Eine Bürgerpflicht zum Verzicht?

Seite 2: Ausstieg aus der Geschichte

Diese neue Feindschaft gegen Freiheit und neue Lust an der Bevormundung anderer, ist nicht nur ein romantischer Reflex, nicht nur eine von Sehnsucht nach den Idyllen der Vergangenheit bestimmte Gefühlspolitik, die am liebsten nichts verändern möchte und deswegen darauf hofft, dass sich eine dynamische Gesellschaft schon irgendwie durch den Verzicht auf Zukunft und Veränderung stillstellen ließe und die ständige Veränderung durch geschichtlichen Fortschritt durch eine "Posthistoire", den Ausstieg aus der Geschichte, ersetzt werden könnte.

Sie ist auch Ausdruck dessen, was man früher "Klassenstandpunkt" genannt hätte: Die Überzeugung, der Staat dürfe das Leben und damit das Konsumverhalten seiner Bürger regulieren und einschränken, ist vor allem ein Glaubensgrundsatz bestimmter politischer Milieus, der in der deutschen Gesellschaft besonders tief verankert ist.

Diese Milieus des urbanen wohlhabenden, besserverdienenden oberen Drittels der Gesellschaft begrüßten zuletzt die Corona-Maßnahmen als "notwendigen" Schutz "der Vulnerablen", ohne Zeit an den Gedanken zu verschwenden, dass sich ein Lockdown im 200qm-Loft mit Balkon besser ertragen lässt als in der 30qm Wohnung.

Staatlich verordnete Hygieneregeln wurden damals von manchen als legitimer Eingriff in die autonomen Handlungsentscheidungen der Bürger gewünscht, so wie man sich jetzt über die Duschverhaltensregeln grüner Politiker freut.

Das Wort "Freiheit" wird – wo Freiheit "fatal" ist – in diesen Gruppen, der vor allem grün und Union wählenden bürgerlichen Wohlstandsmilieus, nicht länger verstanden als ein Vertrauensvorschuss an das mündige Subjekt, als selbstverständliche Wahlmöglichkeit und Grundlage von Selbstbestimmung (Immanuel Kant), sondern als Freibrief für Egoisten, um mit dem Porsche per 250 Stundenkilometer über die Autobahn brettern zu dürfen. Jeder, der das mal praktisch versucht hat, weiß, dass es schon deswegen gar nicht geht, weil dort viel zu viele E-Autos mit 79,5km/h Energiesparen üben.

Wer die Freiheit trotzdem verteidigt, setzt sich dem Verdacht aus, ein "Querdenker" zu sein – dieser Begriff, einst in den 1970er- und 1980er-Jahren als Lob für kreative und sich der Parteiräson nicht unterordnende Generalsekretäre der Volksparteien wie Peter Glotz, Heiner Geißler oder Kurt Biedenkopf erfunden, ist längst zum Synonym für den neuen Pöbel und die "Feinde der Demokratie" mutiert.

Aber wer unterhöhlt tatsächlich die Demokratie und ihre Institutionen? Die, die auf Wahl- und Entscheidungsfreiheit beharren, oder die, die von ihrem Professorenkatheder oder gleich der Dachterrasse herab dem Volk Verzicht predigen, und dort, wo das nicht fruchtet, das Verhalten der Ungehörigen durch "Nudging", Bürokratisuierung und Gesetzesverschärfungen – früher hätte man gesagt: "mit Zuckerbrot und Peitsche" – zu steuern versuchen, jedenfalls nicht durch Einsicht, sondern allenfalls durch Selbstdisziplinierung.

Die Moderne, so schrieb der Soziologe Max Weber, ist "ein stählernes Gehäuse", das aus äußeren und verinnerlichten Zwängen besteht, und in der die Freiheit des Einzelnen ständig gegen die Zumutungen des Apparates neu zu schützen ist.

Despotie im Namen der Natur

Immerhin hält Philipp Lepenies nicht hinter dem Berg, wenn es um die Schlussfolgerungen geht, die er aus seinem Verzichtsansatz zu ziehen wünscht:

Wie also weiter? Es bedarf eines grundsätzlich neuen gemeinsamen Verständnisses hinsichtlich unseres Bildes vom Staat. Wir dürfen nicht länger im Staat einen Gegner sehen, sondern wir müssen uns, wie im Kompositbild des Leviathan, selbst im Staat erkennen – als Bürgerinnen und Bürger, die durch ein Verantwortungsgefühl für andere und die Umwelt motiviert werden und sich miteinander verbunden fühlen. Dazu gehört auch die Maßgabe, unseren Extremindividualismus zu kontrollieren. Zur Not, in der wir uns gegenwärtig angesichts der Kumulation der Krisen ganz offensichtlich befinden, auch durch Verbot und Verzicht.

Philipp Lepenies

Das nun ausgerechnet im 21. Jahrhundert der englische Aufklärer und philosophische Ahnenvater des Fürstenabsolutismus, Thomas Hobbes und sein "Leviathan" zum neuen Vorbild erklärt werden, ist nicht nur deswegen absurd, weil Hobbes' Vorstellung, dass der Mensch dem anderen ein Wolf sei und sich im "Krieg aller gegen alle" befinde, auch eine der Urszenen des von Lepenies scharf abgelehnten Neoliberalismus und des Sozialdarwinismus ist.

Sondern auch, weil der Autor damit mal soeben 300 Jahre Politikgeschichte – von John Locke über Montesquieu und Rousseau und Hegel bis Habermas – und die mühsam errungenen Gewaltenteilungen und bürgerlichen Revolutionen annulliert.

Sein Staat, der am Ende dieser neuen Heilsgeschichte, der Re-Evolution zurück in die Vormoderne erscheint, ist wieder eine absolutistische Fürstendespotie. Nur dass diese Despotie diesmal nicht im Namen Gottes herrscht, sondern im Namen der Natur und "des Lebens".

Die Lebensschützer aller Seiten kennen kein Pardon. Denn die Sache ist zu wichtig, um Gnade walten zu lassen, sie ist "to big to fail". Das Ergebnis ist zu Ende gedacht: eine Ökodiktatur.