Emil und der Liebestod
Seite 2: Große neue Dinge
Rudolf Virchow, der Vater der modernen Pathologie, hatte an der Märzrevolution von 1848 teilgenommen, war Mitbegründer der liberalen Fortschrittspartei, für die er im Reichstag saß, Anthropologe, Ethnologe und auch Archäologe. Der Film nützt das beständig zu seiner Desavouierung. Bei einem vereinbarten Termin mit Robert Koch lässt Virchow sich entschuldigen, weil er keine Zeit hat, sich "den Mikrobenzirkus des Herrn Dr. Koch vorführen zu lassen". Vorgeführt wird nur Virchow. Er ist wieder von Schädeln und Skeletten umgeben. Die Kamera schwenkt von ihm auf eines der Gerippe, das der Requisiteur vorher angestoßen hat, damit die Knochenhände hin und her schwingen wie in der Geisterbahn. Virchow sagt einem seiner Mitarbeiter, dass er sich entschlossen habe, den Ehrenvorsitz des "Vereins für märkische Gräberfunde" anzunehmen und geht dann das Manuskript seiner Reichstagsrede durch, damit wir wissen, wo er und seine politischen Überzeugungen hingehören (Virchow war ein Gegner Bismarcks und der deutschen Kolonialpolitik, trat für Abrüstung, Minderheitenrechte und ein vereintes Europa ein, lehnte den Antisemitismus entschieden ab). Mit der Handlung haben die Skelette und die märkischen Gräberfunde nichts zu tun. Sie sind einzig und allein zur Diffamierung da.
Steinhoff beweist hier wieder, wie gut er das Publikum manipulieren kann. Koch, suggeriert der Film, steht für das Neue, den Fortschritt und das Leben; Virchow für das Alte, das Rückwärtsgewandte und den Tod. Also - Vorsicht vor unerwünschten Assoziationen! - sollte man den Helden nicht in einem Bild mit den Skeletten zeigen. Virchow darf ihn deshalb gar nicht erst zu sich vorlassen. Zugleich setzt sich der Medizinpapst ins Unrecht, handelt er als starrsinniger alter Mann, der den Kontakt zur Gegenwart verloren hat, wenn er dem genialen jüngeren Kollegen ein Treffen verweigert. Die Propaganda schlägt da zwei Fliegen mit einer Klappe, und am Schluss der Szene sogar noch eine dritte. Um dem im Vorzimmer wartenden Vertreter der neuen Forschergeneration nicht begegnen zu müssen schleicht sich Virchow durch die Hintertür aus dem Gebäude. Ein solch feiges Verhalten ist dem Helden im NS-Propagandafilm völlig fremd. Koch geht keinem Konflikt aus dem Weg, weil er weiß, dass er für das (einzig) Richtige kämpft.
Eine interessante Figur ist Dr. Gaffky, der Kochs Forschungsergebnisse für bedeutend hält und sich bei Virchow für ihn verwendet, bei seinem Chef aber auf taube Ohren stößt. Ihn spielt Theodor Loos, früher König Gunther in Langs Die Nibelungen und dann, zusammen mit Tobis-Produktionschef Demandowsky, Funktionär in der nationalsozialistischen Kameradschaft der Deutschen Künstler. An Gaffky kann man sehen, wie der Film die Fakten so umarrangiert, dass Propaganda daraus wird. Als Koch an das Kaiserliche Gesundheitsamt berufen wurde wies man ihm zwei Assistenten zu, die Militärärzte Friedrich Loeffler und Georg Gaffky (so auch nachzulesen in Ungers Roman eines großen Lebens). In Bekämpfer des Todes ist Gaffky zuerst der Assistent von Virchow. Angesichts von dessen Blockadehaltung bittet er Koch, für ihn arbeiten zu dürfen. In NS-Propagandafilmen ist das immer so. Der Führer ist seiner Zeit voraus, kämpft gegen die Widerstände der Etablierten und findet Jünger, die an ihn glauben und sich ihm anschließen. Das Alte stirbt ab, das Neue ist im Wachsen.
"Ich glaube an Sie", sagt Dr. Gaffky ergriffen, "und an Ihr Werk." "Dann kommen Sie", erwidert Koch. "Ich kann jetzt jede Hand gebrauchen." "Ich danke Ihnen", sagt Dr. Gaffky. "Wenn ich nur begreifen könnte, warum die Menschen es Ihnen so schwer machen." Koch weiß es und blickt visionär in die Zukunft: "Große neue Dinge werden in der Regel von der Welt nicht verstanden. Dann werden sie bekämpft, und schließlich … sind sie selbstverständlich." Mit dabei steht Dr. Fritz von Hartwig, der den Film nicht überleben wird. Zu den großen neuen Dingen gehört, dass Jünger für ihren Glauben sterben. In einem Land, das sich seit der Machtübernahme des Diktators auf einen Krieg vorbereitete, war das eine der wichtigsten Botschaften überhaupt. Junge Leute müssen sterben, damit das Land gesunden kann. Am widerlichsten daran ist, dass es vorzugsweise begeisterungsfähige junge Menschen sind, die über die Klinge springen müssen (und das gern tun, weil es für den Führer und seine Vision von einer besseren Welt ist). Ihnen galt die besondere Aufmerksamkeit der Propaganda.
Rededuell mit dem Leichenheini
Dr. Gaffky empfiehlt Dr. Koch, den Reichstag zu besuchen, wo "eine große außenpolitische Debatte" anstehe. Das Drehbuch gibt sich einige Mühe, diesen Ausflug in die Politik zu motivieren (Koch geht hin, weil er hofft, dort endlich Virchow zu treffen, und irgendwie auch, weil er ein staatsbürgerliches Interesse hat), aber etwas überraschend ist er doch, zumindest auf der Handlungsebene. Was macht eine Reichstagsdebatte zur Außenpolitik in einem Film über die Tuberkuloseforschung? Bei der Auslandspremiere in Venedig gab es offenbar Kritik am Rededuell zwischen Bismarck und Virchow sowie an der Ausstattung von Virchows Arbeitszimmer. Tags darauf, beim Presseempfang im Hotel Excelsior, begegnete Steinhoff den Einwänden - laut Film-Kurier (11.8.1939) - "in launiger Form" und mit der Versicherung, die "von Bismarck im Film gehaltene Reichstagsrede, deren Formulierung heute so aktuell anmute, sei der originale Wortlaut der seinerzeitigen Rede, der nichts hinzugefügt wurde. Auch die Überzahl der Skelette in Virchows Arbeitszimmer sei nicht erfunden worden, sondern authentisch."
Die Schlüsselworte sind "heute so aktuell anmute". Beim Verfertigen seiner Version von der Vergangenheit verlor Steinhoff nie die Gegenwart des Dritten Reichs aus dem Blick, die sich in ihr spiegelt. Ob Bismarck jemals diese Rede hielt, ob sie im Wortlaut übernommen, bearbeitet oder frei erfunden wurde, ist für ihre propagandistische Funktion im Film so wenig von Bedeutung wie die Frage, wie viele Skelette der echte Virchow in seinem Arbeitszimmer stehen hatte. Werner Krauß wird damit zugestellt, weil der von ihm gespielte Charakter selbst wie eines wirken soll. Die Behauptung des Authentischen ist nur ein Trick. Die angebliche Reproduktion der "Wirklichkeit" soll davon ablenken, dass der Film ein Konstrukt zur Verbreitung ideologischer Botschaften ist.
Die Reichstagsszene beginnt mit Gebrüll, gegenseitigen Beschimpfungen und allgemeinem Durcheinander. Virchow hat mit seiner Rede einen Tumult ausgelöst, damit Steinhoff Bilder vom Parlamentarismus als peinliche Veranstaltung zeigen kann. Für die Nazis war der Reichstag ein Versammlungsort von Narren und dummen Schwätzern, die dort als Gesetzgeber auf das deutsche Volk losgelassen wurden. Von einem nationalsozialistischen Film sollte man keine positive Darstellung dieser "Quasselbude" erwarten. Nachdem der Parlamentspräsident für Ruhe gesorgt hat kann Virchow seine Rede fortsetzen. Er erklärt, dass die Phantasie in allen Bereichen des Lebens "von Übel" sei (die Phantasie, die man braucht, um sich die von Koch angekündigten "großen neuen Dinge" vorzustellen) und lehnt im Namen der Opposition Bismarcks Außenpolitik ab, die "zu neuen Verwirrungen und neuen Verwicklungen" und "zu einer Katastrophe" führen werde.
Virchow wird uns als ein Mann präsentiert, der das Neue ablehnt, weil es neu ist und er ein dem Alten verhafteter Tattergreis, der mit einem Bein im Grab steht. Eine inhaltliche Begründung bleibt er schuldig, weil man ihm keine in das Dialogbuch geschrieben hat. Stattdessen verweist er auf ausländische Zeitungen: "Lesen Sie die Presse des Auslands. Sie werden meine Antwort bestätigt finden." Wenn das kein Skandal ist, ein Abgrund an Landesverrat sogar. Schon geht der Tumult wieder los. Jemand schmäht Virchow als "Leichenheini", und das gebückte Männlein geht zurück zu seinem Platz, während der Präsident dem Herrn Reichskanzler das Wort erteilt. In der Totalen, die Steinhoff für Virchows Abgang reserviert hat, könnte man den Medizinpapst fast übersehen. Bismarck hingegen, respektvoll aus Untersicht aufgenommen und selbstverständlich in Uniform, dominiert das Bild, wenn er sich erhebt, um dem Vorredner die gebührende Antwort zu erteilen.
Mit Friedrich Otto Fischer spielt den "Eisernen Kanzler" derselbe Darsteller, der zwei Jahre später, in Carl Peters, den Helden nach Afrika schicken sollte, um Kolonien für das Deutsche Reich zu ergaunern und den Engländern zu zeigen, wo der Hammer hängt. Hier gibt er den Patriarchen, der sich dem Gezänk in der Quasselbude aussetzt, weil es eben sein muss (solange man ein Parlament hat, das die Nazis nicht auf das rechte Maß gestutzt haben). Einleitend macht sich der Kanzler über Virchow lustig, dessen Beurteilungen in der großen Politik bisher immer falsch gewesen seien und der anderen Leuten gern Zensuren erteile wie ein Lehrer. Wer fällt einem da ein? Der Schullehrer von Wollstein vielleicht? Es konnte nicht schaden, dürften sich die Autoren gedacht haben, an diesen Dummkopf zu erinnern. Er ist die Provinzausgabe von Rudolf Virchow. Beide glauben nicht an die "großen neuen Dinge", die von Koch und Bismarck vertreten werden. Der eine schreibt einen anonymen Schmähartikel im "Wollsteiner Anzeiger", der andere ist der Komplize der ausländischen Lügenpresse. Da es sich um Propaganda handelt und nicht um ein Zeitdokument aus der Bismarck-Ära ist auf der Tonspur nur Gelächter zu hören, kein Protest. Virchows Parteifreunde, die wir eben erst als undisziplinierten Haufen von Krakeelern kennengelernt haben (typisch Parlament!), klatschen mit, statt den Regierungschef auszubuhen. Steinhoff und Kollegen sind da sehr flexibel. Sie nehmen, was gerade passt.
"Die Rechnung wird an irgendeinem Tage präsentiert"
Der Kanzler wird jetzt wütend, weil es um das Wohl des Staates geht. Um ihn herum wird es ganz still. Alle hören gebannt zu, auch Virchow und seine Leute von der Fortschrittspartei, die wir im Film mit Rückständigkeit assoziieren sollen. "Wenn aber der Herr Abgeordnete mir prophezeit, dass meine Politik Verwirrungen und Verwicklungen hervorrufen würde und dabei auf die Presse des Auslandes verweist, so will ich ihm darauf Folgendes erwidern: Wenn vom Auslande drohende Zeitungsartikel gegen das Reich gerichtet werden, so möchte ich den Herrn Abgeordneten bitten, seine Ermahnungen über auswärtige Politik doch hauptsächlich an das Ausland zu richten. Diese Drohungen, meine Herren, die wir von der ausländischen Presse erfahren, sind eigentlich eine unglaubliche Dummheit. Wenn man glaubt, eine große und stolze Macht, wie das Deutsche Reich, durch eine gewisse drohende Gestaltung von Druckerschwärze auf Papier einschüchtern zu können - so irrt man sich! Jedes Land ist auf die Dauer für Schäden, die seine Presse anrichtet, irgendeinmal verantwortlich. Die Rechnung wird an irgendeinem Tage präsentiert, in der Verstimmung des anderen Landes!"
Steinhoffs Biograph Horst Claus meint, dass die Rede und ihr aggressiver Ton auf den Propagandaminister zurückzuführen seien. Sprachduktus und Wortwahl erinnern tatsächlich sehr an Goebbels, der im März 1939, als die Filmemacher die letzte Fassung des Drehbuchs erstellten, auf die Engländer und die Franzosen eindrosch, weil diese gegen den Einmarsch der Wehrmacht in Prag und gegen Hitlers Proklamation des "Protektorats Böhmen und Mähren" protestierten. Der britische Premierminister Chamberlain hielt eine ratlos wirkende Rede, in der er den Bruch des Münchner Abkommens beklagte und fragte, ob die Nationalsozialisten nun versuchen würden, "die Welt durch Gewalt zu beherrschen"? In Deutschland war die Stimmung trotz (oder wegen) der Bilder von Hitlers Triumphzug auf dem Hradschin äußerst schlecht. Also wurden die gleichgeschalteten Medien in die Propagandaschlacht geschickt.
Goebbels’ Tagebuch, 19.3.1939: "Ich lasse gegen Chamberlain in der Presse scharf polemisieren. Am Nachmittag kommt eine scharfe amtliche Erklärung aus London. […] Aber das ist wohl nur Theaterdonner. Was wollen denn diese Demokraten noch außer protestieren. […] Die deutsche Presse wird das auch so von obenher behandeln." Tags darauf diktierte er für den Völkischen Beobachter den Leitartikel "Aussprache mit der Demokratie unter vier Augen". Tagebuch, 20.3.: "Eine scharfe Abrechnung mit den Engländern und ihrer Heuchelei. Ich glaube, das wird hinschlagen. Unterredung mit den 3 Produktionschefs unserer Filmfirmen. Ich entwickle meine Gedanken zur neuen Filmführung." Am 21. März schreibt er, dass nun die tschechische Presse "unter Kontrolle genommen" werde, und am 23. März ist er euphorisch: "[…] ein toller, wilder Tag. Mein Aufsatz gegen die englische Moralheuchelei schlägt wie eine Bombe ein. Die ganze deutsche Presse haut in dieselbe Kerbe. England wird zugedeckt. Das ist ein richtiges Haberfeldtreiben."
Der "Eiserne Kanzler" war gut geeignet als Filmfigur, die den Ausländern endlich mal die Meinung geigt, weil Goebbels sich mit dem Führer darin einig war, "Bismarck dem feigen Kaiser Wilhelm II. gegenüber rehabilitieren" zu müssen, wie er nach dem Studium einer Rede in sein Tagebuch schrieb (13.2.1939), die Hitler beim Stapellauf des Schlachtschiffs Bismarck halten wollte (zusammen mit der Tirpitz bildete die 1941 von der britischen Marine versenkte Bismarck die "Bismarck-Klasse" der Großkampfschiffe). "Wir können durch Liebe und Wohlwollen leicht bestochen werden", sagt der Reichskanzler am Ende seiner Rede, "vielleicht zu leicht - aber durch Drohungen ganz gewiss nicht! Ein Appell an die Furcht hat im deutschen Herzen niemals ein Echo gefunden!" Dann stehen alle auf und jubeln. Auch die Opposition macht bei den Standing Ovations mit, weil sie in der patriotischen Aufwallung der Gefühle vergessen hat, dass sie Bismarcks Politik "von A bis Z" ablehnt, wie Virchow kurz davor noch sagen durfte. Virchow ist der Düpierte, weil Steinhoff die Statisten angewiesen hat, den Kanzler unisono zu feiern.
Im Foyer des Reichstags hören Dr. Koch und Dr. von Hartwig die Bravo-Rufe, und sie erhaschen auch einen Blick in das Plenum, denn praktischerweise hat jemand die Tür aufgemacht. Damit ist akustisch wie visuell die Verbindung zwischen medizinischer Forschung und Politik hergestellt. Bismarck kämpft gegen die schädliche Auslandspresse und gegen Leute wie Virchow, die sich von den ausländischen Lügenblättern die Meinung diktieren lassen. Koch kämpft gegen den Tuberkuloseerreger, der von außen kommt und den gesunden Körper befällt. Wohl dem, der solche großen Männer hat.
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