Ein Nein zur EU-Verfassung ist in Frankreich wahrscheinlich
Der Ausgang des Volksentscheids am Sonntag könnte einen Dominoeffekt auslösen, auch die Holländer sind überwiegend gegen die Verfassung
Neueste Umfragen in Frankreich sehen ein Nein zum europäischen Staatsvertrag beim Referendum am Sonntag vor. Ähnlich sieht es auch in den Niederlanden für die Abstimmung am 1. Juni aus. An der Ablehnung ändern die unausgewogenen Medienkampagnen für ein "Ja" nichts. Journalisten verfassten ein Manifest gegen die "Desinformation", zu der sie selbst beigetragen hätten. Ein "Nein" in Frankreich, den Niederlanden oder in beiden Ländern könnte einen Dominoeffekt bei den folgenden Referenden haben, den man sich von Pseudo-Ja bei der ersten Abstimmung in Spanien erhofft hatte.
Da hatten Politiker in ganz Europa aufgeatmet, als die Meinungsumfragen in Frankreich erstmals wieder ein knappes "Ja" zu dem Staatsvertrag vorausgesagt hatten. Denn ab März hatte sich die Nein-Kampagne in Frankreich zu einer Volksbewegung entwickelt, die eng an die Proteste gegen unpopuläre Maßnahmen der Regierung von Jean-Pierre Raffarin gekoppelt waren (Frankreich vor dem Nein zur Europäischen Verfassung?).
Mit der Abkühlung der Proteste Anfang Mai ergab sich ein leichter Umschwung. Gut dokumentiert dies das Meinungsforschungsinstitut Ipsos, in einer Zusammenstellung der Umfragen. Aber seit Pfingsten ist Schluss mit lustig. Seither überwiegt das "Nein" und eine Zunahme der Ablehnung wird durch neue Umfragen von Ipsos und CSA bestätigt. Demnach wollen 53 Prozent der Franzosen, die sich bisher eine Meinung gebildet haben, die Verfassung ablehnen. Aber, darauf beruht die Hoffnung der Ja-Sager, ein Viertel der Wähler habe sich noch nicht entschieden.
Vor allem der Widerstand gegen die Abschaffung des Pfingstmontags als Feiertag spiegelt sich in dem Umschwung wieder. Die Einnahmen aus dem unbezahlten Arbeitstag sollen neun Milliarden Euro einbringen, um damit bessere Bedingungen in der Altenpflege zu finanzieren. Kritisiert wird, die Finanzierung werde ganz auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen, und dies bei sinkender Kaufkraft und zunehmender Arbeitslosigkeit. Diese Entwicklungen, so befürchten viele, würden mit der "neoliberalen Verfassung" vorangetrieben. Geglückt ist es der Regierung nicht, mit drastischen Maßnahmen gegen so genannte illegale Einwanderer die Ängste vor "Überfremdung" zu besänftigten. Die extreme Rechten wirbt damit für ein "Nein" und führt den möglichen Beitritt der Türkei zur EU an (Europa rüstet auf gegen Einwanderer).
Die konservative Regierung und ein Teil der gespalteten Sozialisten richten ihre Propaganda nun auf die Unentschlossenen. Eine Art "Bombardement" geht auf die Wähler nieder, um noch ein "Ja" zu erreichen. Heute wird sich Präsident Jacques Chirac erneut im Fernsehen auftreten und sich direkt an Unentschlossenen wenden. Auch wegen solcher Auftritte haben Journalisten aus öffentlich rechtlichen Medien ein Manifest verfasst. Fast 20.000 Menschen haben es bisher unterzeichnet:
In unserer Eigenschaft als Journalisten können wir nicht länger die einseitige Unterstützung der Kampagne für das Referendum am 29. Mai 2005 auf unseren Sendern ignorieren, angesichts des Mangels an Objektivität und der Dauerberieselung für das OUI.
Die Unterzeichner beklagen, dass so der gesamte Berufstand diskreditiert werde.
Wir fordern deshalb eine ausgewogene Berichterstattung. Das NON muss ab heute vollständig in den Medien wiedergegeben werden.
Bisher wurden etwa 29 % Sendungen zugunsten des Nein ausgestrahlt und 71 % für das Ja.
Wir prangern das Abdriften an, dem wir selbst mit der Ausstrahlung der Ansprache des Präsidenten der Republik auf TF1 zugearbeitet haben. Ihm wurden zwei volle Stunden gegeben, die er nutzte, um das OUI zu verteidigen.
Die Abwesenheit von Pluralismus trage zur "Desinformation" bei. Beklagt wird auch das weitgehende Schweigen des Aufsichtsrats der Audiovisuellen Medien (CSA). Die als regierungsnah geltende Institution sah sich wegen des deutlichen Ungleichgewichts aber gezwungen, einige Rügen auszusprechen. So stellte sie "Unterrepräsentierung" von Vertretern des "Nein" bei allen großen Fernseh- und Radioanstalten fest". Positiv könne jedoch bemerkt werden, dass dem zuvor vorher bemängelten Ungleichgewicht, bezogen auf die Richtlinien vom 22. März 2005, abgeholfen wurde.
Ob das Schaulaufen europäischer Politiker dem "Ja" nutzt, ist fraglich. Dafür will Gerhard Schröder am Freitag in Frankreich werben. Doch er habe seine Bevölkerung nicht entscheiden lassen (Abstimmung ohne Überraschungen), bezeichnete die Tageszeitung Humanité den Vorgang als "pikant". So dürften sich eher die Nein-Sager bestätigt fühlen, da Schröder gerade für seine Politik abgestraft wurde (Wunsch nach Veränderung). Warum sollte nicht über einen derartig weitgehenden Vertrag neu diskutiert werden können, wenn Schröder wegen einer Regionalwahl sogar seine Regierung zur Disposition stellt?
Ähnlich durchschlagende Wirkung dürfte das Werben des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barrosos hinterlassen. Der Verfechter des Irak-Kriegs ist wenig beliebt und musste sich just gestern wegen einer möglichen Korruptionsaffäre vor dem EU-Parlament verantworten. Es kommt nicht gut an, den Urlaub auf der Yacht des befreundeten Reeders Spiro Latsis zu verbringen. Dass die Firma des griechischen Milliardärs später bei Entscheidungen über Finanzbeihilfen begünstigt wurde, wie diverse Abgeordnete sagen, hinterlässt keinen guten Eindruck.
Mit Schröder wird zum zweiten Mal der spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero auftreten. Auch der glänzte nicht durch Ausgewogenheit. In spanischen Medien kamen die Verfassungsgegner praktisch nicht vor. Zapatero warb ständig für ein "Ja", obwohl das verboten war und vom Wahlrat mehrfach untersagt wurde (Abstimmung über EU-Verfassung auf spanisch). Im spanischen Staat hat die Mehrheit das Referendum schlicht mit Missachtung gestraft (Spanien ist eher gleichgültig).
Sollte die Gegner in Frankreich gewinnen, dürfte das Nein in den Niederlanden gewiss sein und auf die folgenden sieben Abstimmungen wie ein Dominoeffekt wirken. Auch in Holland sagen die Umfragen eine deutliche Ablehnung am nächsten Mittwoch voraus. Trotz der massiven Medienkampagne gelingt es der Regierung nicht, das Blatt zu wenden. Bis zu 63 % Ablehnung werden bei Umfragen ermittelt. Eine neue Umfrage für die Nachrichtenagentur GPD sagt 51 % Nein-Stimmen bei 29 % Ja voraus. Der Rest sei noch unentschlossen. Die Einführung des Euro, ein Beitritt der Türkei zur EU und ein Denkzettel für die konservative Regierung unter Jan Peter Balkenende werden als wichtigste Gründe für das "Nein" genannt.
In Den Haag wird derweil an einem Krisenszenario gestrickt. Wie in Spanien ist das Referendum dort nur konsultativ, allerdings hatte die Regierung bisher versichert, das Votum zu akzeptieren. Zwei Regierungsparteien haben nun die Hintertür geöffnet. Bei einer Beteiligung unter 30 Prozent fühlten sie sich nicht mehr an den Wählerwillen gebunden. Balkenendes Christdemokraten wollen im Parlament nur gegen die Verfassung stimmen, wenn mehr als 60 Prozent der Wähler mit Nein votieren.