Eine Strategie für Putin: Weltmachtstatus durch "konstruktive Zerstörung"

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"Dieses Mal verlangt die Geschichte, dass wir handeln" - Russische Veröffentlichungen zur außenpolitischen Lage

Was will Putin? Was will die russische Führung jenseits des Präsidenten? Wie lautet die politische Strategie Rußlands? Das ist im Augenblick die Frage, die sich viele stellen. Es ist klar, dass sie niemand eindeutig beantworten kann.

Aber man kann Indizien und Hinweise sammeln, und hier lohnt es sich, sich von der Kaffeesatzleserei westlicher Kommentatoren wegzubewegen, und ein paar, für Westeuropäer etwas entlegenere, russische Quellen zu zitieren, die uns alle, am Tag fünf des Ukraine-Krieges, einer Antwort auf diese entscheidende Frage näherbringen können, indem sie zumindest etwas vom "Mindset" in den russischen Führungsetagen erzählen.

"Eine neue Welt wird vor unseren Augen geboren!"

In der RIA Novosti, einer der größten staatlichen Nachrichtenagenturen in Russland und der früheren Sowjetunion, hieß es am Wochenende:

"Eine neue Welt wird vor unseren Augen geboren. Russlands Militäroperation in der Ukraine hat eine neue Ära eingeläutet – und das gleich in drei Dimensionen."

Russland stelle seine Einheit wieder her - die "Tragödie von 1991, diese schreckliche Katastrophe unserer Geschichte, ihre unnatürliche Verwerfung, ist überwunden", schreibt der Putin-nahe Kommentator Petr Akopow. Es sei zwar gerade ein schrecklicher Bruderkrieg im Gange, "aber es wird keine Ukraine mehr geben als Anti- Russland". Russland versammle seine historische Fülle in seiner Gesamtheit der Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen.

"Die Ukraine zurückzugeben, also an Russland zurückzuverwandeln, würde mit jedem Jahrzehnt schwieriger werden – die Umkodierung, die Entrussifizierung der Russen und die Aufhetzung ukrainischer Kleinrussen gegen Russen würden an Dynamik gewinnen."

Diese "Rückkehr" der Ukraine bedeute nicht, "dass seine Staatlichkeit aufgelöst wird, aber sie wird reorganisiert, wiederhergestellt und in seinen natürlichen Zustand eines Teils der russischen Welt zurückgeführt".

"Die Ära der westlichen Weltherrschaft ist vorbei"

Die Beziehungen zum Westen seien in eine neue Phase eingetreten. "Hat jemand in den alten europäischen Hauptstädten, in Paris und Berlin ernsthaft geglaubt, dass Moskau Kiew aufgeben würde?"

Denn der Aufbau einer neuen Weltordnung – eine multipolare Welt – beschleunige sich. "Denn der Rest der Welt sieht und versteht sehr gut – dies ist ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen, dies ist eine Antwort auf die geopolitische Expansion der Atlantiker, dies ist Russlands Rückkehr seines historischen Raums und seines Platzes in der Welt."

In China, Indien, Lateinamerika, Afrika, der islamischen Welt und in Südostasien glaube niemand, "dass der Westen die Weltordnung anführt, geschweige denn die Spielregeln festlegt. Russland hat den Westen nicht nur herausgefordert, es hat gezeigt, dass die Ära der westlichen Weltherrschaft als vollständig und endgültig vorbei betrachtet werden kann".

War der Artikel zu deutlich und zu hurrapatriotisch? Bemerkenswert ist, dass er in der Zwischenzeit von der offiziellen Seite gelöscht worden ist. Man findet ihn aber im Original noch vollständig im Webarchiv.

Wiedergewinnung eines Weltmachtstatus

Petr Akopow ist kein Einzelfall, sondern nur die lauteste Stimme. Auch ein weitaus grundsätzlich gehaltener Essay eines der einflussreichsten außenpolitischen Strategen Russlands, Sergej Karaganow fällt für den Westen nicht gerade beruhigend aus. "Fehler korrigieren", "härtere Gangart" gegenüber dem Westen, "Hinwendung nach Osten", "intellektuelle Dekolonisierung" sind die wichtigsten Zwischenschritte in einem Prozess, der in die Wiedergewinnung eines Weltmachtstatus' für Russland münden soll.

Diese Zitate entstammen einem Text Karaganows, der in der vergangenen Woche in der renommierten russischen Zeitschrift Russia in Global Affairs veröffentlicht wurde. Der Verfasser ist russischer Politikwissenschaftler, Direktor der Fakultät für Weltpolitik und Wirtschaft an der Moskauer "University Higher School of Economics" und ehemaliger Berater von Wladimir Putin und zuvor von Boris Yeltsin.

Konstruktive Zerstörung: "Brauchen wir wirklich diese neuen Werte?"

Der Schlüsselbegriff des Textes ist allerdings ein anderer, und er fällt gleich im ersten Satz: "Konstruktive Zerstörung", vielleicht angelehnt an die Formel des österreichischen Wirtschaftstheoretikers Joseph Alois Schumpeter (1883-1950), der von der "schöpferischen Zerstörung" sprach.

Das Ultimatum, das Russland den USA und der Nato Ende 2021 stellte und in dem es sie aufforderte, den Ausbau der militärischen Infrastruktur in der Nähe der russischen Grenzen und die Expansion nach Osten einzustellen, markierte den Beginn der "konstruktiven Zerstörung". Das Ziel besteht nicht nur darin, die erlahmende, wenn auch wirklich gefährliche Trägheit des geostrategischen Vorstoßes des Westens zu stoppen, sondern auch damit zu beginnen, den Grundstein für eine neue Art von Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu legen, die sich von dem unterscheiden, was wir in den 1990er Jahren festgelegt haben.

Sergej Karaganow

Die neue Beziehung könne nur auf den Trümmern der alten Sicherheitsarchitektur errichtet werden. Russland profitiere nicht von Europa. Man solle "das dysfunktionale und sich verschlechternde politische System des Westens" nicht kopieren: "Brauchen wir wirklich diese neuen Werte?"

Die bestehende Weltordnung sei in Auflösung begriffen. Russland dürfe aber nicht der Versuchung zum Isolationismus nachgeben: "Dieses Mal verlangt die Geschichte, dass wir handeln."

Karaganow verkündet "eine neue Ära" russischer Außenpolitik, eine "neue Denkweise". Russland solle sich vom Westen abwenden, da von den sich "langsam, aber unausweichlich" zerfallenden Demokratien im Modus der Schadensbegrenzung nichts zu erwarten sei. Ihm entgleite die geopolitische und geoökonomische Unabhängigkeit, man erlebe die "Verschiebung des Gleichgewichts zugunsten Russlands".

Die Aggression der Nato

Die Ukraine-Politik des Westens erscheint durch Karaganows Brille gesehen als Verzweiflungstat: Aggressive Rhetorik, Konsolidierung, Versuch der Trendumkehr. Die Ukraine ist hier der nützliche Idiot, der instrumentell eingesetzt werde, "um Russland zu schaden und zu kastrieren", und zu "Kanonenfutter für einen neuen Kalten Krieg gemacht wurde".

In der Nato habe man versucht, die Forderung nach Sicherheitsgarantien zu unterdrücken. Die Nato stelle sich als "Verteidigungs"-Organisation dar, habe aber tatsächlich eine Reihe aggressiver Militäraktionen durchgeführt: Der Autor nennt Jugoslawien, Irak und Libyen und unterscheidet wohlweislich nicht zwischen Nato-Einsätzen und den Einsätzen einzelner Mitglieder.

Einige Aussagen lassen sich nicht so leicht von der Hand weisen: Zum Beispiel die, dass der Nato die jetzige Konfrontation mit Russland nutzt. Vor wenigen Jahren noch in den Augen des französischen Präsidenten Macron "hirntot", erscheint sie jetzt plötzlich als einzige Hoffnung für die Freiheit des Westens.

Was die Nato betrifft, so ist es ganz klar, was wir tun sollten. Wir müssen die moralische und politische Legitimität des Blocks untergraben und jede institutionelle Partnerschaft ablehnen, da ihre Kontraproduktivität offensichtlich ist.

Sergej Karaganow

Karaganow zweifelt auch daran, dass die USA tatsächlich Atomwaffen einsetzen würden, "um ihre Verbündeten zu 'schützen', wenn es zu einem Konflikt mit einem Atomstaat kommt". Die Nato-Beistandsgarantie sei in der Praxis nichts wert.

"Russland kann keine Großmacht sein, wenn es durch die Ukraine belastet wird"

Karaganows Position gegenüber der Ukraine erscheint dagegen auffallend ambivalent. Einerseits scheint er diesem Staat nicht viel zuzutrauen und empfiehlt russischen Führung, alles was westlich der russischen Grenze liegt, links liegen zu lassen, und sich nach Osten zu wenden, Sibirien zu erschließen, und die Beziehungen zu China, bei der längst eine "De-facto-Bündnispartnerschaft" herrsche, zu entwickeln:

Eine Partnerschaft mit Peking würde das Potenzial beider Länder um ein Vielfaches steigern. ... Wir sollten Peking helfen, wo immer wir können, um zu verhindern, dass es in dem vom Westen entfesselten neuen Kalten Krieg auch nur eine vorübergehende Niederlage erleidet. Eine solche Niederlage würde auch uns schwächen. Außerdem wissen wir nur zu gut, in was sich der Westen verwandelt, wenn er glaubt zu gewinnen.

Sergej Karaganow

Für eine solche Politik sei die Ukraine eher eine Ablenkung: "Russland kann keine Großmacht sein, wenn es durch eine zunehmend schwerfällige Ukraine belastet wird - ein politisches Gebilde, das von Lenin geschaffen wurde und später unter Stalin nach Westen expandierte."

Man könne die Ukraine also ignorieren. Mit einer großen Ausnahme. Die Erweiterung der Nato und die formelle oder informelle Einbeziehung der Ukraine stellen ein Sicherheitsrisiko dar. "Der größte Teil der Ukraine ist von seiner eigenen antinationalen Elite kastriert, vom Westen korrumpiert und mit dem Erreger des militanten Nationalismus infiziert worden."

Das Ziel russischer Politik müsse ein neues System der internationalen Sicherheit und Zusammenarbeit sein, "das diesmal den gesamten Großraum Eurasien einbezieht und auf den Grundsätzen der Vereinten Nationen und des Völkerrechts beruht und nicht auf einseitigen 'Regeln', die der Westen der Welt in den letzten Jahrzehnten aufzuzwingen versucht".

"Ich denke, wir haben es mit der Zentralisierung bereits übertrieben"

Vollkommen unverblümt legt der Autor alles in allem seine Diagnose und die Folgerungen dar, die die russische Führung aus seiner Sicht aus dieser Diagnose ziehen sollte. Dabei spart er nicht mit Vorwürfen an die eigene Führung: Zu lange habe man eine "verbissen defensive Haltung" an den Tag gelegt. Nach 1991 habe man den Kampfeswillen verloren, "die Menschen wollten glauben, dass die Demokratie und der Westen kommen und sie retten würden".

Deutlich wird auch Karaganows Verachtung für die Demokratie in ihrer jetzigen Form: "Ist die Demokratie wirklich die Krönung der politischen Entwicklung?" Es gebe viele Instrumente, "die kommen und gehen, wenn sich die Gesellschaft und die Bedingungen ändern". Er plädiere nicht für grenzenlosen Autoritarismus oder Monarchie. "Ich denke, wir haben es mit der Zentralisierung bereits übertrieben, vor allem auf der Ebene der Kommunalverwaltung."

Trotz solcher Skepsis plädiert Karaganow für eine Bewahrung von Gedanken und Meinungsfreiheit:

Die Einschränkung der politischen Freiheiten, die in der Konfrontation mit dem kollektiven Westen unvermeidlich ist, darf sich keinesfalls auf den geistigen Bereich erstrecken. Selbst in der Außenpolitik bietet uns die Freiheit von ideologischen Zwängen, die wir genießen, massive Vorteile gegenüber unseren engstirnigeren Nachbarn.

Die Geschichte lehre, so der Verfasser, "dass die brutale Einschränkung der Gedankenfreiheit, die das kommunistische Regime seinem Volk auferlegte, die Sowjetunion in den Ruin geführt hat". Die Wahrung der persönlichen Freiheit sei dagegen eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung jeder Nation.