Ein schlafender Riese bewegt sich
Grenzen dicht oder Legalisierung der illegalen Einwanderer: In den USA findet eine lebhafte Debatte über Einwanderung statt
Eine Million Demonstranten in Downtown Los Angeles, 150.000 in Denver, 50.000 in Detroit, 40.000 in Washington D.C., 20.000 in Phoenix, Schulstreiks in Houston, LA und Dallas … Dass so viele Menschen letzte Woche gegen die Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen protestieren würden, hatten die Organisatoren nicht erwartet. Im US-Kongress, wo zur Zeit die Immigrationsreform beraten wird, haben die Massendemonstrationen unterdessen erste positive Spuren hinterlassen.
In der laufenden Immigrationsdebatte, bei der sich in den vergangenen Wochen dank der Massenproteste die Pro-Einwanderer-Organisationen mehr Sympathien in der Öffentlichkeit verschaffen konnten, versuchen seit diesem Wochenende die Rechten, das Pendel wieder zu ihren Gunsten ausschlagen zu lassen. Das Minuteman Civil Defense Corps, eine Miliz von selbsternannten Rangern (Wacht an der Grenze), will den April über an ausgesuchten Grenzabschnitten zu Mexiko, aber auch zu Kanada, illegale Grenzgänger aufspüren, sie der US Border Patrol übergeben. Damit soll auf die “Gefahr” hingewiesen werden, die den USA drohe. Letztendlich versucht man damit, von Rechtsaußen aus Druck auf den Kongress auszuüben. Man lasse rechtsextreme Außenseiter an den Grenzaktivitäten nicht teilnehmen, behaupten die Führer des “Minuteman Civil Defense Corps” vorsorglich. Doch wes Geistes Kind sie selbst sind, daran lässt die Charakterisierung der Demonstranten von vergangener Woche als “Mob” keinen Zweifel.
Zunächst gelten jedoch die Proteste von vergangener Woche als politischer Erfolg für Immigranten - egal, ob sie sich illegal oder mit Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung im Land aufhalten. Denn eine Mehrheit im Justizausschuss des Senats stimmte stimmte kurz darauf dafür, die mehr als 11 Millionen "Illegalen" in den USA nicht strafrechtlich zu verfolgen und ihnen den Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Darüberhinaus befürwortete der Ausschuss ein breit angelegtes Gastarbeiterprogramm, das jährlich rund 400.000 ausländische Arbeitskräfte ins Land lassen und auch diesen die Möglichkeit zur Staatsbürgerschaft eröffnen würde. Wer sechs Jahre in den USA arbeitet und sich dabei weniger als 60 Tage arbeitslos meldet, würde das Recht auf eine “Green Card” erhalten.
Außerdem lehnte der Ausschuss es ab, Organisationen und Personen in den USA, die sich für "Illegale" einsetzen, zu kriminalisieren. Eine solche Strafrechtsverschärfung, gebündelt mit einer Reihe von Maßnahmen, die die USA in die Nähe eines Grenzregimes a la “Festung Europa” rücken würden, hatte eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus Ende letzten Jahres gefordert (vgl. auch Gated Nations: Rückzug hinter Mauern). Dieser sogenannte Border Protection, Antiterrorism, and Illegal Immigration Control Act of 2005 war es allerdings auch, der zu den Massenprotesten führte und auch zahlreiche Mainstream-Organisationen auf die Palme brachte. So rief beispielsweise der Bischof von Los Angeles, Roger Mahoney, Priester und Gläubige zum zivilen Ungehorsam gegen ein solches Gesetz auf.
Der Senatsausschuss gab den Protesten in dieser Hinsicht zwar nach, stimmte allerdings der Aufrüstung und Militarisierung der Grenze zu Mexiko zu. Die derzeit 11.300 Mann starke Grenzpolizei soll bis zum Jahr 2011 verdoppelt werden, um der weiteren illegalen Zuwanderung einen Riegel vorzuschieben. Im Senat kursieren weitere Vorschläge zur Immigrationsreform. Derjenige, der den Interessen und Wünschen der Einwanderer am nächsten kommt, stammt aus der Feder der Senatoren Edward Kennedy, einem Demokraten, und John McCain, einem Republikaner. Falls ein Entwurf oder ein Kompromiss mehrerer Vorschläge im Gesamtsenat Zustimmung findet, muss er mit dem scharfen Dezemberpaket des Abgeordnetenhauses abgeglichen werden, bevor das Ganze Präsident Bush zur Unterzeichnung vorgelegt wird. Es wäre das umfangreichste Gesetz zur Legalisierung von Immigranten und das größte Gastarbeiterprogramm der US-amerikanischen Geschichte. Völlig unabsehbar ist freilich noch, welches Kompromissergebnis als "immigration reform" in Gesetz gegossen werden wird.
Einigkeit herrscht in den USA quer durch das politische Spektrum, dass eine Immigrationsreform nötig ist, von Unternehmen und Gewerkschaften über Immigrantenorganisationen bis hin zu Kirchen. Ihre "Solidarität" erklärten letzte Woche in Kalifornien beispielsweise auch Landbesitzer, die von den Arbeitskräften ohne Dokumente profitieren, weil sie Billigarbeitskräfte sind. Viele Proteste richteten sich denn auch nicht gegen die Bush-Regierung, sondern vielmehr gegen einen Teil der immigrationsfeindlichen Republikanerpartei. Sie besteht in der Immigrationsfrage auf der einen Seite aus einem business-freundlichen - und auf billige, weitgehend rechtlose Arbeitskräfte angewiesenen Teil, der die Landwirtschafts- und Dienstleistungsindustrie vertritt. Auf der anderen Seite stehen die protektionistisch orientierten, fremdenfeindlichen und rassistischen Kräfte, die eine "Lateinamerikanisierung" der USA befürchten (USA: Vom Einwanderungsland zur fremdenfeindlichen Festung?).
Dass die Immigrationsdebatte in den USA weit entfernt ist von Zuständen in Europa, das sich seit Jahren abschottet, während nur jeweils kleine politische Minderheiten eine offenere Einwanderungspolitik fordern, verdeutlicht eine Erklärung des Republikaner-Senators Lindsey Graham aus South Carolina. Die Legalisierung von Illegalen sei keineswegs eine “Amnestie”, sondern der “hart verdiente Weg und das hart verdiente Recht, ein Bürger zu werden”. Die USA, so Graham weiter, hätten “als Nation keine Chance ohne diese Arbeiter und ohne diese Menschen”.