Ein Lehrstück in Sachen Meinungsfreiheit
Italiens Staatsanwaltschaft sperrte einen kompletten Server
Nicht nur in Deutschland, auch in Italien greifen die Staatsanwaltschaften jetzt mit unverhältnismäßigen Maßnahmen gegen Provider durch. Damit schufen sie beinahe einen italienischen Präzedenzfall in Sachen Redefreiheit im Netz.
Vom 27. Juni bis zum 6. Juli war die italienische Internet-Adresse www.ecn.org im Netz nicht mehr zu erreichen. Kein Festplattencrash, keine Wartungsarbeiten hatten zu dem Ausfall geführt, sondern das Eingreifen der Strafverfolger: Die Polizei in Bologna beschlagnahmte den Server auf Anweisung der Staatsanwaltschaft. Angeblich seien von dem Server "üble Nachreden" gegen ein türkisches Reisebüro namens "Viaggi Turban" verbreitet worden. Verantwortlich dafür sei der Verein "isole nella rete" (Inseln im Netz), der den Rechner betreibt.
Das Vorgehen der Strafverfolger glich dem des berühmten Elefanten im Porzellanladen. Anstatt für die Entfernung der "üblen Nachreden" zu sorgen, ließ Staatsanwalt Paolo Pecori gleich den kompletten Server sperren. Bereits im Januar hatte er die Verbreitung eines entsprechenden Flugblattes untersagt. Jetzt betraf jedoch seine Entscheidung nicht nur ein einzelnes Flugblatt: Nach Angaben von Sandro Moretti, Vorsitzender von "isole nella rete" waren mehrere Mailinglisten, Websites und Tausende von privaten E-Mail-Adressen neun Tage lang außer Funktion, 120 nicht-kommerzielle Gruppen und Kulturzentren verloren während der Aktion ihre Heimat im Internet.
"Isole nella rete" ist eine nicht-kommerzielle Organisation, die linken Gruppen einen Zugang zum Netz zur Verfügung stellt. Als Mitglied des 1989 gegründeten italienischen Verbandes "European Counter Network" nutzt der Provider das Internet zur Herstellung einer linken Gegenöffentlichkeit. In einer mehrsprachig veröffentlichten Erklärung hieß es, mit der "völlig unangebrachten" Polizeimaßnahme werde das "dichte Netz der Solidarität" bedroht. Innerhalb einer Newsgroup war ein zuvor auf traditionellen Wegen verteiltes Flugblatt einer Gruppe aus Viacenza veröffentlicht worden, das sich kritisch über ein Reisebüro äußerte. Der Provider jedoch erklärte, der Boykottaufruf richte sich gegen die Eigentümer des Reisebüros. Nach Angaben einer kurdischen Menschenrechtsgruppe gehörte das Geschäft der Familie der ehemaligen türkischen Premierministerin, Tansu Ciller. Die Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft dienten dazu, eine Kampagne der türkischen Regierung gegen die kurdische Volksgruppe zu unterstützen. Der Geschäftsführer des Reisebüros, Giap Bidone, legte Beschwerde gegen die Internetveröffentlichung ein.
Zahlreiche Einzelpersonen und Gruppen protestierten im In- und Ausland gegen diesen "absurden" Vorgang. Mehrere internationale Zeitungen, darunter die "Washington Post", berichteten über den Vorgang. Für sie war der ganze Vorgang ein "Lehrstück" in Sachen Meinungsfreiheit. Es kam, wie es kommen mußte: Die Konsequenz der polizeilichen Aktion bestand nicht darin, ein vermutlich illegales Papier aus dem Verkehr zu ziehen, sondern - wie es im Netz nun einmal üblich ist - in der vielfachen Verbreitung des inkriminierten Papiers. Innerhalb weniger Tage wurde die Website von "isole nella rete" auf rund fünfzig Rechnern gespiegelt - nicht nur in Italien, sondern weltweit.
Das Gericht in Vicenza widerrief schließlich seine Entscheidung mit der Begründung, es mache wenig Sinn, die geltenden Gesetze auf das schnellwachsende Medium Internet zu übertragen. Die Provider stimmten im Gegenzug dem Gericht zu, das elektronische Flugblatt von ihrem Rechner zu entfernen. Nach Ansicht von Beobachtern könnte dieser Vorgang jetzt zu einer beschleunigten Anpassung der italienischen Rechtslage an die neuen medialen Gegebenheiten führen.