Ein Integrationsproblem von dem niemand spricht

Östlich von Berlin-Mitte: eine Welt voller Hass und Ressentiments

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Berlin-Lichtenberg, ein sonniger Tag im August. Vor einer Kneipe sitz Ronko und genießt sein Feierabend-Bier. Ronko, 36 Jahre alt und Mitarbeiter eines Umzugsunternehmens, lebt seit 12 Jahren in Berlin. Ursprünglich stammt er aus einem Dorf, in der Nähe von Eisenhüttenstadt, direkt an der polnischen Grenze gelegen. Ronko mustert die vorbeieilenden Passanten, in diesem früher als brauner Hochburg berüchtigten Kiez im Osten Berlins. "Früher haste hier keene Schwarzköpfe jesehen, aber heute!" Ronko lächelt, als hätte er sich über seine Bemerkung mit politisch korrektem Unterton amüsiert. Ronko war früher ein Nazi. In seiner Jugend nannte man ihn SS-Ronko, damals, in dem kleinen Dorf an der Grenze. "Ick habe immer noch Kontakt mit den Kameraden von damals, ick selbst bin aber nicht mehr aktiv. Wäre ja ooch komisch wa?" Seit fünf Jahren ist er mit einer Bulgarin liiert, das Paar hat zwei Kinder.

Während Ronko erzählt, frage ich mich, was ich hier in dieser Gegend eigentlich zu suchen habe, warum ich das Gespräch mit ihm suche. Das kam so: Kürzlich trank ich an einem Berliner S-Bahnhof eine Tasse Kaffee. Es war viel Trubel. Und durch babylonisches Sprachengewirr drangen Wortfetzen an mein Ohr. Worte, die ich so schon lange nicht mehr gehört hatte, nicht so laut, so intensiv und mehrfach wiederholt. Von "Ungeziefer" und "Viechern" wurde gesprochen und Ausländer waren gemeint. Die Tiraden kamen aus einer biertrinkenden Runde in Blaumännern und Arbeitskleidung.

Schließlich setzte ich mich zu ihnen und fragte sie, was der Grund für ihren Fremdenhass sei, wo sie doch Gäste eines Imbiss waren, dessen Inhaber ein Türke ist. Sie wussten keine Antwort, betonten aber immer wieder, so wie sie würden alle denken, die östlich der Berliner Mitte wohnen. Ich stellte mir verbitterte Stammtischgespräche vor, nicht weit entfernt vom Regierungsviertel, von elitären Salons der Berliner Republik, von teuren Straßenzügen der linksliberalen Bürgerlichkeit und nicht weit entfernt von den Quartieren der Migranten in all ihrer Vielfalt.

Unwillkürlich fragte ich mich, was verbindet alte und neue Bewohner Berlins miteinander? Was ist der Kit, der Nachbarschaften und Bezirke zusammenhält? Was macht Straßen, Kanäle, Brachen oder Grünanlagen zu Grenzen? Was lässt eine Stadtgesellschaft derart auseinanderfallen, die einst stolz auf ihr raues, aber tolerantes, mulitkulturelles, gar solidarisches Klima war?

Also fuhr ich am folgenden Wochenende nach Lichtenberg, Marzahn und Hellersdorf, klapperte Imbissstuben ab und stand an Biertresen, setzte mich hin, wo andere vorübergehen, sprach Menschen an, mit denen sonst keiner redet. Und erfuhr, sie dachten wirklich alle so und machten keinen Hehl daraus. Was ich entdeckte, war eine Welt voller Hass und Ressentiments, auch von mangelnder Integration beziehungsweise Integrationsbereitschaft in unsere Gesellschaft durch Menschen ohne Migrationshintergrund. Eine Welt, die abgehängt erscheint, völlig übersehen, von den politisch und medialen Eliten, es sei denn, Phänomene wie Pegida oder Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte werfen den Scheinwerfer für einen Moment auf diese Milieus.

Political Correctness, die hohe Schule gesellschaftlicher Gepflogenheiten, war den Arbeitern und Arbeitslosen fremd, die ich östlich von Berlin-Mitte traf. Aus dem verschrienen, aber angesagten Neukölln weiter westlich kommend sah ich mich mit einem Integrationsproblem der anderen Art konfrontiert, von dem aber niemand spricht. Der französische Soziologe Henri Lefebvre prägte Ende der 1960er Jahre den Begriff der "verdichteten Unterschiedlichkeit". Er stellte sich vor, eine Stadt werde gerade dadurch ideal, dass viele Menschen unterschiedlicher Herkunft sich ständig austauschen und auf engstem Raum gesellschaftliche Fragen aushandeln.

Mehr als früher braucht der unzufriedene Stadtbewohner einen Feind

An den Orten, die ich besuchte, findet dieser Austausch nicht statt: Man bleibt unter sich, schmort im eigenen Saft. Angst und Vorurteile, das wissen Wahlforscher seit Jahrzehnten, sind häufig ein paar Straßen weiter zu Hause. Wer ihn noch nicht erlebt hat, den peinigt die Aversion gegen den sozialen Abstieg in seinem Quartier. Wer dagegen ausländische Nachbarn hat, der fürchtet sich nicht vor Fremden. Mehr als früher braucht der unzufriedene Stadtbewohner einen Feind, dem er lautstark seinen Ärger in die Schuhe schieben kann.

Vor einem Jahr während des letzten Gaza-Krieges schrien jugendliche Demonstranten, sie würden Juden hassen. Dabei kennen sie nicht einen persönlich. Und entdecken sie zufällig einen unter den Passanten, dann werden sie schon mal gewalttätig - gegen einen Menschen, der nicht für sie verantwortlich ist. Sie diskriminieren rücksichtlos, weil sie sich selbst diskriminiert fühlen. Mein Fazit: Der modernen Stadtgesellschaft ist die Solidarität abhandengekommen, auf welche die alte Arbeiterbewegung so stolz war. Dafür scheinen Milieus zu vielfältig, geistig und kulturell zu weit voneinander entfernt. Scheinen!

Denn wo Vielfalt, wo Unterschiede in Lebensentwürfen und Identitäten als gemeinsame Stärke begriffen werden, wo auseinandergesetzt und gestritten wird, ohne den Respekt voreinander zu verlieren, kann durchaus Zusammenhalt entstehen, ein Selbstbewusstsein, Bewohner ein und derselben Stadt zu sein. Das ist kein Traum, das ist eine Aufgabe!

An den Stammtischen östlich von Berlin-Mitte, hat man sich schon längst verabschiedet von den Formalitäten bundesrepublikanischer Gegebenheiten. Neben einem gravierenden Hass auf alle Ausländer war auch eine Ablehnung gegen Westdeutsche nicht zu überhören. Sicher, Ausländerfeindlichkeit gibt es auch im alten Westen, hier trat er aber roher auf, flankiert von einer Sehnsucht nach Gestern, nicht selten auch nach Vorgestern. Ein Integrationsproblem von dem niemand spricht.

Sicher, die Menschen, mit denen ich sprach, vertreten nicht den Durchschnitt der Bevölkerung, dafür waren Orte und Gesprächspartner zu gezielt ausgesucht. Um eine verschwindend geringe Minderheit handelt es sich aber auch nicht. Um nicht irgendwann mit unangenehmen, gar gefährlichen Entwicklungen konfrontiert zu werden, ist es notwendig, diese Quartiere und ihre Menschen zurück ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu holen.

Am Ende meiner Expedition entdeckte ich in Berlin-Lichtenberg ein mexikanisches Restaurant. Den Inhaber, ein junger Mann bengalischer Herkunft, kannte ich von früher, als wir in Berlin-Wilmersdorf quasi Nachbarn waren. Er war erstaunt, mich dort anzutreffen, erzählte mir dann, dass er das Restaurant seit 3 Jahren betreibt." Weißt Du, anfangs hatte ich bedenken, Du kennst ja die Vorurteile mit dem Osten und Rassismus! Deshalb habe ich hier auch ein mexikanisches Restaurant eröffnet, kein indisches. Aber, ich sage Dir eines. Wenn man mit den Menschen hier ins Gespräch kommt, dann schließen sie Dich ins Herz. Meiner Meinung nach sind die Menschen hier ehrlicher als im Westen!"

Er stellte mir zwei seiner Stammgäste vor, zwei Handwerker, die früher für die NPD-Plakate klebten. Die beiden jungen Männer berichteten mir, seit sie den bengalischen Restaurantbetreiber kennen, sei es vorbei mit der NPD. "Wenn Du hier aufwächst, dann bist Du automatisch rechts. Aber mit der Zeit, wenn Du die Welt kennenlernst, dann lässt das schnell nach!"

Als ich mich von meinen beiden Gesprächspartnern verabschiedete, bedankten diese sich für das Gespräch. "Daran mangelt es doch, an guten Gesprächen, an Kommunikation, an einem Austausch, an neuen Ideen", gab einer der beiden Ex-NPD-Aktivisten abschließend zu bedenken. Auf dem Rückweg zur S-Bahn traf ich noch einmal Ronko. Statt eines Bieres trank er jetzt Tee. "Weeßte, mit dem Liberalismus und der Demokratie kann ick heute immer noch nichts anfangen, wa. Aber, ick habe jetzt ne janz neue Weltanschauung. Ick bin gestern zum Islam konvertiert!"