Eine US-Denkfabrik, mutmaßlicher Kreml-Defätismus und die Ukraine-Eskalation

Illustration der Zerstörung nach dem Krieg in der Ukraine

Illustration der Zerstörung nach dem Krieg in der Ukraine. Bild: Melnikov Dmitriy / Shutterstock.com

Neokonservatives ISW ist Taktgeber beim Ukraine-Krieg. Jetzt weist aktueller Bericht russische Vorteile als Manipulation zurück. Und fordert Plan B.

Da das Pendel des Krieges zu Russlands Gunsten ausschlägt und die westliche Allianz erst jetzt den Weg für mehr Hilfe für die Ukraine freimacht, haben viele darauf gewartet, dass das Institute for the Study of War (ISW) seine Meinung dazu äußert, wer die Verantwortung dafür trägt und was zu tun ist.

Matthew Blackburn ist Forscher am Norwegischen Institut für Internationale Angelegenheiten.

Das ISW war einer der am häufigsten zitierten Think-Tanks in der Berichterstattung der Mainstreammedien über den Krieg in der Ukraine und hat eine herausragende Rolle bei der Erzeugung und Aufrechterhaltung des Kriegsoptimismus im Westen in den Jahren 2022 und 2023 gespielt.

"Kagan-Industriekomplex"

In ihren täglichen Schlachtfeldberichten wurden wiederholt ukrainische Siege hochgespielt und russische Misserfolge und Verluste hervorgehoben, wobei fast immer unkritisch die Version aus Kiew wiedergegeben wurde.

Eine solche Berichterstattung ist nicht überraschend, wenn man den besonderen Charakter des ISW als Denkfabrik bedenkt. Finanziert von wichtigen militärischen Auftragnehmern des militärisch-industriellen Komplexes in den USA wie General Dynamics, DynCorps International und CACI International, ist das ISW auch eine Schöpfung des sogenannten "Kagan-Industriekomplexes".

Das Institut wurde von Kimberly Kagan gegründet, der Ehefrau des Militärhistorikers Frederick Kagan, der wiederum der Bruder von Robert Kagan ist, dem Mitbegründer der berüchtigten neokonservativen Denkfabrik "Project for a New American Century".

Es wäre nachlässig, nicht zu erwähnen, dass Robert Kagan mit keiner Geringeren als Victoria Nuland verheiratet ist, die bis vor Kurzem für die Ukraine- und Europapolitik des US-Außenministeriums verantwortlich war.

Russland seine einzige Erfolgsstrategie verweigern

Angesichts der Hardliner- und neokonservativ-ideologischen Ausrichtung der ISW-Führung kann kaum erwartet werden, dass sich ihre Haltung zum Ukraine-Krieg selbst im Lichte neuer Entwicklungen ändern würde.

Doch ihr jüngster Bericht "Denying Russia's Only Strategy for Success" ("Russland seine einzige Erfolgsstrategie verweigern") setzt auf bemerkenswerte Weise noch einen obendrauf. Er stellt nicht nur die jüngste Verschlechterung der militärischen Aussichten der Ukraine als Desinformationskampagne des Kremls dar, sondern ist zugleich ein Aufruf für militärische Eskalation.

Anstatt zu untersuchen, wo das westliche Bündnis versagt hat, oder ein Zugeständnis an Russlands Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit an die Herausforderung des Krieges zu machen, konzentriert sich der ISW-Bericht auf die offensichtliche Übermacht des Kremls im Bereich der "Wahrnehmungsmanipulation".

Der Bericht behauptet, dass der Kreml "den westlichen Diskurs mit falschen und irrelevanten Narrativen überflutet", um die westliche Öffentlichkeit derart zu beeinflussen, dass sie "selbst zu dem Schluss kommt, dass Russlands Sieg in der Ukraine unvermeidlich ist."

Unbequemes wird weggelassen

Bei der Durchsicht der Referenzen, auf die sich der Bericht stützt, wird deutlich, dass die Autoren keine direkten Beweise für Aktivitäten des Kremls haben. Ihre Arbeit stützt sich größtenteils auf andere ISW-Berichte und zitiert Tweets von Elon Musk und David Sacks oder herausgepickte Medienartikel als Beweis dafür, dass der Westen von Russland getäuscht wird.

Während man die zentrale These der russischen Desinformation entfaltet, wird zudem behauptet, dass der Westen Russland in Bezug auf Ressourcen und Technologie weit überlegen sei und das einzig "strategische Klarheit" benötigt werde, um Wladimir Putin zu besiegen.

Angesichts der Tatsache, dass das ISW-Institut sich mit Militärgeschichte auskennen sollte, scheint es kaum vorstellbar, dass sie die zahlreichen historischen Beispiele vergessen haben, in denen Länder mit einem höheren BIP von wirtschaftlich und technisch unterlegenen Gegnern besiegt wurden.

Der ISW-Bericht lässt solche unbequemen Aspekte beiseite und konzentriert sich auf die Verunsicherung im Westen – sei es durch echte Spaltungen und Ängste innerhalb der Nato oder durch Ablenkungen aufgrund anderer Themen. Die Schuld daran wird dem Kreml zugeschoben, wobei unterstellt wird, dass Russland über fast übermenschliche Fähigkeiten verfügt, die Wahrnehmung des Westens zu steuern.

Fehlerhafter Militäranalysen: Irak, Afghanistan und Co.

Es überrascht nicht, dass der Bericht die westlichen Staaten (die im gesamten Text als "wir" und "uns" bezeichnet werden) auffordert, diesen vom Kreml verursachten Nebel aus den Köpfen zu vertreiben.

Mit anderen Worten: Wenn es dem Westen gelingt, den "Defätismus" zu überwinden, sich auf seine zentralen "Werte" und "Tugenden" zu besinnen und zu begreifen, dass die wahre Natur der russischen Bedrohung in ihren Desinformationsfähigkeiten liegt, dann wird der Rest ein Kinderspiel sein. Das westliche Bündnis wird seine "Lücken bei der Mittelbereitstellung" schließen und eine "Welle" an Unterstützung für die Ukraine erzeugen, um Putins Traum von einem russischen Sieg zu zerstören.

Auch hier gibt es keinen einzigen Satz, der sich auf die realen Kriegskapazitäten der Nato oder der Ukraine bezieht. Woher kommt die Munition? Was ist mit den Truppenstärken? Welche Nato-Mitglieder sind bereit, ihr Engagement zu verstärken?

Der ISW-Bericht reiht sich ein in die Liste fehlerhafter Militäranalysen neokonservativer Denkfabriken zu den US-Invasionen in Afghanistan und Irak.

Kämpferische Stimmung stärken

Letztlich dient der ISW-Bericht tatsächlich dazu, die kämpferische Einstellung der Analysten zu stärken, die von pessimistischen Ansichten bezüglich des Kriegsverlaufs überhäuft werden. In dem ISW-Bericht wird die Rede vom Frieden als "Kapitulation" vor Putin abgetan.

Der Bericht tut auch die Einwände jener ab, die eine Eskalation und einen Krieg zwischen der Nato und Russland befürchten, und sagt ausdrücklich, dass der Westen eskalieren muss, um Putins Aggression zu widerstehen. Sich nicht zu wehren, ist gleichbedeutend mit Kapitulation.

Der Diskurs, der die bisherige westliche Diplomatie gegenüber Russland als feige und gescheiterte Beschwichtigungspolitik diskreditiert, ist fest etabliert und wird in dem Bericht wiederholt.

Das ISW geht noch einen Schritt weiter, indem es dazu aufruft, alle "russischen Sichtweisen" für das Verständnis des Konflikts in der Ukraine zurückzuweisen. Das ist ein sicherer Weg, um eine Grundlage für Verhandlungen mit Russland erst gar nicht entstehen zu lassen.

Angriffe auf Russland und asymmetrische Kriegsführung der Nato

Das bringt uns zum entscheidenden letzten Teil des Berichts, in dem die Autoren, nachdem sie eine ganze Reihe von Aspekten als Teil der großen Manipulationskampagne des Kremls "entlarvt" haben, den logischen nächsten Schritt in diesem Krieg skizzieren: eine neue Eskalation.

Das soll erstens geschehen, indem "Russland Schutzzonen verweigert werden", womit die Autoren meinen, die Ukraine zu ermutigen, Ziele innerhalb der Russischen Föderation anzugreifen.

Zweitens fordern sie die Nato auf, neue Formen der asymmetrischen Kriegsführung zu unterstützen, um Russland zu überrumpeln und seine zunehmende Dominanz an den Fronten irgendwie auszugleichen.

Schließlich fordert der Bericht den Westen vage dazu auf, "Russlands Fähigkeiten weltweit ins Visier zu nehmen", was auf Spionage, politische und wirtschaftliche Kriegsführung und vielleicht sogar Terrorismus hinzudeuten scheint.

ISW als entscheidender Akteur im Informationskrieg

Zusammenfassend wird in dem Bericht empfohlen, verschiedene mit Russland verbundene Ziele in die Luft zu jagen, in der Hoffnung, dass dies die russische Sommeroffensive in der Ukraine zum Scheitern bringt.

Der ISW fordert den Westen eindeutig auf, den Einsatz gegen Russland entschlossen zu erhöhen. Bei der Lektüre wird deutlich, welch starken Einfluss die ISW bisher auf die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine ausgeübt hat.

Auffallend ist die Art und Weise, wie sich die Gruppe selbst als entscheidender Akteur entpuppt hat, der nicht objektive und präzise militärische Berichte liefert, sondern einen Informationskrieg führt. Man könnte sogar sagen, dass der ISW selbst "den westlichen Diskurs überflutet", um die öffentliche Meinung in den USA zu dem "freien Schluss" zu bringen, dass eine Eskalation gegen Russland notwendig ist.

Auch wenn genauere Untersuchungen erforderlich sind, scheint es wahrscheinlich, dass die Denkfabrik ISW bei der Verbreitung von Diskursen über den Krieg weitaus erfolgreicher ist als jede Kreml-Agentur.

Plan B

In der Tat hat Russland keinen vergleichbaren globalen Einfluss und keine vergleichbare Reichweite im Informationsbereich wie das ISW. Die Darstellung der eigenen Kriegsziele durch den Kreml bzw. seine Fähigkeit, zentrale Aspekte des Krieges zu kontrollieren, war im Westen eindeutig schwach.

Trotz aller ISW-Behauptungen scheint es, dass Russland eine ernsthaft betriebene "Manipulation der Meinung" im Westen längst zugunsten harter Macht aufgegeben hat.

Während sich für das westliche Bündnis in der Ukraine ein Debakel abzeichnet, bietet das Institute for the Study of War einen Plan B der Eskalation an, um die aktuelle Situation zu lösen.

Da in diesem Monat der Jahrestag der Nato begangen wird, ist zu erwarten, dass ihre Argumente bei verschiedenen Treffen in der westlichen Welt zu hören sein werden. Man kann nur hoffen, dass das Gegenargument für Zurückhaltung vorgebracht werden kann, ohne als Propagandataktik des Kremls abgetan zu werden.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Matthew Blackburn ist Senior Researcher am Norwegischen Institut für Internationale Angelegenheiten, insbesondere in der NUPI-Forschungsgruppe für Russland, Asien und internationalen Handel. Außerdem ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für russische und eurasische Studien an der Universität Uppsala.