Ein Journalismus, nahe an der Grenze zur Manipulation

Seite 3: Zum mehrfach verwendeten Begriff "umstritten"

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Der umstrittene Schweizer Historiker Dr. Daniele Ganser hat vor 500 Zuhörern an der Uni gesprochen. Er nutzte die Bühne und das Publikum war dankbar.;;Lead des Artikels

Der Leser wird mit einem hochproblematischen Einstieg in den Artikel konfrontiert. Zunächst das Offensichtliche. Bereits zum zweiten Mal taucht der Begriff "umstritten" auf. Während dieser in der Überschrift sich noch auf den "Historiker-Vortrag" bezogen hat, wird er nun dem Vortragenden selbst zugeschrieben, bei dem es sich um den Schweizer Historiker Daniele Ganser handelt.

Vermutlich ginge es zu weit, wenn man hier eine bewusste, absichtliche Wiederholung erkennen würde mit dem Zweck, den Leser zu beeinflussen. Vielleicht wurde der Artikel unter Zeitdruck verfasst. Fest steht aber: Der Begriff findet erneut Verwendung - und natürlich entfaltet ein so stark belastender Begriff auch und insbesondere in der Wiederholung seine Wirkung. Gerade auch deshalb soll der Begriff "umstritten" genauer betrachtet werden.

Wer mit dem Label "umstritten" versehen wird, läuft rasch Gefahr, sich in einer Reihe mit Quacksalbern und Scharlatanen wiederzufinden. Ein alternativer Krebsmediziner, beispielsweise, dem zwar einige oder viele Patienten vertrauen, dem aber "die" Wissenschaft widerspricht, wird als umstritten bezeichnet - oft genug auch zu Recht.

Doch die Verwendung des Wortes "umstritten" ist nicht nur problematisch, weil es klassifiziert. Die Frage muss aufgeworfen werden: Auf welcher Basis lässt sich mit der Kraft des journalistischen Berichtes sagen, dass ein Wissenschaftler umstritten ist?

Ganser wurde von einigen Wissenschaftskollegen kritisch angegangen. Im Internet finden sich kritische Anmerkungen zu Ganser. Im Vorfeld des Vortrages hat sich "ein Bündnis" in einem offenen Brief gegen den Auftritt des Historikers ausgesprochen.

Reicht diese Basis aus, um einen Vortrag und einen Vortragenden als "umstritten" zu bezeichnen? Auf welcher Basis sollte eine Aussage wie die, dass die Arbeit eines Forschers umstritten ist, stehen? Spielen hier Quantitäten eine Rolle? Ist es die Qualität der Kritik, die einen Journalisten in einem Artikel die Klassifizierung "Umstrittener" benutzen lässt? Oder sind es beide Faktoren? Wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen einen Historiker als umstritten bezeichnet und wenn eine fundierte Kritik an dessen Arbeit auszumachen ist, dann darf man ihn wohl als umstritten bezeichnen.

Aber ist das hier überhaupt der Fall? Wie hoch ist die Zahl der Kritisierenden? Wie fundiert ist ihre Kritik? Wird die Kritik jener Kritik gerecht, die ein Historiker, der über einen Doktortitel verfügt und als Wissenschaftler arbeitet, erwarten darf?

Einmal angenommen, die Anzahl der Personen, die Ganser kritisieren, genauso wie deren Kritik reichen aus, um als Journalist ruhigen Gewissens schreiben zu können: Diese Person ist umstritten. Würde es dann immer noch etwas auszusetzen geben an der Verwendung des Wortes umstritten?

Ja.

Nehmen wir einmal an, der Bundespräsident käme an die Uni in Witten. Ist der Bundespräsident umstritten? Natürlich.

Der Vorschlag, Joachim Gauck als Bundespräsident anzuführen, wurde kritisiert. Im Vorfeld der Ernennung und der Wahl gab es Stimmen, die Gauck als Bundespräsident ablehnten. Auch in seiner Amtszeit gibt es Menschen, die mit Gauck als Bundespräsident nicht zufrieden sind - auch Gauck ist: umstritten. Auch Merkel ist umstritten. Obama ist umstritten. Putin ist erst recht: umstritten. Viele Politiker und viele Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind: umstritten. Sie haben Anhänger, sie haben Gegner, Bewunderer und Kritiker.

Auch wenn dies nur eine Vermutung ist: Es darf Zweifel daran angemeldet werden, dass die Westdeutsche Allgemeine Zeitung bzw. das Portal Der Westen beim Auftritt des Bundespräsidenten an der Uni in Witten titeln würde: Umstrittener Bundespräsident hält Vortrag. Warum?

Um diese Frage zu beantworten, muss das Wort umstritten noch etwas näher beleuchtet werden. Dass, wie gerade angesprochen, ein Bundespräsident, Politiker, ja allgemein Menschen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen, häufig umstritten sind, ist eine triviale Erkenntnis. Gerade weil diese Menschen oft umstritten sind, ist es aus journalistischer Sicht durchaus nachzuvollziehen, dass man dieses "Umstrittensein" nicht bei jeder Auseinandersetzung mit einem Politiker etc. anführt. Aber warum gebraucht man das Wörtchen nun bei Ganser?

Wenn Ganser umstritten ist, aber auch ein Bundespräsident etc. umstritten ist, weshalb betont man bei dem Schweizer Forscher dieses "Umstrittensein", während man dies bei Gauck vermutlich nicht tun würde?

Bei Ganser, so darf man schlussfolgern, geht es nicht nur um ein einfaches, allgemeines Umstrittensein. Ganser muss irgendwie auf eine besondere Weise "umstritten" sein. Denken wir noch einmal zurück: Das Wörtchen umstritten findet häufig Anwendung bei einer Auseinandersetzung mit Quacksalbern und Scharlatanen.

Ein erster Verdacht drängt sich auf: Dass in der Überschrift und im Vorspann des Artikels das Wörtchen "Umstrittener" bzw. "Der umstrittene..." verwendet wird, lässt vermuten, dass man Ganser wie folgt wahrnimmt: Als einen "schrägen Vogel", vor dem man die Leserschaft warnen muss.

Am Rande sei erwähnt: Das Wort "umstritten" würde es verdienen, im Rahmen einer eigenen Untersuchung im Kontext seiner Verwendung in den Medien genauer betrachtet zu werden. Oft wird es gebraucht, wenn Journalisten in ihrer Berichterstattung über eine Person auch ihre persönliche Antipathien zum Ausdruck bringen wollen. Ein Journalismus, der sich auf die Kraft des Faktischen stützen kann, braucht sich der Zuschreibung "umstritten" nicht zu bedienen. Er kann aufzeigen, warum jemand "umstritten" ist (und lässt dann dem Leser, Zuschauer etc. selbst entscheiden, ob dieser das auch so sieht, ob er die Person, über die berichtet wird, als "umstritten" betrachtet). Es sei denn, man hält den Mediennutzer für so beschränkt, dass er nur versteht, wenn man ihm mit klassifizierenden Adjektiven den Weg weist.

Eine altbekannte Methode kommt zum Vorschein. Durch den Akt der Klassifizierung wird die Wirklichkeit so geformt, wie sie der Klassifizierende sehen möchte. Umstritten ist dann mitunter nicht mehr nur der, der tatsächlich umstritten ist, sondern derjenige, der von Medien häufig genug als umstritten bezeichnet wird - aus fragwürdigen Gründen.

"Er nutzte die Bühne und das Publikum war dankbar"

Hochproblematisch ist der erste Satz des Leads nicht nur wegen des Begriffs "umstritten". Im Lead verbindet sich ein wertendes mit sachlichen Elementen. Objektiv richtig ist: Ganser ist Historiker, er verfügt über einen Doktortitel und er hat vor 500 Zuhörern an der Uni gesprochen. Ob Ganser nun umstritten ist, darüber darf man geteilter Ansicht sein. Aber darauf wurde bereits verwiesen. Doch der erste Satz ist im Vergleich zu dem Folgenden geradezu noch "harmlos"

Er nutzte die Bühne und das Publikum war dankbar.

Waz-Artikel

Man muss sich diesen Satz in aller Ruhe anschauen, um zu erkennen, mit welch journalistischer Gewalt hier ein negativer Kontext aufgebaut wird.

"Er nutzte die Bühne", heißt es in dem Artikel. Vier einfache Wörter. Und doch kommunizieren sie ein ganzes Bündel an wertenden konnotativen Einlagerungen.

Da ist er also, dieser Vortragende, der doch tatsächlich das tut, was ein Vortragender tun sollte: die Bühne zu nutzen. Es ist sein Auftritt. Welcher Vortragende möchte nicht die ihm zur Verfügung gestellte Bühne nutzen? Nutzt ein Horst Seehofer nicht die Bühne? Nutzt Barack Obama nicht die Bühne? Ähnlich wie in der Überschrift im Zusammenhang mit dem Wort "umstritten", wird hier etwas impliziert, nämlich das Ganser eben nicht die Bühne wie ein "normaler" Vortragender nutzt. So wie Ganser kein "normaler" Umstrittener ist, so ist er auch kein normaler Vortragender. Was heißt das?

Ganser nutzt die Bühne, um das Publikum zu manipulieren. Ganser nutzt die Bühne, um steile Thesen zu verbreiten. Ganser nutzt die Bühne, um sich als "one man show" zu verkaufen. Genau das ist es, was dieser scheinbar so einfache Satz auf der impliziten Ebene wohl kommuniziert. Ganser wird, so darf man den Subtext lesen, als eine Art "Demagoge" wahrgenommen.

Zum zweiten Teil des Satzes:

"...und das Publikum war dankbar."

WAZ-Artikel

Und wieder wird das Publikum in dem Artikel "durchgeschüttelt". Ein Publikum wird gezeichnet, dass es wagt, "kritische Professoren" auszubuhen und das gleichzeitig einem "Verführer" der die Bühne nutzt, "dankbar" ist.

Alleine Überschrift und Lead lassen erahnen, dass mit diesem Bericht den Lesern kein Journalismus geboten wird, der informieren will. Man schießt sich, so entsteht der Eindruck, regelrecht auf Ganser mit Worten ein.