Ein Journalismus, nahe an der Grenze zur Manipulation

Seite 5: Der publizistische Todesstoß

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Mit dem Vortrag des umstrittenen Schweizer Historikers Daniele Ganser wollte die Universität Witten/Herdecke die Freiheit der Lehre und der Forschung hochhalten. Doch nach Ansicht von Beobachtern konnte der 43-Jährige den Anforderungen an wissenschaftliche Vorträge nicht gerecht werden. Seine Kritiker wurden allerdings ausgebuht.

WAZ-Artikel

Nun taucht der Begriff umstrittenen bereits zum dritten Mal auf. Wurde bei der zweiten Verwendung des Begriffs in dem Artikel noch wohlwollend angemerkt, dass es sich hierbei schlicht um einen stilistischen Fehler/handwerkliche Schwächen handeln könnte, drängt sich nun doch sehr der Verdacht auf das hier nach dem Motto vorgegangen wird: Was oft genug wiederholt wird, setzt sich irgendwann auch beim Rezipienten im Kopf fest. Anhand des Artikels kann die Analyse zwar nicht abschließend klären, ob es sich hier weiter nur um eine "stilistische Schwäche" handelt, aber: Das dreimalige Wiederholen des Begriffs kurz aufeinander ist sehr auffallend.

Nach all dem, was der Artikel bisher an negativer Kontextualisierung geleistet hat (in gerade mal 10 Zeilen, inklusive der Überschrift) erfolgt nun eine Art publizistischer "Todesstoß".

Ganser, der Historiker, der Wissenschaftler, der immer wieder Vorträge vor mehreren hundert Zuhörern hält, der auf Universitäten referiert, der eine Doktorarbeit geschrieben hat, der seit Jahren in der Forschung tätig ist, soll tatsächlich nicht den Anforderungen an wissenschaftliche Vorträge gerecht werden?

Die Aussage, wonach Ganser "unwissenschaftlich" vorträgt, ist von gewaltiger Tragweite. Sie kann die Reputation eines Wissenschaftlers schwer in Mitleidenschaft ziehen. Was rechtfertigt solch ein Verdikt? Der Artikel baut auf eine "Ansicht von Beobachtern".

An dieser Stelle wäre es - darauf wurde bereits hingewiesen - zwingend notwendig, dass "die Beobachter" mit Namen angeführt werden und der Behauptung unmittelbar Argumente folgen. Der Verweis auf die beiden "Gastkommentare" der Professoren unten auf der Zeitungsseite erfolgt erst sehr spät in dem Artikel, außerdem, wie bereits erwähnt, wurde der online abrufbare Artikel zunächst nur ohne Verweis auf die Kommentare veröffentlicht. Die Leser mussten auf "anonyme Quellen" vertrauen.

Zur Auseinandersetzung mit der Aussage, wonach Gansers Vortrag nicht wissenschaftlichen Standards genüge, darf die Logik bemüht werden.

Wenn es so sein sollte, dass Gansers Vortrag tatsächlich wissenschaftlichen Standards nicht genügt, dann würde das zugleich bedeuten, dass nahezu 500 Besucher (die "kritischen Professoren" einmal außen vor gelassen), von denen viele (so ist zu vermuten) selbst aus dem wissenschaftlichen Umfeld kommen (Studenten, Lehrende), einem Referenten applaudieren, der den Applaus nicht verdient hat. Die Aussage impliziert weiter, dass auch die Dozenten, die Ganser eingeladen haben (und sich gewiss über seine Vorträge im Vorfeld informiert haben dürften) wohl unter einer sehr eigenwilligen Wahrnehmung der Realität leiden müssten.

Man kommuniziert implizit, so kann man es deuten, dass Wissenschaftler, die einen anderen Wissenschaftskollegen zu einem Vortrag eingeladen haben, nicht erkennen, dass sein Vortrag unwissenschaftlich ist oder, noch schlimmer, vielleicht sogar bewusst der Unwissenschaftlichkeit Vorschub leisten.

Rund 500 Menschen kamen zu seinem Vortrag "Fakten, Meinungen, Propaganda - Wie mache ich mir selbst ein Bild?" . Ganser präsentierte sich als geschickter Rhetoriker.

WAZ-Artikel

Wieder vermischen sich objektive Elemente, die in einem Zeitungsbericht erwartet werden, mit subjektiven Zuschreibungen. Die Angabe "500 Menschen" und das Anführen des Titels von Gansers Vortrag, verweisen auf einen nachrichtlichen Artikel.

Auf diesen von Sachlichkeit geprägten Satz, folgt wieder eine subjektive Beschreibung, die auf Gansers Verhalten fokussiert. Ganser präsentierte sich, heißt es in dem Artikel. Auch in diesem so harmlos klingenden Satz schwingt ein unterschwelliger Angriff mit.

Wenn davon die Rede ist, dass sich jemand präsentiert, dann ist das oft mit einem negativen Einschlag versehen. Ein Selbstdarsteller präsentiert sich. Einer der Aufmerksamkeit möchte. Einer der sich in Szene setzen möchte.

Eine positive Lesart (im Sinne von: Wie bei einem Vorstellungsgespräch/Job Interview sich eben gut zu präsentieren, sich gut zu verkaufen) wäre auch möglich, darf aber im Hinblick auf den bisherigen Textverlauf und vor allem im Hinblick auf die sich anschließende zweite Teilaussage des Satzes ausgeschlossen werden.

Ganser, so erfahren wir, "präsentierte" sich "als geschickter Rhetoriker". Zwar wäre auch hier eine positive Lesart möglich. Ein geschickter Rhetoriker zu sein kann sicherlich auch als positive Eigenschaft betrachtet werden (wie die Fähigkeit, sich präsentieren zu können). Aber: So wie Ganser bisher dargestellt wurde, ist nicht davon auszugehen, dass es sich bei den beiden Aussagen um Komplimente handelt.

Ein "umstrittener Historiker", der eine "Bühne nutzt" und "einem dankbaren Publikum" gegenübersteht, bedient sich natürlich einer "geschickten Rhetorik" nur, um seine Irrlehre bestehend aus verdrehten Fakten, schrägen Ansichten, Halbwahrheiten und Unsachlichkeiten zu verbreiten. Die Aussage "präsentierte sich" korrespondiert nahtlos mit dem Lead wo es heißt, dass er "die Bühne nutzte". Sie sind inhaltlich fast identisch. Wieder wird das Stilmittel der Wiederholung sichtbar, wodurch Ganser weiter in ein schlechtes Licht gerückt wird.

Der Zeithistoriker wusste genau um die scharfe Gratwanderung zwischen kritischen Fragen, die er stellte, und den in der Wissenschaft als unhaltbar geltenden "Verschwörungstheorien", denen eine bestimmte politische Weltanschauung oder Ideologie anhaftet.

WAZ-Artikel

Zunächst das Offensichtliche: Die Verfasserin muss über die begnadete Gabe verfügen zu wissen, was in einem Menschen vorgeht. Sie weiß, dass Ganser wusste. Das ist bemerkenswert. Nun mag man einwenden, dass eine geschickte Beobachtungsgabe durchaus einer Journalistin, die über eine Veranstaltung berichten soll, einen gewissen Zugang zum möglichen Innenleben des Vortragenden gewährt. Gewiss. Nur: Die Gabe macht sich noch zwei weitere Male in dem Artikel bemerkbar. ("Daniele Ganser gab bei alledem den vordergründig um Deeskalation bemühten Redner", "Zum Schluss dankt ihm der scheinbar überrumpelte Kunsthistoriker David Hornemann von Laer...").

Folgt man dem Begriff Verschwörungstheorien in seiner negativen Konnotation, wäre es eigentlich anzuerkennen, dass ein Wissenschaftler auf einer Bühne vor einem großen Publikum nicht "kritische Fragen" mit "Verschwörungstheorien" vermischt.

Ganser leistet offensichtlich also genau das, was diejenigen, die Verschwörungstheorien "kritisch" betrachten, erwarten: eine Trennung zwischen Verschwörungstheorie und kritischen Fragen. Ganser wusste nun, meint die Autorin, und das auch noch genau (eine gewisse Arglist, schwingt in dem Wort mit, die Ganser unterschwellig zugeschrieben wird), um die scharfe Gratwanderung zwischen kritischen Fragen und Verschwörungstheorie.

Verdient diese Fähigkeit, sich auf dem schmalen Grat zwischen kritischen Fragen und Verschwörungstheorien zu bewegen, nicht der Anerkennung? Spricht diese Fähigkeit im Grunde genommen nicht für Ganser? Für seine Wissenschaftlichkeit?

Zumindest darf man das so sehen.

Der Artikel begreift das Verhalten Gansers aber auf eine andere Weise. Das Verhalten von Ganser, sich "genau" auf dem schmalen Grat zwischen kritischen Fragen und Verschwörungstheorien zu bewegen, wird wohl, so liegt es nahe, als besonders hinterhältiger Versuch des "umstrittenen Historikers" gewertet, seine "kruden" Ansichten unter die Menschen zu bringen.

Die Textstelle offenbart: Das "Urteil" über Ganser wurde wohl längst gefällt. Es spielt überhaupt gar keine Rolle, ob er nun "Verschwörungstheorien" vertritt, ein "Verschwörungstheoretiker" ist oder sich nur auf einem schmalen Grat zwischen kritischen Fragen und Verschwörungstheorien bewegt: Der Historiker ist und bleibt in der Wirklichkeit des Artikels ein umstrittener Typ.

Besonders schlimm ist der in diesem Satz zum Vorschein kommende Journalismus auch deshalb, weil er nicht berücksichtigt, dass eines von Gansers Forschungsgebieten die verdeckte Kriegsführung, die Tiefenpolitik ist. Ein Forschungsgebiet, das sich zwangsläufig auch auf die Ebene von Verschwörungstheorien einlassen muss.

Zeitlich passend zu dieser Analyse veröffentlichte Spiegel Online einen Artikel über die Ermordung des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini. Darin wird eine aktuelle Recherche des Buchautors David Grieco angeführt, der davon ausgeht, herausgefunden zu haben, wer Pasolini umgebracht hat. In dem Artikel heißt es:

Was wie ein wirrer Thriller klingt, ist in weiten Teilen belegt: 1990 bestätigte der damalige Regierungschef Andreotti öffentlich die Existenz der mit CIA-Hilfe gegründeten Organisation Gladio. Die Attentate jener Jahre, zitierte DER SPIEGEL das Fazit einer Untersuchungskommission des Senats im Jahr 2000, "wurden organisiert oder unterstützt von Personen in Institutionen des italienischen Staats und Männern, die mit dem amerikanischen Geheimdienst in Verbindung standen".

Und 2005 legte der Historiker Daniele Ganser eine umfassende Studie über die Verwicklungen von staatlichen Eliten, Terrorismus, Geheimdiensten und Geheimorganisationen im Westeuropa des Kalten Kriegs vor....Die wahren Hintermänner des Verbrechens sieht er in der Führungsriege Italiens, damals angeblich infiltriert vom US-Geheimdienst CIA, dem Nato-Netzwerk Gladio sowie der italienischen Freimaurerloge P2.

Der Spiegel

Warum nun der Verweis auf diesen Artikelauszug? Er soll verdeutlichen: Die Forschungsarbeit von Ganser ist nicht aus der Luft gegriffen. Und: Nach 40 Jahren besteht die Möglichkeit, dass ein (politischer) Mord an einem italienischen Regisseur auch auf das Konto von Gladio geht.

Einmal ganz allgemein gefragt: Wäre ein Journalismus, der sich so vehement gegen Verschwörungstheorien ausspricht, ein Journalismus, der einen Forscher, dessen Spezialgebiet die Geheimen Armeen der Nato sind, am liebsten wohl vollständig aus dem öffentlichen Diskurs verbannen möchte, in der Lage, sich auf journalistischer Ebene unbefangen mit diesem Verbrechen auseinanderzusetzen?