Ein Überlebensversuch: Die stille ukrainische Opposition
In der Ukraine fehlt zu einer wirklichen Demokratie eine einflussreiche Opposition
Spätestens seit den Morden an Oles Busina und Oleh Kalaschnikow (Mordanschläge gegen prorussischen Journalisten und Politiker in der Ukraine) ist die Reaktion der ukrainischen Opposition gefragt. Sie bleibt aber weitgehend still und versucht stattdessen, die aktuelle Krise politisch und wirtschaftlich zu überleben. Das gelingt nicht allen.
Boris Kolesnikow war einst der wichtigste Nebenmann im System Janukowitsch. Der 52-jährige Unternehmer war als stellvertretender Regierungschef und Infrastrukturminister vor allem für die Vorbereitung der Fußball-Europameisterschaft 2012 verantwortlich. Das große Staatsprojekt sollte das internationale Image der Ukraine verbessern. Doch in der regierungsbildenden Partei der Regionen, die immer aus unterschiedlichen Interessengruppen bestand, war der persönliche Janukowitsch-Vertraute Kolesnikow nie unumstritten. Nach der Parlamentswahl im Herbst 2012 verlor er nach einem internen Machtkampf seinen Regierungsposten.
Während seine Opponenten zusammen mit Janukowitsch, Asarow und anderen großen Figuren der alten Zeit nach Moskau flohen, leitete Kolesnikow am vergangenen Montag schon wieder eine Regierungssitzung. In Charkiw trafen sich die Mitglieder der Oppositionsregierung, die im März vom Oppositionsblock, der aktuell einzigen regierungskritischen Parlamentspartei, gebildet wurde. Diese Vereinigung, ursprünglich schon 2010 gegründet, wurde im letzten September erneut von vielen ehemaligen Mitgliedern der Partei der Regionen ins Leben gerufen.
Nach den Morden an Oleh Kalaschnikow und Oles Busina, die international für Schlagzeilen sorgten, wurde vom Chef der Oppositionsregierung ein starkes Statement erwartet. Denn die Stimmung, die zuletzt in der politischen Landschaft herrscht, ist alles andere als optimal. In diesem Jahr sind außer Kalaschnikow und Busina ungefähr zehn prominente Personen wie Mychajlo Tschetschetow, ehemaliger Abgeordneter der Partei der Regionen, und Olexandr Pekluschenko, Ex-Gouverneur von Saporischschja, ums Leben gekommen. Laut offizieller Angaben handelt es sich dabei meistens um Selbstmorde. Wenn es aber auf einmal so viele Todesfälle gibt, kommen am Suizid als Grund große Zweifel auf (Eine "Ukrainische Aufständische Armee" will für die Mordanschläge verantwortlich sein).
Doch anstatt mit einem Statement begann Kolesnikow, der die Toten persönlich kannte, seinen Auftritt überraschend mit einem Lob für die aktuelle Regierung. "Seit der Gründung der Oppositionsregierung fühlen die Machtinhaber die Konkurrenz - und arbeiten viel intensiver. Dies ist ein gutes Zeichen für die Gesellschaft", betonte der informelle Anführer des Oppositionsblockes in Charkiw.
Für die Partei ist Kolesnikow übrigens ein "Neuling": Vor einigen Monaten noch versuchte der gebürtige Mariupoler, die abstürzende Partei der Regionen aus der Krise zu retten. Doch spätestens seit dem Parlamentswahl-Verzicht im September 2014 wurde klar: Hier gibt es keine Zukunft mehr. Ende März ist er aus der früheren Janukowitsch-Partei endgültig ausgetreten und hat sich auf den Oppositionsblock komplett konzentriert.
Durch die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass verlor der Oppositionsblock viele Stammwähler
Heute kämpfen Kolesnikow und seine Kollegen in erster Linie um das politische Überleben. Klar positionieren konnte sich der Oppositionsblock bisher nicht. Man stellt sich zwar gegen die Politik der aktuellen Regierung und vor allem gegen das militärische Vorgehen im Donbass, gleichzeitig sind aber viele Themen, die früher Janukowitsch und seine Partei benutzt haben, einfach weg.
Eines der Themen ist die Freundschaft mit Russland: Unter den heutigen Umständen kommt man damit sogar in den früheren Stammregionen der Partei der Regionen wie Charkiw und Dnipropetrowsk nicht wirklich an. Deswegen sind auch die meisten Statements der Partei so unspektakulär. "Unser Ziel ist es, die Interessen der Menschen zu verteidigen, denn die heutige Regierung handelt asozial", sagt etwa der Fraktionsvorsitzende Jurij Bojko. Eine ernsthafte Kampfansage sieht anders aus, auch wenn er mehrmals die Aufklärung der aktuellen Morde forderte.
Im neuen ukrainischen Parlament stellt der Oppositionsblock zwar mit 40 Abgeordneten die drittgrößte Fraktion, doch das bringt nicht besonders viel, wenn praktisch alle anderen Parteien die Regierungskoalition namens "Europäische Ukraine" bilden. Durch die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass verlor der Oppositionsblock dazu noch auf Dauer viele Stammwähler. Denn genau in diesen Regionen war die Unterstützung für die Partei der Regionen am Größten, also der Partei, deren prominenteste Mitglieder heute den Oppositionsblock vertreten.
Darunter kann man außer dem Fraktionsvorsitzenden und Oligarchen Jurij Bojko auch den ehemaligen stellvertretenden Regierungschef Olexandr Wilkul und den bekannten Politiker Nestor Schufrytsch finden. Vor allem letzterer musste im Herbst persönlich erfahren, dass die Akzeptanz gegenüber den ehemaligen Regionen-Politikern sich in einigen Teilen der Bevölkerung in Grenzen hält. Nach einer Wahlkampfveranstaltung versuchten einige Anhänger des Rechten Sektors sowie Aktivisten des Automaidan, Schufrytsch in einen Müllcontainer zu werfen. Das misslang zwar, der Politiker wurde trotzdem heftig verprügelt.
Solche Müllcontainer-Aktionen, denen auch andere bekannte Politiker der Partei der Regionen zum Opfer fielen, nannte man Trash Bucket Challenge (Aufruhr in Poroschenkos Heimatstadt) - in Anspielung auf das im vergangenen Jahr populäre Ice Bucket Challenge.
Kommunistische Partei steht vor dem Aus
Fraglich ist, inwieweit der Oppositionsblock eine treibende politische Kraft werden kann. Momentan sieht es so aus, als ob die Partei für die meisten Mitglieder eher ein Versuch ist, sich politisch und vor allem wirtschaftlich zu retten. Trotzdem kann man Kolesnikow und Bojko attestieren, dass sie die einzige ernstzunehmende Oppositionskraft anführen, die im ukrainischen Parlament blieb. Davon könnten die einstigen Partner aus der Kommunistischen Partei nur träumen, denn den Kommunisten, die seit der Wahl im Herbst nicht mehr in der Werchowna Rada sitzen, droht nicht nur das politische Aus. Das ukrainische Justizministerium klagt schon seit langer Zeit gegen die Kommunistische Partei und fordert deren Verbot. Bisher allerdings ohne Erfolg.
Das könnte sich nun ändern, denn das ukrainische Parlament verabschiedete vor einigen Wochen ein umstrittenes Gesetz, das nicht nur die kommunistische Ideologie verurteilt, sondern auch die Verwendung der kommunistischen Symbolik verbietet. Es ist im Moment noch unklar, ob die Partei von Petro Symonenko unter den im Gesetz gegebenen Umständen überhaupt existieren kann.
Symonenko selbst, der die Kommunistische Partei seit über 20 Jahren anführt, droht zudem ein Verfahren wegen der Unterstützung des Separatismus in der Ostukraine. Vor einigen Wochen wurde er acht Stunden lang in der Zentrale des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU verhört. "Der Ermittler war mit meinen Antworten zufrieden, dass unsere Partei im Rahmen der Verfassung und der ukrainischen Gesetzen agiert", betonte Symonenko anschließend. Die angebliche Zufriedenheit des Geheimdienstes darf allerdings bezweifeln werden.
Ebenfalls unter Druck steht die umstrittene Zeitung Westi, die angeblich das Projekt des prorussischen Politikers Wiktor Medwetschuk ist, der dazu noch Putins Vetter ist. Und dies, obwohl Ihor Kulik, der für das Internetangebot von Westi als Nachrichtenredakteur arbeitet, seine Zeitung nicht zu der Opposition zählt: "Es ist ein großer Fehler, uns als oppositionell und sogar als prorussisch zu bezeichnen. Seit unserer Gründung verstehen wir uns als neutral. Bei uns kommen alle Seiten zu Wort."
Trotz dieser Beteuerungen durchsuchte der SBU bereits im Mai 2014 die Redaktionsräume von Westi. Seitdem häufen sich die Vorfälle - im Juli wurde das Holdingsgebäude sogar angegriffen. "Leider sind wir daran schon gewöhnt. Trotzdem geben uns die Regierungsvertreter immer die Kommentare und kommen als Gäste zu unserem Radio Westi", erklärt Kulik weiter.
Welche Rolle spielt Oligarch Achmetow?
Allerdings bleiben noch viele Fragen offen. Unklar ist zum Beispiel, welche Rolle heute Rinat Achmetow spielt. Vor der Krise war der reichste Oligarch der Ukraine auch wichtigster Geldgeber der Partei der Regionen. Seine einstigen Partner kann Achmetow problemlos im Oppositionsblock finden, doch insgesamt hält sich der ehemalige "König von Donbass" derzeit aus der Politik raus. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass er dem Oppositionsblock finanziell unter die Arme greift. Achmetows Rolle im aktuellen Konflikt in der Ostukraine ist dagegen bei beiden Konfliktparteien umstritten.
Klar ist auch, dass wirtschaftliche Interessen vieler Mitgliedern von Oppositionsblock in Russland liegen. Denn das sind vor allem ostukrainische Unternehmer, die unter anderem von Gas- und Ölgeschäften mit Russland profitieren. Für sie ist es auch wichtig, diese Krise wirtschaftlich zu überstehen. Eine direkte Verbindung zum Kreml ist aber unwahrscheinlich. Einer der größten Geldgeber der Partei, der Oligarch Wadim Nowynskyj, ist gebürtiger Russe. Den ukrainischen Pass bekam er 2012 persönlich von Präsident Janukowitsch überreicht. Auch die Kommunisten haben Partner in Russland, allerdings nicht auf dem höchsten Niveau. Die Zusammenarbeit mit der russischen Kommunistischen Partei war immer sehr eng.
Die andere wichtige Frage ist: Gibt es eigentlich außer dem Oppositionsblock und den Kommunisten aussichtsreiche Alternativen? Viele schauen in Richtung Serhij Tihipko, einst Präsidentschaftskandidat und stellvertretender Regierungschef. Seine Beliebtheit ist in der Ostukraine immer noch recht groß, von seiner Partei Starke Ukraine hört man seit der Wahlniederlage im Herbst jedoch nichts. Außerdem darf man die nationalistische Swodoba von Oleh Tjahnybok nicht vergessen, die im Hintergrund mit ihren (teilweise merkwürdigen) Aktionen oft Aufmerksamkeit bekommt. Auch die weitgehend prowestliche Bürgerliche Position des Ex-Verteidigungsministers Anatolij Hryzenko sollte man nicht abschreiben. Trotzdem spielen all diese Kräfte heutzutage kaum eine Rolle.
Für die Zukunft der ukrainischen Opposition, die in letzter Zeit fast nur auf den Oppositionsblock reduziert wurde, wird vor allem die Aufklärung der Serie von politischen Morden eine große Rolle spielen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko betonte zuletzt, es handele sich dabei um eine Provokation, um die innenpolitische Lage in der Ukraine zu destabilisieren. Der Berater von Innenminister Awakow und Rada-Abgeordneter Anton Geraschtschenko hat auf seiner Facebook-Seite den getöteten Oles Busina als "aus trauriger Sicht bekannten Journalisten" bezeichnet. Stand heute ist es zwar völlig unklar, wer hinter den Morden steckt - auch Russland könnte da verwickelt sein (Eine "Ukrainische Aufständische Armee" will für die Mordanschläge verantwortlich sein). Doch die Stimmen, die man aus Kiew hört, machen eine lückenlose Aufklärung nicht wahrscheinlicher.
Das bringt manch einen zum Nachdenken, denn ein demokratisches Land braucht eine Opposition. Die kann man in der Ukraine momentan kaum finden, was unter den gegebenen Umständen aber kaum überrascht. Einerseits unterstützen die meisten Parteien den europäischen Kurs, den Präsident Poroschenko und Ministerpräsident Jazenjuk gerade fahren. Anderseits ist die aktuelle Lage so unruhig, dass viele sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt raushalten wollen. Wer heute nach einer einflussreichen Opposition in der Ukraine sucht, befindet sich im falschen Land. Den ukrainischen Oppositionellen geht es trotzdem immer noch besser als den russischen Kollegen.