Ein besseres Selbst dank Big Brother

Wer sich beobachtet fühlt, verhält sich altruistischer. Diese Beobachtung haben Wissenschaftler nicht nur an Menschen, sondern auch an Tieren gemacht.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mal völlig dahingestellt, ob die gerade so beliebte Online-Durchsuchung jemals technisch funktioniert: Es sieht auf jeden Fall danach aus, dass sie alle, die daran glauben, zu besseren Menschen erzieht. Das ist jedenfalls die Folgerung aus einem Artikel in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science. Unter dem Titel „Spying on others evolves“ (doi: 10.1126/science.1143918) diskutieren darin die deutschen Wissenschaftler Manfred Milinski und Bettina Rockenbach, wie allein das Gefühl, beobachtet zu werden, altruistisches Verhalten auslöst. Das funktioniert zunächst mit einem sehr einfachen Mechanismus, den selbst ein Symbol auslösen kann. Eine Spendenbox, von der ein Auge den Spender direkt anblickt, erbringt zum Beispiel deutlich höhere Erträge als eine mit einem Blumensymbol verzierte Schachtel. Zwei stilisierte, augenähnliche Symbole auf dem Bildschirm erhöhten in einem Spiel trotz konstant gebliebener Anonymität die Freigebigkeit der menschlichen Spieler. Es ist sogar nicht ganz unwahrscheinlich, dass die standardmäßig auf manchen Linux-Distributionen aktivierten Desktop-Augensymbole die Produktivität von Bildschirmarbeitern erhöhen.

Von den Augensymbolen auf den Totempfählen könnten sich die Menschen beobachtet gefühlt haben - um altruistischer zu handeln Bild: Science

Dieses Verhalten scheint, so die Forscher, tief in unseren Gehirnen verdrahtet zu sein. Tatsächlich haben Messungen gezeigt, dass die elektrophysiologischen Reaktionen auf ein einzelnes Augenpaar deutlich stärker als die auf ein komplettes Gesicht sind - sogar Vögel weisen solche Reaktionen auf. Auch die Hirnregionen, die für die Gesichtserkennung und die Zuordnung sozialer und emotionaler Bedeutung zuständig sind, meint die Wissenschaft schon gefunden zu haben. Warum Mensch und Tier so reagieren, lässt sich evolutionsbiologisch relativ einfach erklären: Wir beobachten andere, weil wir darauf Rückschlüsse auf unser eigenes, optimales Verhalten bei künftigen Begegnungen ziehen wollen. Daraus entsteht auch die Motivation seitens des Beobachteten, unter dem fremden Blick möglichst gut dazustehen. Damit sind wir in der Tierwelt bei weitem nicht allein: Der Putzerlippfisch, zitieren die Autoren eine Untersuchung, verhält sich zum Beispiel im Beisein anderer ganz brav und kümmert sich liebevoll um seinen Wirtsfisch. Doch sobald kein anderer potenzieller Kunde mehr zuschaut, beißt er hemmungslos ganze Stücke aus der Haut seines Klienten.

Insofern wäre es ökonomisch sinnvoll, andere beobachten zu können, ohne dass diese es merken. Das fällt einigen Vogelarten leichter, deren Augen in dunkel gefärbten Hautpartien versteckt sind. Unsere Art hat es dabei deutlich schwerer, weil die Iris im Auge sehr auffällig ist. Das scheint uns im Ganzen evolutionär nicht benachteiligt zu haben - Augenkontakt könnte für soziales Verhalten wichtig sein. Es erschwert uns aber, das Verhalten anderer richtig einzuschätzen. Auf der Gegenseite versuchen wir, die Selbst-Rechtfertigung unter den Augen anderer zu vermeiden, indem wir uns verstellen und maskieren. Das bringt einen psychologischen Kalten Krieg hervor: Der Beobachter versucht, sämtliche Anzeichen zu verstecken, dass er überhaupt beobachtet, während der Beobachtete das Ziel hat, jegliche Anzeichen von Beobachtung zu ermitteln.

Das reicht aber nicht: hat der Beobachtete das fremde Augenpaar erkannt, darf er sich das nicht anmerken lassen - denn sonst nimmt ihm der Beobachter das nun einsetzende altruistische Verhalten ja nicht mehr als glaubwürdig ab. Was wiederum den Beobachter dazu antreibt, parallel nach Anzeichen zu suchen, dass sein Objekt die Beobachtung mitbekommen hat - denn wenn das der Fall ist, muss er dessen Verhalten anders bewerten. Das ist eine echte Leistung, die wir da ständig und dazu noch weitgehend unterbewusst vollbringen: Andere zu beobachten, ohne sich das anmerken zu lassen, und dabei auch noch ständig nach Anzeichen des Erkennens der Beobachtung zu suchen.

Milinski und Rockenbach ziehen aber auch noch eine interessante Schlussfolgerung: Eigentlich wollen wir ja in einer sozialen, nicht anonymen Gesellschaft gar nicht wissen, wie der Einzelne unbeobachtet handeln würde - wir wollen, dass er altruistisch und damit zum Gemeinwohl handelt. Und das - darauf bauten womöglich auch schon frühere Gesellschaften, die zum Beispiel Totempfähle mit Augensymbolen aufstellten - erreichen wir am besten, indem sich der andere beobachtet fühlt. Das spricht auf den ersten Blick für die komplette Bigbrotherisierung der Gesellschaft - hat aber einen Haken: Von Schäubles Online-Durchsuchung etwa müssten sich nur die Menschen beobachtet fühlen, die nicht das nötige Know-How haben, sich vor dem Blick von außen zu schützen. Die eigentliche Zielgruppe trifft man damit nicht.