Ein Jahr später: Warum ist der Nord-Stream-Anschlag immer noch ein Rätsel?
Seite 2: Wenn nur eine Blamage zu erwarten ist
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Wie weit die Kette nach oben geht, weiß noch niemand, oder ob andere staatliche Akteure beteiligt gewesen sind. Nach Bekanntwerden der CIA-Leaks wies Selenskyj die Vorwürfe vehement zurück.
Ich bin Präsident und gebe dementsprechend meine Befehle. Die Ukraine hat nichts dergleichen getan.
Aber das Geheimnis bleibt bestehen, und es scheint – abgesehen von der intensiven Berichterstattung des Spiegels – keine Dringlichkeit zu geben, das Thema weiter voranzutreiben, zumindest in der US-Presse. Das liegt wahrscheinlich daran, dass, wie Lieven und andere sagen, dadurch kein politischer Vorteil zu erwarten ist, sondern nur eine Blamage, wenn die USA hinter dem Angriff stecken sollten, wie Hersh behauptet, oder die Ukraine, wie die deutsche Untersuchung zu enthüllen scheint.
Der russische Präsident Putin seinerseits hält die USA und nicht die Ukraine für den Schuldigen. Andere, darunter der deutsche Verteidigungsminister, haben die Kiewer Theorie als "Falsche-Flagge"-Beschuldigung bezeichnet, um die Ukraine verantwortlich zu machen.
"Es erscheint sehr seltsam", dass die Nato-Regierungen mit ihren massiven nachrichtendienstlichen Fähigkeiten – insbesondere Washingtons globaler Reichweite – "nicht in der Lage zu sein scheinen, der Sache auf den Grund zu gehen", so der Jacobin-Reporter Branko Marcetic gegenüber Responsible Statecraft.
Aber noch merkwürdiger ist das scheinbare Desinteresse und die fehlende Diskussion der verschiedenen Medien und Politiker dieser Länder bei einem Angriff, der einen wichtigen Teil der Infrastruktur eines Nato-Verbündeten zerstört hat.
Um fair zu sein, wie Der Spiegel anmerkt, können die deutschen Ermittler "keine Untersuchungen in der Ukraine durchführen, und es ist nicht zu erwarten, dass Kiew viel Unterstützung leisten wird. Die deutschen Behörden haben auch davor zurückgeschreckt, ein Rechtshilfeersuchen an die Ukraine zu stellen, weil sie dafür ihr Wissen preisgeben müssten."
Wer profitiert von der dauerhaften Abschaltung von Nord Stream 1 (die EU importierte 35 Prozent ihres Erdgases über diese Pipeline, bis sie nach der Invasion abgeschaltet wurde) und von der Tatsache, dass Nord Stream 2 nie in Betrieb genommen wurde (was die USA geschworen hatten, dass es nie passieren würde)?
"Die Vereinigten Staaten haben ohne Frage (davon) profitiert", so Lieven.
Sie haben es Deutschland sehr viel schwerer gemacht, jemals wieder eine intensive Energiebeziehung mit Russland einzugehen. Deutschland und andere europäische Länder sind nun noch abhängiger von Flüssiggasimporten aus den Vereinigten Staaten.
Die Nord-Stream-Pipeline, die von Russland nach Deutschland führt, gehört mehrheitlich (51 Prozent) der russischen Gazprom, zusammen mit deutschen, niederländischen und französischen Anteilseignern. Nach Angaben der Energy Information Association wurde Europa im Jahr 2022 mit einem Anteil von 64 Prozent an den Gesamtexporten zum wichtigsten Abnehmer für LNG-Exporte aus den USA. Auf vier Länder – Frankreich, Großbritannien, Spanien und die Niederlande – entfielen zusammen 74 Prozent dieser Exporte.
Neben den USA erhält Deutschland auch Gaslieferungen aus Norwegen und den Golfstaaten. Inzwischen hat die Abkehr des Westens von der russischen Energieversorgung jenseits der Abkopplung von den Nord-Stream-Pipelines der deutschen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt.
Aber die Flut von Reaktionen nach dem Anschlag vom 26. September gab Russland die Schuld, weil Moskau, wie es hieß, den Westen in Angst und Schrecken versetzen will. Präsident Putin habe es getan, weil Moskau "Energie als Waffe einsetzt" und "verzweifelt" ist. Nichts von alledem wurde zurückgenommen, und da sich niemand wirklich mit den tatsächlichen Ereignissen befasst, hat auch niemand das Bedürfnis dazu.
Tatsächlich erwähnt die Washington Post in ihren eigenen Erinnerungen an den Jahrestag kaum, dass dieses Narrativ noch einen Monat nach den Explosionen wiederholt wurde.
"Ob das die ganze Geschichte ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer sagen", erklärt Marcetic und verweist auf die ukrainische Verbindung.
Aber die Tatsache, dass ein Staat, der von der Nato militärische und finanzielle Unterstützung in noch nie dagewesenem Umfang erhält, beschuldigt wird, einen Anschlag auf einen Nato-Verbündeten verübt zu haben, ist natürlich bedeutsam. Dennoch ist es ein weiteres Ereignis, das viele offensichtlich lieber nicht diskutieren oder anerkennen möchten, selbst wenn es sich direkt auf brennende Fragen wie den möglichen Beitritt der Ukraine zum Bündnis bezieht.
Das Rätsel bleibt, wie man so schön sagt, ungelöst.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.