Eine Strategie für Putin: Weltmachtstatus durch "konstruktive Zerstörung"

Seite 2: "Russland kann keine Großmacht sein, wenn es durch die Ukraine belastet wird"

Karaganows Position gegenüber der Ukraine erscheint dagegen auffallend ambivalent. Einerseits scheint er diesem Staat nicht viel zuzutrauen und empfiehlt russischen Führung, alles was westlich der russischen Grenze liegt, links liegen zu lassen, und sich nach Osten zu wenden, Sibirien zu erschließen, und die Beziehungen zu China, bei der längst eine "De-facto-Bündnispartnerschaft" herrsche, zu entwickeln:

Eine Partnerschaft mit Peking würde das Potenzial beider Länder um ein Vielfaches steigern. ... Wir sollten Peking helfen, wo immer wir können, um zu verhindern, dass es in dem vom Westen entfesselten neuen Kalten Krieg auch nur eine vorübergehende Niederlage erleidet. Eine solche Niederlage würde auch uns schwächen. Außerdem wissen wir nur zu gut, in was sich der Westen verwandelt, wenn er glaubt zu gewinnen.

Sergej Karaganow

Für eine solche Politik sei die Ukraine eher eine Ablenkung: "Russland kann keine Großmacht sein, wenn es durch eine zunehmend schwerfällige Ukraine belastet wird - ein politisches Gebilde, das von Lenin geschaffen wurde und später unter Stalin nach Westen expandierte."

Man könne die Ukraine also ignorieren. Mit einer großen Ausnahme. Die Erweiterung der Nato und die formelle oder informelle Einbeziehung der Ukraine stellen ein Sicherheitsrisiko dar. "Der größte Teil der Ukraine ist von seiner eigenen antinationalen Elite kastriert, vom Westen korrumpiert und mit dem Erreger des militanten Nationalismus infiziert worden."

Das Ziel russischer Politik müsse ein neues System der internationalen Sicherheit und Zusammenarbeit sein, "das diesmal den gesamten Großraum Eurasien einbezieht und auf den Grundsätzen der Vereinten Nationen und des Völkerrechts beruht und nicht auf einseitigen 'Regeln', die der Westen der Welt in den letzten Jahrzehnten aufzuzwingen versucht".

"Ich denke, wir haben es mit der Zentralisierung bereits übertrieben"

Vollkommen unverblümt legt der Autor alles in allem seine Diagnose und die Folgerungen dar, die die russische Führung aus seiner Sicht aus dieser Diagnose ziehen sollte. Dabei spart er nicht mit Vorwürfen an die eigene Führung: Zu lange habe man eine "verbissen defensive Haltung" an den Tag gelegt. Nach 1991 habe man den Kampfeswillen verloren, "die Menschen wollten glauben, dass die Demokratie und der Westen kommen und sie retten würden".

Deutlich wird auch Karaganows Verachtung für die Demokratie in ihrer jetzigen Form: "Ist die Demokratie wirklich die Krönung der politischen Entwicklung?" Es gebe viele Instrumente, "die kommen und gehen, wenn sich die Gesellschaft und die Bedingungen ändern". Er plädiere nicht für grenzenlosen Autoritarismus oder Monarchie. "Ich denke, wir haben es mit der Zentralisierung bereits übertrieben, vor allem auf der Ebene der Kommunalverwaltung."

Trotz solcher Skepsis plädiert Karaganow für eine Bewahrung von Gedanken und Meinungsfreiheit:

Die Einschränkung der politischen Freiheiten, die in der Konfrontation mit dem kollektiven Westen unvermeidlich ist, darf sich keinesfalls auf den geistigen Bereich erstrecken. Selbst in der Außenpolitik bietet uns die Freiheit von ideologischen Zwängen, die wir genießen, massive Vorteile gegenüber unseren engstirnigeren Nachbarn.

Die Geschichte lehre, so der Verfasser, "dass die brutale Einschränkung der Gedankenfreiheit, die das kommunistische Regime seinem Volk auferlegte, die Sowjetunion in den Ruin geführt hat". Die Wahrung der persönlichen Freiheit sei dagegen eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung jeder Nation.