"Einige im Westen wollen Taiwan zur nächsten Ukraine machen"

Seite 2: "China organisiert eine atemberaubende Energie- und Emissions-Transformation"

Was sind denn Ihrer Einschätzung nach die schwerwiegendsten medialen Verzerrungen über China? Sie schreiben etwa, dass der Schadstoffausstoß in China in einem falschen Licht dargestellt würde…

Wolfram Elsner: Das Elend des Westens – seiner Medienindustrie, "Dienste", "Denkpanzer" (Think Tanks), und der von den Medien vorangetriebenen Politiker sowieso, aber eben auch seiner Bildungsbürger und (linksliberalen und linken) Intellektuellen – ist, dass sie nichts wirklich wissen (oder wissen wollen) über China, aber glauben, alles zu wissen (während Chines:innen sehr gut über Deutschland, deutsche Geschichte und Kultur Bescheid wissen).

Dass China z.B. eine atemberaubende Energie- und Emissions-Transformation organisiert, jeder zweite gepflanzte Baum in der Welt in China gepflanzt wird, rechnerisch 86 Prozent seiner Emissionen über seine gigantischen neu gepflanzten Waldgebiete wieder aus der Luft holt, eine ökologische Zivilisation auf allen denkbaren Gebieten des Alltagslebens entwickelt, will niemand im hiesigen Medien- und Politzirkus wahrnehmen.

Wenn ich mit meinen Vorträgen durch die Lande reise (physisch und online), wird aus meinem Themenportfolio gern "Ökologie" gewählt, und ich sehe nach 5 Minuten "Facts and Figures" erstaunte Gesichter und offene Münder und höre erstaunte Kommentare.

Ich benutze übrigens gezielt öffentliche, leicht recherchierbare Statistiken, Daten und Analysen von UN-Organisationen, Weltbank, IWF, Statista, US-Unis und sogar Nasa, FBI u.ä. sowie Reiseberichte (aus Xinjiang) von UN-Politikern, Staatsmännern und -frauen und Journalisten nicht-westlicher Länder auf den Uno-Seiten.

Die Zuhörer glauben, dass unsere Medien das auch alles selbstverständlich recherchiert hätten, und fallen dann aus der einen oder anderen Wolke. Welches Thema wir auch immer faktenmäßig im Detail betrachten, seien es Sozialkreditpunkte-Systeme, Bevölkerungs-Politik, Arbeitsrecht, Sozialversicherungen, allgemeines Sozialvertrauen, neue Jugend-, Familien- und Altenpolitik, Antimonopol-Politik gegen IT- und Immobilien-Konzerne, Rückverteilung nach unten usw., die meisten der allgemein zugänglichen Fakten und Studien sind hier völlig unbekannt.

Stattdessen viele Mythen und bestenfalls Wissensstände von vor 15 bis 20 Jahren.

"Verbrechen im Individualbereich werden milder bestraft als in den USA"

Gleichzeitig wird in China am häufigsten weltweit die Todesstrafe vollzogen. Wie passt das zu Ihrem positiven China-Bild?

Wolfram Elsner: Da geht auch oft einiges durcheinander, auch weil es natürlich ein stark emotionalisiertes Thema ist. Die Amnesty-Schätzungen besagen das so, ja.

Gemessen an der Bevölkerungsgröße relativieren sich die absolute Zahlen erheblich, wie immer bei China, und das Land liegt keineswegs auf Platz 1 bei der Todesstrafe. Wir denken in Größenordnungen von Deutschland, 83 Millionen, aber nicht in der 17-fachen Größenordnung. Es soll hier nichts heruntergespielt werden, es sollte aber begriffen werden.

Noch heute werden Urteile zu den terroristischen Massakern der ETIM-Terroristen vollstreckt, die bis 2016 über Chinas Westgrenzen eingeschleust wurden und in Xinjiang gewütet haben. Auch noch Urteile aus der Zeit des "Wilden Ostens" bis in die 2000er, mit erheblicher wildwüchsiger Finanz-, Korruptions- und organisierter Allgemein-Kriminalität.

Ich habe mit chinesischen Kollegen über die Todesstrafe in China gesprochen, geschätzte, bekannte, auch westlich sozialisierte Ökonom:innen und Juraprofessor:innen, die keine Probleme damit haben, wo nötig ihre Regierung zu kritisieren. Mein Argument: "Das habt ihr doch längst nicht mehr nötig. Der Bürgerkrieg ist lange vorbei."

Ihre Antwort: "Ihr verseht unsere konfuzianische Kulturtradition nicht. Verbrechen im Individualbereich werden bei uns sogar milder bestraft als z.B. in den USA, aber bei Verbrechen gegen die Allgemeinheit, einschließlich Umwelt und Finanzsystem, muss die Gesellschaft sich wehren."

Bei fast 4.000 Jahren chinesischer Hochkultur kann ich nicht einfach unterstellen, dass das primtive diktatorische Mentalität ist. Hat es mit gesellschaftlicher evolutionärer "Fitness" zu tun, wie so oft bei sozialen Institutionen, die wir nicht auf den ersten Blick verstehen? Ich bin auch nach vielen China-Besuchen immer noch damit beschäftigt, das andere, chinesische Wertesystem in dieser Frage zu verstehen.

"Der Kapitalismus hat die produktive Dynamik des klassischen Industriekapitalismus verloren"

Sie argumentieren in Ihrem Buch so, dass in den westlichen Ländern der Kapitalismus in eine Degenerationsphase eingetreten sei, insofern die mittlerweile weitgehend unkontrollierten Kräfte des Marktes zu starken Konzentrationsmechanismen führen, die es Großkonzernen und Lobbies mittlerweile erlauben, ihre neoliberale Politik über ihre monetäre Macht den politischen Entscheidungsträgern aufzuoktroyieren, was wiederum zu sozialen Verwerfungen führt. Was macht hier China anders?

Wolfram Elsner: In der Tat, die "Kräfte des Marktes" existieren im Westen nicht mehr, wie im Lehrbuch und der Alltagsideologie unterstellt. Nichts degeneriert so schnell in sein Gegenteil wie ein unregulierter Markt. Hin zu was? Zunächst zu engen Oligopolen in allen Sektoren, dann zu Finanz-Industrie-Hubs, die Zehntausende von Unternehmen in mehreren Abhängigkeitsschichten beherrschen.

Globale Netzwerkanalysen haben das zum Vorschein gebracht. Die weltweite Medienindustrie z.B. ist ein System von wenigen Oligarchen. Paul Sethe hätte sich gar nicht vorstellen können, wie sehr seine dystopische Charakterisierung der Medien übertroffen wurde.

Mit dem Neoliberalismus (weder "neo" noch liberal) kamen Entstaatlichung, Privatisierung und Finanzialisierung, und der Kapitalismus änderte seinen Charakter von einer Kultur des Produzierens und Innovierens zu einer des Umverteilens von unten nach oben.

Später, in der Degenerationsphase, nach mehr als vier Jahrzehnten Neoliberalismus, ist aus Oligopolen, Oligarch:innen, Finanzunternehmen und Multimilliardären ein autoritäres Herrschaftssystem einer Plutokratie entstanden.

Die "0,1 Prozent" gewinnen, was auch immer passiert, gerade auch wenn "das Blut auf den Straßen fließt", also in Krisen, nicht zuletzt zwangsunterstützt von den Steuerzahler:innen. Sie besitzen große Landflächen, Swaps auf mehrfache weltweite Jahresernten an Weizen, gewinnen an der (und machen) Inflation und blasen das fiktive Geld-Kapital durch ihre Derivate-Pyramiden auf.

Der Kapitalismus hat so die produktive Dynamik des klassischen Industriekapitalismus verloren, und Korruption ist zum Kern des Kerns des Spät-Neoliberalismus geworden. Während die Gesellschaft immer größere Armutsbereiche aufweist, große soziale Innovationspotentiale also brachliegen, die Gesellschaft fragmentiert, Gewalt, Gewaltverherrlichung und neue Todeskulte sich ausbreiten.

Ich will nicht nostalgisch werden, auch der klassische keynesianisch regulierte Industriekapitalismus der 1970er ist ja gescheitert, an Verteilungskämpfen und resultierender Stagflation. Wir müssten einen regulierten, leistungsfähigen Kapitalismus neu erfinden, auch, um etwa weltweit attraktiver Kooperationspartner (nicht zuletzt für China) zu bleiben.

Und was macht China hier anders?

Wolfram Elsner: Ich haben in meinen Büchern über China und den Westen beschrieben, wie China Millionen Menschen und Millionen junge Gründer zu technischen und sozialen Innovationen mobilisiert.

Ein neuartiges Verhältnis von Regulierung, Standardisierung, Gehenlassen, Experimentieren, gemeinsamem Lernen (einschließlich der Behörden, die gleichberechtigt an den Diskussionen in den Netzwerken teilnehmen), neuer Standardisierung, erneutem Gehenlassen usw. Ich habe das als agile Industrie-, Umwelt- und Sozialpolitiken beschrieben.

Das begreifen hier die wenigsten, eurozentrierte Marxologen und Marxianer inbegriffen. Unsere Ingenieure, Techniker, Manager und Wissenschaftler mit Chinaerfahrung haben es begriffen. Und wissen daher, dass es schlecht um uns steht, wenn wir nicht die Kraft zur eigenen Neuerfindung aufbringen.

Aber wer soll es noch machen? Eine aufgeheizte Medien- und Politiklandschaft in Niedergangspanik, mit einem Staat, der organisatorisch kaum noch nötigste Infrastrukturen und Dienstleistungen bereitstellen kann?

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