Eine Gesellschaft von potentiellen Selbstmördern

Initiative will einen Gesetzantrag zur Sterbehilfe in den Bundestag einbringen. Sozialdarwinistische Selektion soll nicht mehr primär vom Staat, sondern vom Individuum ausgehen

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Als der SPD-Abgeordnete Rolf Stöckel Anfang April mit seiner Initiative für ein Sterbehilfegesetz an die Öffentlichkeit ging, mag er an die Regierungserklärung seines Kanzlers gedacht haben.

"Wir können - und wir müssen - uns heute sehr viel mehr Freiheit des einzelnen leisten als in den Gründertagen der Bundesrepublik", hatte Schröder Ende März doppeldeutig formuliert. Denn "dem Mehr an Freiheit entspricht auch ein Mehr an Verantwortung. Verantwortung jedes einzelnen für sich selbst. Aber auch für seine Lebenspartner und seine Familie. Für das Gemeinwesen."

Freiheit, Verantwortung, Gemeinwesen - das klingt doch richtig gut. Und irgendwie hat der Gesetzentwurf des Abgeordneten Stöckel auch mit Freiheit und Verantwortung des Einzelnen zu tun.

Stöckel will erreichen, dass Menschen mittels einer Patientenverfügung selbst über ihren Todeszeitpunkt entscheiden können. Laut dem Antragsentwurf soll dazu unter anderem das Strafgesetzbuch geändert werden, so dass ein Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen nicht mehr rechtswidrig ist. Voraussetzung sei jedoch, dass der Verzicht durch eine gültige Verfügung des Betroffenen erklärt werde, weshalb auch die Vormundschaftsregelungen gelockert werden müssten.

Grundsätzlich wird die Patientenverfügung bereits heute von der deutschen Rechtsprechung anerkannt. In ihr kann jeder Mensch erklären, ob er am Leben erhalten werden will, falls er infolge einer Krankheit oder eines Unfalls zu keiner Willensäußerung mehr fähig ist. Doch kommt es, etwa bei Wachkoma-Patienten, immer wieder zu Streitfällen zwischen Bevollmächtigten und Ärzten darüber, ob und wie eine Patientenverfügung anzuwenden sei.

Ein Angriff auf die Menschenwürde

Stöckel, der auch Bundesvorsitzender des Humanistischen Verbands Deutschland ist, aus dessen Eckpunkten zur "Autonomie am Lebensende" der gleichnamige Gesetzentwurf hervorgegangen ist, will nun mehr Rechtssicherheit für diese "aktive indirekte Sterbehilfe" schaffen. Denn bislang müssen Sterbehelfer mit einer Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren rechnen.

Wie Rolf Stöckel der "Berliner Zeitung" sagte, wird sein Vorstoß angeblich bereits von 15 bis 20 SPD-Abgeordneten, fünf bis zehn Liberalen und fünf Grünen unterstützt. In den Fraktionen bezweifelt man dies jedoch, da kaum jemand von der Initiative gewusst habe. Stöckels bislang prominenteste Fürsprecher stammen aus der FDP. So erklärte Fraktionschef Wolfgang Gerhard, er befürworte eine Regelung zur Therapiebegrenzung, weil er sich nicht "zum Richter über Lebenssituationen von Menschen machen" wolle. Auch seine Fraktionskollegin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger äußerte sich zustimmend zu der fraktionsübergreifenden Initiative.

Aber es wurde auch Kritik laut: "Ein solches Gesetz wäre ein Angriff auf die Menschenwürde" sagte der CDU-Landesvorsitzende Christoph Böhr der "Welt". Ein "wirklich humanes Sterben lebt vom Beistand und von der Begleitung im Sterben". Die Grünen-Bundestagsabgeordneten Christa Nickels und Petra Selg sagten, man dürfe den weit verbreiteten Ängsten vor einem schmerzvollen und fremdbestimmten Dasein am Lebensende nicht mit einer Debatte zur Liberalisierung der Sterbehilfe begegnen. Der Initiator des Entwurfs hält dem entgegen, der Patientenwille müsse "bis zum Schluss" ausschlaggebend sein.

Aus der Sicht der Deutschen Hospiz-Stiftung ist diese Argumentation ein Hohn. Stiftungssprecher Eugen Brysch machte in einer scharfen Kritik deutlich, dass dies gerade "das Ende der Selbstbestimmung des Patienten" bedeute: "Denn in den meisten Fällen werden dann andere entscheiden, wann ein Patient zu sterben hat." Lege man die Erfahrungen aus den Niederlanden zugrunde, würden dann jedes Jahr 5500 Menschen in der Bundesrepublik ohne ihre Zustimmung getötet werden.

In der Tat spricht der SPD-Politiker Stöckel von einem "mutmaßlichen Willen" des Patienten, den dieser ja über die Vorsorge-Vollmacht kund getan habe. Ein "mutmaßlicher Wille" ist jedoch gerade kein tatsächlicher Wille. Was, wenn ein Patient, unfähig sich zu artikulieren, in einer bestimmten Situation umdenkt und am Leben bleiben will? Darf er dann wenigstens auf die Empathie der Ärzte und Betreuer hoffen, die seinen Lebenswillen womöglich zur Kenntnis nehmen und die Tötung durch Unterlassen - denn nichts anderes ist diese "Hilfe zum Sterben" - verweigern?

Tötung durch Unterlassen

Nicht wenn es nach Stöckel geht. Er fordert einen Passus im Strafgesetzbuch, wonach künftig Ärzte, Pfleger oder Angehörige bestraft werden können, wenn sie gegen "den ausdrücklichen Willen einen medizinischen Eingriff vornehmen". Die Betreuer könnten in diesem Fall womöglich nicht einmal Gewissensgründe geltend machen. Einen weiteren Aspekt beschrieb der Rechtswissenschaftler und Journalist Oliver Tolmein Anfang März in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Je größer der öffentliche Druck wird, Sterbehilfe und den zum sicheren Tod führenden Behandlungsabbruch zu legalisieren und zu legitimieren, desto mehr nimmt auch die Sorge von Menschen mit Behinderungen zu, nicht mehr ausreichend medizinisch versorgt zu werden".

Diese Sorge jedoch dürfte ganz im Sinne derer sein, die die "Sterbehilfe-Debatte" weitertreiben. Nicht zufällig gilt ihr Engagement nicht der Verbesserung der Palliativmedizin. Mit deren Hilfe ist nicht nur eine umfassende Schmerzlinderung im Sterben möglich, das Leben kann zudem oft deutlich verlängert werden. Dennoch erhalten bislang nur 2,1 Prozent der Sterbenden in Deutschland eine professionelle Begleitung. Stöckel knüpft mit seinem Gesetzantrag an den Auffassungen des Theologieprofessors Joachim Wiemeyer an, der im vergangenen Jahr erklärt hatte, es seien nun einmal nicht alle möglichen Maßnahmen für jeden finanzierbar, weshalb "nicht jede lebensverlängernde Maßnahme für sehr alte Leute noch" durchgeführt werden könne.

Auch Stöckel weiß, dass der "zum sicheren Tod führende Behandlungsabbruch" allemal billiger ist als pflegeintensive und medizinisch hochwertige Versorgung. Wie sein Kanzler, der mit dem Appell für mehr "Gemeinsinn" versucht, dem Sozialabbau höhere Weihen anzudichten, möchten auch Stöckel und dessen UnterstützerInnen die Euthanasie demokratisch neu organisieren. Jeder soll selbst erkennen, ob er für das "Gemeinwesen" noch von Nutzen ist, oder ob es sich bei ihm im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik nicht mehr um "Humankapital", sondern nur noch um "unwertes Leben" handelt. Wenngleich dieser "Erkenntnis" bisweilen noch mit dem Druck einer mangelhaften Schmerztherapie nachgeholfen wird, soll diese Opferbereitschaft für die Gemeinschaft im Grunde von jedem einzelnen selbst ausgehen. Eine Gesellschaft von potentiellen Selbstmördern - das ist die Agenda 2010 der Sterbehelfer.