

Hat also Stefan Kühl vom Forschungsprojekt Dotcom-Research der Universität München recht, als er in Brand eins kürzlich vermutete, die New Economy sei einem opportunistischen Wirtschaftsstil verpflichtet:

Die Wirtschaftslogik, die in der New Economy betrieben wurde, lässt sich am besten mit dem Begriff des ‚Exit-Kapitalismus' fassen. Warum? Weil fast alle Akteure in der New Economy daran orientiert sind, zwei drei Jahre lang einen Entwicklungstrend zu prägen oder sich an einen anzuhängen und mit möglichst hohem Engagement möglichst viel aus dem ökonomischen Projekt herausholen - um dann im richtigen Moment aus dem Projekt auszusteigen und eine neue Initiative anzustoßen.

Damit ist das Verhältnis zu allem ein nur taktisches, renditeorientiertes, auch zur Architektur. Zwar wechselt man die nicht so häufig wie die Kleidung, aber auf Dauer würde sich ein ganz pragmatisches Verhältnis durchsetzen. Und dann könnten wie bei "Ebay" im brandenburgischen Europarc Dreilinden niedrige Mieten und Autobahnanschluss entscheidend sein.

Wie aber verträgt sich solcher "Opportunismus" mit dem moralischen Anspruch vieler New Economy-Firmen, eine bessere, menschenfreundlichere Form des Wirtschaftens zu realisieren? Und auch für all jene Firmen, die sich qualitätsvollem Design verschrieben haben, dürfte die 08/15-Schachtel auf der grünen Wiese inakzeptabel sein. Wie also geht es weiter? Abzusehen ist, dass bald niemand mehr Backsteinwände und weiß getünchte preußische Kappendecken sehen kann. Die Neue Wirtschaft in alten Gemäuern droht zum Klischeebild zu verkommen. Bricht nun die neue Zeit an und die New Economy widmet sich einer eigenen Architektur? Es dauert ja immer eine ganze Weile bis neue Bauaufgaben gelungene Realisierungen gefunden haben. Die ersten Fabriken der beginnenden Industrialisierung zogen auch erst in leer stehende Schlösser und säkularisierte Klöster, bis über hundert Jahre später mit der AEG-Turbinenhalle Peter Behrens' oder Walter Gropius' Faguswerken der Bauaufgabe entsprechende Lösungen gefunden wurden. Heute geht alles ein bisschen schneller. Wie also könnte eine Architektur der New Economy aussehen?

Der Meister großer Gesten

Anlass zur Spekulation mag da ein Wired"-Interview geben, das jüngst den spanischen Architekten Santiago Calatrava vorstellte. Nun mag das nicht überraschen, denn Calatrava ist derzeit allgegenwärtig. Wo es großer Gesten bedarf, lässt man ihn bauen. Dennoch scheint da noch ein anderes Interesse zu sein. Es blitzte auf in Calatravas bekenntnishaftem Satz:

Your bridges can be better, your schools can be better, your public transportation - your everyday life can be better.

Santiago Calatrava, 1951 in Valencia geboren, studierte Architektur und absolvierte einen Aufbaustudiengang in Sachen Städtebau. Dann ging er nach Zürich an die Eidgenössische Technische Hochschule und studierte Bauingenieurwissenschaft. Nach seiner Promotion 1981 (mit einer Arbeit über die Faltbarkeit von Fachwerken) eröffnete er sein Büro in Zürich, dem später Dependancen in Paris und Valencia folgten. Berühmt wurde Calatrava mit seinen Brücken und Verkehrsbauten. Der Zürcher Bahnhof Stadelhofen und die Brücke Alamillo für Sevilla sicherten ihm früh den Platz in der Architekturgeschichte. Der TGV-Bahnhof in Lyon und der Flughafen in Bilbao rundeten sein verkehrstechnisches Sortiment ab. In Deutschland erregte Santiago Calatrava Anfang der Neunziger das erste Mal größere Aufmerksamkeit, als er neben Sir Norman Foster den Reichstagswettbewerb gewann, auch wenn schließlich doch Foster beauftragt wurde, neue Entwürfe vorzulegen. Delikat war dabei, dass Calatravas Entwurf die gewünschte Kuppel besaß, Fosters nicht.

Ähnlich wie Frank O. Gehry baut auch Calatrava "biomorph". Während Gehrys Formen oft einer knospend-sprießenden Natur verbunden sind, erinnern die Calatravas, nach einem bösen Wort des Berliner Architekturkritikers Nikolaus Bernau, immer an einen ausgeweideten Wal. Im Gegensatz zu dem Dekonstruktivisten Gehry, der Bestehendes auflöst und neu kombiniert, ist Calatrava ein Konstruktivist, den - ganz Ingenieur - vor allem die Strukturen interessieren. In vielerlei Faltungen und unendlichen Reihungen von rippenähnlichen Stützen verweisen seine Bauten trotz aller Dynamik immer auf die eindimensionale Entwurfszeichnung. Aber gerade dadurch ist ein Calatrava immer als ein Calatrava erkennbar.

"Genmanipulierte Gotik"

Architekturkritiker greifen gerne zu Tiermetaphern, um seine Werke zu beschreiben. Das neue Milwaukee Museum of Art scheint wie ein weißer Schwan zum Flug über den Michigan-See abzuheben. Einer riesigen Stubenfliege gleich hockt der TGV-Bahnhof in Lyon und im Bahnhof Stadelhofen fühlt man sich wie Jonas im Bauche des Wals. Und dennoch sind seine Bauten rational, dominiert die auf Linien durchgeführte Konstruktion. Seiner fächerförmigen, oft in die Höhe ragenden und eine immense Sogwirkung entfaltenden Formen wegen sieht man in Calatrava gerne einen "Neugoten", ja, zuweilen verspottet man ihn gar als Baumeister einer "genmanipulierten Gotik".

Vor allem der Moderne verpflichtete Architekten haben ihre Schwierigkeiten mit seiner Architektur. Sie stempeln Calatrava gerne als Ingenieur ab, dessen Bauten zwar äußerst elegant wirken und beschwingt dazu. Deren Gestus aber, so zu tun, als seien sie Meisterwerke der Konstruktion, sei selbst ein konstruierter. Denn die Konstruktion ist der Bauaufgabe oft nicht angemessen, sondern verlangt aufwändige Spezialkonstruktionen, die die Kosten ebenso in die Höhe treiben, wie sie die atemberaubende Wirkung steigerten.

Indes: Gerade der großen Geste wegen schätzt alle Welt derzeit Calatrava. Womöglich reagiert man damit auf die allseits herrschende Strenge in der Architektur. Und waren nicht die expressiven Bauten des Jüdischen Museums von Daniel Libeskind und Frank Gehrys DG-Bank am Pariser Platz die einzigen Bauten, die Martin Filler in seinem Aufsehen erregenden Totalverriss der Berliner Nachwendearchitektur in der New York Review of Books ausnahm? Angesichts der Kälte gegenwärtiger Architekturen, ist die Toleranz für Calatravas Pathos groß. Da mag deren Dramatik manchmal ruhig ein wenig hysterisch wirken.

Hier liegt die Stadt der Zukunft

Wo immer spektakuläre Motive gewünscht sind, Ikonen für das bilderselige Zeitalter, da ist der Spanier erste Wahl. So beschloss Venedigs Stadtverwaltung den Spanier mit der ehrenvollen Aufgabe zu betrauen, das berühmte Trio aus Bahnhofs-, Rialto- und Academia-Brücke mit einer vierten Brücke über den Canal Grande zu ergänzen. Athen, das 2004 die Olympischen Spiele ausrichten wird, schien einer Blamage entgegenzugehen, so wenig Überzeugendes tat die Stadt in architektonischer Hinsicht für das Großereignis. Doch dann erschien "wie ein Deus ex Machina" Santiago Calatrava und errettete die griechische Metropole aus der betonierten Tristesse.

Weite Bögen überspannen die Stadien, die Wege und Plätze; große Schwingen aus Glas und Stahl locken den Besucher und geben dem Gelände ein Gesicht. In Calatravas weiten Schwüngen scheint etwas von einer verbindenden Kraft auf, etwas von der olympischen Idee.

schreibt Hanno Rauterberg in der Zeit: Als Dreingabe darf er noch einen Bahnhof und eine an Sevilla erinnernde Brücke bauen. (Calatrava, nicht Rauterberg)

Auch Malmö hat die Architektur als Standortfaktor entdeckt. Seitdem die Öresundbrücke den direkten Weg nach Kopenhagen frei machte, setzt man in der südschwedischen Kommune viel daran, aus dem Schatten Stockholms und Göteborgs zu treten. Ein erster Schritt war die Europäische Bauausstellung "Bo01. The City of Tomorrow". Im Westhafen Malmös haben vornehmlich skandinavische Architekten fünfhundert Wohnungen in urban verdichteter Form errichtet. Das recht heterogene Ensemble soll Calatrava zusammenhalten. Schon von Kopenhagen aus wird man seinen 187 Meter hohen "Turning Torso" sehen. Auch wenn noch nicht einmal die Arbeiten an den Fundamenten beendet sind und es 2003 werden wird, bis sich die filigrane Hochhausskulptur vollends in die Höhe geschraubt hat, versinnbildlicht der Wohnturm schon jetzt Malmös Aufbruch in die Zukunft.

Am "Turning Torso" lässt sich Calatravas Architekturwirkung veranschaulichen. Wie ein in der Bewegung festgefrorenerer Tornado erhebt sich der Wohnturm am Ostseerand: "Hier ist Malmö", signalisiert er übers Meer: "Hier liegt die Stadt der Zukunft." Trotz des hohen emotional-bildgebärenden Wertes - auch an die DNA-Doppelhelix lässt sich denken -, ist er rational einsichtig konstruiert: Neun Kuben sind so versetzt über einander gestapelt, dass sich das Haus scheinbar um die eigene Achse dreht. Zugleich wird keines der 45 Geschosse mit einem anderen identisch sein und markiert so die Anforderungen des digitalen Zeitalters in Sachen Flexibilität und Individualismus.

Die Würde der Architektur

Aber Santiago Calatrava geht es keinesfalls um Wirkung um ihrer selbst willen. Er kämpft für eine Erneuerung des urbanen Raums. Seine Bauten sollen vom Stolz der Städte und ihrer Bewohner künden. Und darin trifft er sich mit den Baumeistern, die vor mehr als hundert Jahren jene Bauten schufen, die heute nicht nur von der New Economy so sehr geschätzt werden. Sie sind nie nur dem bloßen Nutzen gewidmet. Calatrava verweist im "Wired"-Interview auf die Grand Central Station in New York. Obwohl sie nur für 50.000 Menschen konzipiert war, bewältigt der Bahnhof heute mehr als eine Millionen Reisende am Tag. Für Calatrava hat dies etwas mit der Würde ("dignity") des Hauses zu tun, diese sei die Grundbedingung ihrer Permanenz:

Look at the central hall of Grand Central - nobody would have the courage to tear it down today.

Für welche Neubauten gilt das heute noch. Sie sind meist so einfach, so von der Stange, einzig als Abschreibeobjekte interessant. Das ist der Fall, wenn nicht mehr die Unternehmen selbst als Bauherren auftreten, sondern anonyme Investoren, denen Rendite alles ist - und die niemand zur Rechenschaft zieht für die mediokre Architektur, die sie den Städten zumuten:

You see so much architecture today that has lost the sence of permanence. Many of our structures and even roads are built to survive 20 to 30 years. After one generation, they are demolished. They asked to be demolished, because they're so terrible. We should have to be aware that buildings should survive us. They form our heritage.

Calatrava

Das auf uns gekommene Erbe zu nutzen, ist zweifelsfrei schon ein Gebot der Nachhaltigkeit. Doch dort, wo neu gebaut wird, sollte auch dem Anspruch gefolgt werden, qualitätsvolle Architektur zu schaffen, die uns überdauern wird, ohne dass wir dabei ein schlechtes Gewissen haben müssen. Der moralische, immer auch auf Ganzheitlichkeit zielende Anspruch, den so viele Akteure der New Economy auf ihre Fahnen geschrieben haben, erscheint in schlechter Architektur wenig glaubhaft. Darum fliehen die meisten Firmen auch den modernen "Karnickelställen" und nehmen in alten Gemäuern Zuflucht. Wäre es aber nicht viel eher ein Ausweis eigener Zukunftsfähigkeit und Gestaltungsfreudigkeit, neue Architektur zu wagen? Es muss ja nicht gleich ein Calatrava sein.