Eine Berichterstattung, die ausblendet und Nebelkerzen wirft

Hans-Jürgen Arlt im Interview über die blinden Flecken im Journalismus beim Thema Arbeit

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Über die Digitalisierung berichten Medien, "als seien alle Getriebene, als sei ein Wettlauf im Gang, dessen Beginn, dessen Verlauf und dessen Ziel niemand kennt, aber alle rennen so schnell sie können und werden in den Medien auch dazu aufgefordert zu rennen". Das sagt Hans-Jürgen Arlt im Interview mit Telepolis, der für die Otto-Brenner-Stiftung die Kurzstudie Die Zukunft der Arbeit als öffentliches Thema. Presseberichterstattung zwischen Mainstream und blinden Flecken ausgearbeitet hat.

Zusammen mit dem Journalisten Martin Kempe und dem Sozialwissenschaftler Sven Osterberg konzentriert sich Arlt auf die Berichterstattung großer Medien im Hinblick auf den gewaltigen Umbruch der Arbeitsgesellschaft, wie er derzeit zu beobachten ist. 360 Artikel der Jahrgänge 2014 und 2015 von Medien wie etwa dem Spiegel, der Zeit oder der Süddeutschen Zeitung, haben die drei Autoren analyisert.

Eines der Ergebnisse lautet: Medien berichten zwar facettenreich, wenn sie das Thema Arbeit aufgreifen, allerdings übernehmen Journalisten immer wieder stark die Perspektive der Wirtschaft, die sich vor allem an Proftimaximierung und Effizienz interessiert. "Nur ganz selten wird die Perspektive umgedreht, wird gefragt, wie die computergestützte Wirtschaft zu guter Arbeit, zu einer guten Gesellschaft, zu gutem Leben beitragen kann", sagt Arlt.

Im Interview geht Arlt, der als Honorarprofessor am Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation an der Universität der Künste in Berlin tätig ist, auf die blinden Flecke der Berichterstattung beim Thema Arbeit näher ein und blickt mit einem kritischen Auge auf die weitere Entwicklung: "Wenn die Arbeit dem Selbstlauf der Wirtschaft überlassen wird, sind Krisen und Katastrophen vorprogrammiert."

Herr Arlt, Ihre Kurzstudie trägt den Titel: "Die Zukunft der Arbeit als öffentliches Thema". Wie sind Sie darauf gekommen, sich dieses Themas anzunehmen?
Hans-Jürgen Arlt: Arbeitstätigkeiten stehen in modernen Erwerbsgesellschaften weitgehend unter der Regie der Wirtschaft. Die Medien berichten deshalb normalerweise über Umsatz- und Gewinnzahlen, über Insolvenzen, Fusionen, feindliche Übernahmen und über das Finanzsystem. Die Arbeit taucht im Zusammenhang mit Tarifkonflikten und Arbeitslosenzahlen auf, sonst wenig. Das ist zur Zeit etwas anders. Der digitale Umbruch macht nicht nur die Kommunikation zu einem großen öffentlichen Thema, sondern auch die Arbeit. Es ist also eine günstige Zeit, um danach zu fragen, welche Geschichten über die Arbeit und ihre Zukunft öffentlich erzählt werden.
Wie gehen Medien denn mit diesem Thema um?
Hans-Jürgen Arlt: Der Arbeit wird zwar mehr Aufmerksamkeit geschenkt, aber die Wirtschaft bleibt das Maß aller Dinge.
Wie meinen Sie das?
Hans-Jürgen Arlt: Diskutiert wird in erster Linie, wie sich die übrige Gesellschaft, wie sich die Politik, die Bildung, die Arbeit, die Menschen verändern müssen, damit die deutsche Wirtschaft 4.0 erfolgreich voranschreiten kann. Nur ganz selten wird die Perspektive umgedreht, wird gefragt, wie die computergestützte Wirtschaft zu guter Arbeit, zu einer guten Gesellschaft, zu gutem Leben beitragen kann, wie etwa in dem Satz aus der taz: "Die digitale Revolution wartet noch auf ihre Humanisierung."
Die Berichterstattung nimmt also die Perspektive der Wirtschaft ein, aber die Probleme, die sich sich für den Mesnchen aus den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben, werden nicht oder nicht genug berücksichtigt?
Hans-Jürgen Arlt: Es ist so: Die negativen Folgen einer auf Wirtschaftlichkeit getrimmten Digitalisierung für die Arbeit werden in der Berichterstattung ausführlich beschrieben. Die Entgrenzung der Arbeit, also wie sich die Möglichkeit, zu jeder Zeit und überall zu arbeiten, zum Druck aufbaut, es tatsächlich auch zu tun, jedenfalls mehr zu arbeiten. Wie, etwa im Fall der Plattformökonomie, die die sozialen Funktionen der Arbeit entwertet und entleert: Soziale Sicherheit, soziale Anerkennung, eine Chance auf Selbstverwirklichung sind mit einer solchen Häppchen-Beschäftigung nicht zu bekommen. Wie Konkurrenz und Kontrolle der Erwerbstätigen steigen. Man kann also keinesfalls sagen, dass die Medien hier eine heile Welt ausmalen und die Probleme verschweigen würden.
Gut, aber was ist dann Ihre Kritik?
Hans-Jürgen Arlt: Der interessante Punkt ist, dass über die negativen Folgen im Ton der Unabänderlichkeit mit einem schicksalhaften Gestus berichtet wird. Zugleich wird auf positive Aspekte hingewiesen, etwa bessere Möglichkeiten, seine Arbeit selbst zu organisieren, aber dabei ist stets klar, die positiven Aspekte sind Nebenfolgen, mehr Abfallprodukt als Absicht.
Also Licht und Schatten?
Hans-Jürgen Arlt: Ja, aber wie soll man das Verhältnis von Licht und Schatten beurteilen? Das hängt sehr von der Beobachtungsperspektive ab. Gemessen an dem, was sich in Wirtschaft und etablierter Politik als Mainstream des Digitalisierungs-Diskurses durchgesetzt hat, sagen wir von den Arbeitgeber-Verbänden bis zum Bundesarbeitsministerium, vermittelt die Presseberichterstattung ein plurales, keineswegs unkritisches Bild.
Denkt man aber an die großen Worte, die dabei fallen - unter epochaler Umbruch, technische Revolution, disruptive Entwicklung, eine neue Gesellschaft macht es kaum jemand -, dann wundert man sich doch, dass an die Zukunft der Arbeit fast nur alltägliche Fragen gestellt werden: Welche und wie viele Arbeitsplätze wegfallen, ob die Arbeit belastender oder leichter wird, ob die Arbeitskosten zu hoch oder zu niedrig sind. Wir haben als Untertitel für die Studie "Presseberichterstattung zwischen Mainstream und blinden Flecken" gewählt. Zu den blinden Flecken gehört, dass "neu" zwar das Eigenschaftswort ist, das in den Artikeln am häufigsten vorkommt, der Journalismus aber nichts Neues über die Arbeit zu sagen weiß.

Technik wird wie eine Naturgewalt beschrieben

Stichwort "blinde Flecken" in der Berichterstattung. In Ihrer Studie heißt es, die Medien erweckten den Eindruck, die Digitalisierung sei ein Prozess, der sozusagen "vom Himmel" gefallen ist und mit dem man sich nun abzufinden habe. Aber diese technische Entwicklung ist kein Naturgesetz, sondern sie wird von Akteuren und Organisationen vorangetrieben, oder?
Hans-Jürgen Arlt: In dieser Hinsicht blendet die Berichterstattung nicht nur aus, sie wirft geradezu Nebelkerzen, weil sie die Technik wie eine Naturgewalt darstellt. Man kann sich die Technik zunutze machen, man kann vor ihr Schutz suchen, man kann sie bejubeln oder beklagen, aber über sie zu entscheiden, sie so, anders oder gar nicht zu konstruieren, das bleibt als öffentliches Thema weitgehend ausgespart. Der einfache Gedanke, dass die Technik selbst das Resultat von Arbeit ist, wird nicht ausgesprochen.
Wie meinen Sie das?
Hans-Jürgen Arlt: In der historischen Rückschau ist der homo sapiens sehr stolz darauf, den Pflug und die Eisenbahn, die Näh-, Kaffee- und Bohrmaschine, das Fließband und den Computer erfunden zu haben. Im Rückblick ist klar, das alles ist Menschenwerk, das haben wir uns erarbeitet. Über die Digitalisierung jedoch wird, wie vorher schon über die Globalisierung, berichtet, als ereigne sie sich hinter dem Rücken aller Beteiligten, als seien alle Getriebene, als sei ein Wettlauf im Gang, dessen Beginn, dessen Verlauf und dessen Ziel niemand kennt, aber alle rennen so schnell sie können und werden in den Medien auch dazu aufgefordert zu rennen.
Gilt das denn nicht auch für andere Themen in den Medien? Was ich meine: Gerade bei den großen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unserer Zeit versäumen Medien es oft, aufzuzeigen, dass hinter diesen Entwicklungen konkret benennbare Akteure und Interessengruppen stehen. Die Berichterstattung vermittelt vielmehr den Eindruck, "die Geschehnisse" seien das Produkt einer Eigendynamik, der sich niemand entgegenstellen kann und mit der man sich zu arrangieren habe. Wie sehen Sie das?
Hans-Jürgen Arlt: In der Tat, es gibt ein Interesse von Entscheidungsträgern, ihre Entscheidungen als Sachzwänge zu maskieren, damit man diesen nicht mehr ansieht, dass sie auch anders hätten getroffen werden können. Gegen die Logik der Sache zu protestieren, ist unvernünftig, Kritik blamiert sich als unsachlich und unrealistisch, wenn es den Entscheidern gelingt, ihren Weg als alternativlos zu präsentieren.
Unternehmensvorstände, aber auch Regierungsverantwortliche sind Profis des vorgeschobenen Sachzwangs. Der Journalismus hat im Tagesgeschäft, das inzwischen ja schon ein Minutengeschäft geworden ist, sehr wenig Reflexionszeit. Er ist schon aus Gründen der Arbeitsökonomie nur zu gerne bereit, die Sachen nicht noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon sind, und Sachzwangargumenten zu folgen.
Mal weiter zu den blinden Flecken. Worüber berichten Medien, wenn es um das Thema Arbeit geht, denn noch nicht?
Hans-Jürgen Arlt: Ich will vorausschicken: Unvollständigkeit ist für sich genommen kein sinnvoller Kritikpunkt. Niemand kann alles beobachten und schon gar nicht alles berichten. Es handelt sich, nicht nur im Journalismus, auch in der Wissenschaft, immer nur um eine Auswahl, um selektive Darstellungen. Umso wichtiger wird deshalb die Frage, wie die Auswahl getroffen wird. Unsere Studie zum Beispiel interessiert sich nicht für die Unterschiede zwischen den einzelnen Medien, sie hat eine gesellschaftspolitische Fragestellung. Wir wollten wissen, welche Hoffnungen und Befürchtungen, welche Versprechungen und Drohungen in der Mediendarstellung mit der Zukunft der Arbeit verbunden werden.
Der blinde Fleck, den ich gesellschaftspolitisch für besonders problematisch halte, ist das journalistische Desinteresse am alternativen Potential der Digitalisierung. Während in den Sozialwissenschaften kaum noch jemand bezweifelt, dass sich hier eine neue Kultur Bahn bricht, und in der digitalen Szene selbst eben nicht nur technische, sondern auch soziale Experimentierfreude herrscht, bleibt der Journalismus weitgehend dem alten industriegesellschaftlichen Denken verhaftet.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Hans-Jürgen Arlt: Debian ist ein freies Betriebssystem, das, wenn ich es recht weiß, etwa 43.000 Pakete vorkompilierter Software zu bieten hat und in über siebzig Sprachen verfügbar ist, in mehr als doppelt so vielen wie das Apple-Betriebssystem. Debian ist ein großes und großartiges Commons-Projekt. Wer kennt es, wer berichtet außerhalb der Fachwelt darüber? Die gesamte Open-Source-Bewegung, die den Nutzwert, den Gebrauchswert ihrer Erzeugnisse in den Mittelpunkt stellt, die Commons, in denen Gleichberechtigte freiwillig zusammenarbeiten, in denen Preissignale nachrangig und Befehlsketten abgeschafft sind, die vielen Versuche der Selbstorganisation - in den klassischen Printmedien werden solche Ansätze als Randphänomene oder gar nicht behandelt.
Selbst die großen alten Fragen, die an die Arbeitsgesellschaft gestellt werden, seit es sie gibt, nämlich die Möglichkeiten der Befreiung in der Arbeit und der Befreiung von der Arbeit, bleiben ausgeblendet oder werden nur negativ thematisiert nach dem Motto "Geht uns die Arbeit aus?" Dass es in einer hochtechnisierten und hochproduktiven Gesellschaft auch außerhalb von bezahlten und unbezahlten Arbeitsleistungen wichtiges Engagement, kreatives Tun und - über die Regeneration für die nächste Arbeitsrunde hinaus - sinnvolles Nichtstun geben könnte, das ist keine Idee, die über Nebensätze im Feuilleton hinauskommt.

Primat wirtschaftlicher Effizienz

Wie erklären Sie sich, dass Journalisten auf derartige zentrale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend genug eingehen?
Hans-Jürgen Arlt: Der Journalismus, den wir untersucht haben, basiert auf Erwerbsarbeit. Er muss, das ist eine Feststellung, kein Vorwurf, darauf achten, dass er sich verkauft, an sein Publikum und/ oder an die Werbung. Dadurch entstehen Engels- und Teufelskreise.
Die neuen sozialen Bewegungen, vor allem die Umwelt- und Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts, hätten ohne die Massenmedien keine so große Verbreitung gefunden. Hier haben sich Basisentwicklungen und mediale Thematisierung gegenseitig vorangetrieben. Den sozialen Alternativen, die sich im Zusammenhang mit der Digitalisierung herausbilden, gelingt es bislang nicht, im Vergleich zu den fünf digitalen Kommerzriesen von A wie Amazon bis M wie Microsoft öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen, so dass der Journalismus vermuten muss, sein Publikum würde sich nicht dafür interessieren. Aufmerksamkeit funktioniert wie Geld: Wer viel hat, bekommt mehr, wer wenig hat, verliert auch das noch.
Sie schreiben in Ihrer Analyse auch, dass die Berichterstattung von einem "Primat wirtschaftlicher Effizienz" ausgehe. Was meinen Sie damit?
Hans-Jürgen Arlt: In den zurückliegenden 250 Jahren hat sich die Wirtschaft im Grunde weltweit zum einflussreichsten Teil unserer Gesellschaft entwickelt. Die Ökonomisierung praktisch aller Lebensbereiche, auch wirtschaftsferner wie Sport, Kunst und Wissenschaft, hat zur Folge, dass wir heute fast nichts tun, ohne nach seinem Preis zu fragen und die wirtschaftliche Messlatte anzulegen; das heißt zu überlegen, wie mit geringstmöglichem Einsatz, will sagen: mit den niedrigsten Kosten, der höchstmögliche Ertrag zu erzielen ist. Dass an alles, was wir tun und lassen, auch andere sinnvolle Kriterien angelegt werden können, die für unsere Lebensqualität vielleicht sogar wichtiger sind als wirtschaftlicher Erfolg, ist eine Perspektive, die der Journalismus im Zusammenhang mit der Zukunft der Arbeit nicht mitzudenken vermag. Sein Maßstab ist sogar noch enger. Es geht ihm primär um den deutschen wirtschaftlichen Erfolg, Misserfolge und Scheitern mögen bitte im Ausland stattfinden.
Wie kommt es, dass Journalisten scheinbar nicht in der Lage sind, in ihrer Berichterstattung über das unternehmerische Dogma Effizienz hinauszublicken und zu erkennen, dass sich auch eine ganz andere Perspektive veranschlagen lässt?
Hans-Jürgen Arlt: Das scheint mir weniger ein journalistisches als ein gesellschaftliches Problem insgesamt zu sein. Auch die Politik, die Medizin, sogar die Ökologie haben inzwischen eine hohe Bereitschaft, Wirtschaftlichkeit als erstes Gebot anzuerkennen. Aus meiner Sicht hängt das sehr eng mit dieser Konstellation zusammen: Obwohl Arbeit ein kollektiver Prozess ist, in dem jede Person und jede Organisation von vielen anderen abhängig sind und ohne andere nichts zu Wege bringen würden, findet die Aneignung des Erarbeiteten singulär statt.
Und das heißt?
Hans-Jürgen Arlt: Wer die Macht dazu hat, definiert, welche individuelle Leistung welches Einkommen verdient.
Deshalb verdienen also Vorstände so viel mehr als kleine Leute?
Hans-Jürgen Arlt: Ja, und deshalb können auch unverschämter Luxus und verzweifelte Armut gleichzeitig entstehen.
Ohne individuelle Erwerbstätigkeit haben Normalbürger kein Einkommen, das ihnen ein Auskommen sichert. Sozialleistungen oder so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen gelten als schädlich, werden diskriminiert und abgewertet. In der reichsten Gesellschaft der Menschheitsgeschichte bleiben Jede und Jeder erst einmal auf Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit zurückgeworfen.
Wer bietet Erwerbsarbeit, die sogenannte abhängige Beschäftigung, an oder auch nicht? Das sind in erster Linie Wirtschaftunternehmen. Wenn Unternehmen nicht genügend bezahlte Arbeitsleistungen anbieten, entstehen soziale Probleme. So wie die Arbeit in der Erwerbsgesellschaft organisiert ist, muss es den Wirtschaftsorganisationen gut gehen, damit keine sozialen Krisen entstehen. Deshalb stellt es sich als vernünftiges und verantwortliches Handeln dar, der Wirtschaft Vorrang einzuräumen und als erstes nach der wirtschaftlichen Effizienz von allem und jedem zu fragen. Aber damit überschreite ich unsere Studie jetzt weit.
Deshalb zurück zu Ihrer Studie. Wie sind Sie denn vorgegangen? Wie haben Sie die Ergebnisse zu Tage gefördert?
Hans-Jürgen Arlt: Wir waren natürlich nicht in der Lage, "die Medien" zu untersuchen. Wir haben uns weder mit den vielfältigen Bereichen der Unterhaltung, der Werbung und der Public Relations beschäftigt, sondern uns auf den Journalismus konzentriert. Noch haben wir die journalistische Berichterstattung umfassend analysiert, sondern elf führende Printmedien ausgewählt, sieben Tages- und vier Wochenzeitungen. Konkret haben wir 360 größere Artikel der beiden Jahrgänge 2014 und 2015 aus Publikationen wie FAZ, SZ, Handelsblatt, taz, Spiegel und Zeit untersucht. In Zeiten von Big Data gibt es Software, mit der sich sehr große Textmengen durchleuchten lassen. Wir hatten es mit der überschaubaren Menge von rund 350.000 Wörtern zu tun, die kann man gut selbst lesen, so dass sich quantitative und qualitative Analysen gegenseitig ergänzen konnten.
Was können Sie uns noch zum Methodenteil sagen?
Hans-Jürgen Arlt: Entscheidend ist, Vorverständnis und Vorgehen offen zu legen. Man kann seine Forschung mit einem weißen Blatt beginnen, aber nicht als weißes Blatt. Deshalb haben wir unser Verständnis von Journalismus und von Arbeit erläutert, die Auswahl des Untersuchungsmaterials, wie wir hoffen, ordentlich begründet und die einzelnen Analyseschritte so verständlich zu machen versucht, dass auch ein nichtwissenschaftliches Publikum kritisch nachfragen kann, ob das so in Ordnung ist.

Die Arbeitsgefängnisse der Industriegesellschaft müssen sich öffnen

Wie wird sich denn die Arbeitswelt in den nächsten 20, 30 Jahren entwickeln?
Hans-Jürgen Arlt: Jetzt verlassen wir das Feld der Wahrheitsfähigkeit und der Nachprüfbarkeit endgültig. Ich habe die Hoffnung, dass die Entscheidungen darüber, wie es mit der Arbeit weitergeht, noch nicht gefallen sind, obwohl der Pfad, der seit den 1980er Jahren eingeschlagen wurde, eindeutig in eine Richtung weist.
Nämlich?
Hans-Jürgen Arlt: Das Horrorszenario ist, dass die Herrschaft der Wirtschaft über die Arbeit durch Privatisierungen ausgeweitet wird, die individualisierte Leistungsideologie sich noch stärker ausbreitet und der sozial gesteuerte Zugang zu den Früchten der Arbeit weiter abgebaut wird. Die Folge wäre eine noch tiefere Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Allerdings dürfte es auf Dauer nicht so einfach sein, das Kommunikations- und Arbeitspotential, das die Digitalisierung eröffnet, in eine wirtschaftliche Zwangsjacke zu stecken und ihren sozialen Grundcharakter zu konterkarieren. Wo es keine Knappheit gibt, braucht nicht gewirtschaftet zu werden. Jeremy Rifkin hat darauf hingewiesen, dass es zunehmend schwieriger wird, Knappheitskonstruktionen im Überfluss aufrecht zu erhalten. Dass Begriffe wie Netzwerk, Collaboration und Enthierarchisierung in aller Munde sind, ist kein Zufall, das hat etwas mit dem sozialen Potential der Leitmedien Computer und Internet zu tun.
Wo liegen die Chancen?
Hans-Jürgen Arlt: Die Chancen liegen darin, dass sich die Arbeitsgefängnisse der Industriegesellschaft öffnen müssen. Es entstehen neue Unternehmensmodelle, neue Arbeitsformen und andere Wertschöpfungsprozesse. Informations- und Wissensarbeit werden zentral. Peter Drucker hat gesagt: "Der Wissensarbeiter ist jemand, der mehr über seine Tätigkeit weiß, als jeder andere in der Organisation." Entscheidung und Ausführung zu trennen, eine elitäre Kaste von Entscheidern zu etablieren und auf der anderen Seite ein Heer von Befehlsempfängern, das jeden Raubbau an der Natur mitmacht und jedes überflüssige Zeug herstellt, solange es nur irgendeinen Käufer findet, dürfte schwieriger werden.
Vor welchen Aufgaben stehen Politik, Gesellschaft und Medien in Sachen "Zukunft der Arbeit"?
Hans-Jürgen Arlt: Vielleicht wäre das Wichtigste, einen Schritt zurück zu treten und sich klar zu machen, was der Sinn von Arbeit ist. Arbeit scheint mir eine Leistung zu sein, die auf einen Bedarf reagiert und in einen Gebrauch mündet. Arbeiten kann eine außerordentlich inspirierende und befriedigende Tätigkeit sein, wenn ich etwas leiste, das andere gut brauchen können; wenn ich zudem diese Leistung unter Bedingungen erbringe, die ich mitbestimmen kann, die mir nicht nur von außen aufgezwungen werden; und wenn diese Leistung dazu beiträgt, dass ich meinen eigenen Lebensunterhalt gut bestreiten, Produkte und Dienste kaufen kann, die andere erarbeitet haben.
Gegenwärtig haben wir die Situation, dass die Wirtschaft die Regie über die Arbeit übernommen hat ...
Hans-Jürgen Arlt: ...und das hat zu einer Leistungsexplosion geführt, die viele erfreuliche Seiten hat. Aber wenn die Arbeit dem Selbstlauf der Wirtschaft überlassen wird, sind Krisen und Katastrophen vorprogrammiert.
Arbeitende Menschen kämen niemals auf die Idee, mit ihrer Leistung ihre Umwelt so zu beschädigen, dass es sich nachteilig auf ihre Gesundheit auswirkt oder gar die natürlichen Existenzgrundlagen der Erdregion zerstört, in der sie leben und arbeiten. Arbeitenden Menschen käme es absurd vor, nichts zu leisten, wenn sie Bedarf haben, und lieber Not zu leiden. Und sie kämen wohl auch nicht auf den Gedanken, andere angenehme Tätigkeiten zurück zu stellen oder ihre Muße zu unterbrechen, um etwas zu leisten, wofür sie keinen Bedarf haben.
Alle diese Absurditäten entstehen erst, wenn über die Arbeit rein wirtschaftlich entschieden wird. Dann zählt nur zahlungsfähiger Bedarf, dann interessiert am Gebrauch nur der Verbrauch, dann darf die Leistung nur möglichst wenig kosten, Hungerlöhne und die Externalisierung von Kosten gehören dann zum normalen Geschäft, solange sich kein Widerstand dagegen erhebt.
Die Aufgabe ist also klar: Umzusteuern und möglichst demokratisch darüber zu entscheiden, wie viel wirtschaftlich beherrschte Arbeit, wie viel sozial benötigte Arbeit, wie viel bezahlte und unbezahlte Arbeit - letztere wird immer noch vor allem Frauen aufgehalst - und wie viele Tätigkeiten neben und außerhalb der Arbeit zu einem guten Leben gehören sollen.

Arlt, Hans-Jürgen/ Kempe, Martin/ Osterberg, Sven: Die Zukunft der Arbeit als öffentliches Thema. Presseberichterstattung zwischen Mainstream und blinden Flecken. OBS Arbeitsheft 90, Frankfurt/Main 2017, 110 Seiten. Kostenlos zu beziehen über www.otto-brenner-stiftung.de.