Emil und der Liebestod
Seite 5: Todeswalzer
Vor dem Rednerpult im Physiologischen Institut ist eine Reihe von Mikroskopen aufgebaut. Koch bittet Virchow als erste der Koryphäen, sich die Ergebnisse seiner Arbeit anzuschauen. Da ist er also nun, der hinterhältige Gesell, im grellen Licht des Spiegels unterm Mikroskop, dem er nicht entschleichen kann (Unger). Jannings kommentiert, was uns der Film zeigt. Erste Einstellung: "Sie sehen das mikroskopische Bild eines durch Tuberkulose zerstörten Lungengewebes. Der Erreger ist nicht sichtbar." Zweite Einstellung: "Durch Färbung mit Methylenblau und braunem Vesuvin ist es mir gelungen, den Erreger sichtbar zu machen. Die deutlich erkennbaren blauen Stäbchen sind die Tuberkelbazillen, die Erreger der Krankheit." Die Tobis spendierte dafür ein Stück Agfacolorfilm. In Ungers Biographie sieht man S-förmige Gebilde. Das könnte unerwünschte Assoziationen wecken. Stäbchen sind viel besser. Ich frage mich, ob man sie animieren und so anordnen könnte, dass sie ein Hexagramm ergeben? Auf die Idee bringt mich das Ende von Die Rothschilds. Die Niederlassungen des Bankhauses sind da Punkte auf der Weltkarte. Wenn man sie verbindet erhält man einen Davidstern.
Wie Virchow die Bilder im Mikroskop interpretiert bleibt vorerst offen. Er dankt für den "interessanten Vortrag" und geht zum Hofball. Für Koch ist das ein Affront. Alle warten auf das Urteil des Medizinpapstes, und der verschwindet, ohne sich zu äußern. Dr. Koch eilt nun zum Krankenbett des schlafenden Fritz. "Er weiß, wie es um ihn steht", sagt Schwester Else. "Aber er spricht nur von Ihnen." Warum eigentlich? Warum spricht er nicht von Else, die er liebt und die er heiraten wollte? Später, in den letzten Minuten seines Lebens, wird er nach Dr. Koch fragen, dann ist er tot. Für Else ist es sicher ein erhebendes Gefühl, dass ihr Liebster bis zum Schluss weiß, wer der Fixstern in seinem Leben ist. Sollte es heute noch Frauen geben, die diesen Mist gut finden: Bitte sehr. Während Koch nun durch seine Kranken- und Versuchsstation in der Charité geht (in den Betten liegt das menschliche "Material", als das Virchow die Kranken bezeichnet hat, und nicht anders werden sie vom Film behandelt), trifft der Medizinpapst beim Hofball ein. Die Ballszenen wurden in einer dem Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses nachgebauten Dekoration gedreht, mit einem Gemälde des durch seine historisierenden Bilder vom Leben Friedrichs des Großen zum "Maler Preußens" avancierten Adolph Menzel als Vorlage.
Die Paare tanzen zu einem Walzer, den Wolfgang Zeller, der Komponist des Films, vorab aufgenommen hatte. Über ihnen schwebt der Tod. Eine Kranfahrt führt uns an der unbeschwert tanzenden Hofgesellschaft vorbei, und dann an einer dunklen Säule, die das Bild ausfüllt. Wenn die Tanzenden wieder auftauchen ist eine transparente Leinwand vor den Bildausschnitt gespannt. Darauf fallen die dunklen Schatten von Tänzern, die sich drehen wie in einem Karussell des Todes. Zellers Musik hat urplötzlich etwas Unheimliches, und Steinhoff überblendet auf Robert Koch in der Charité, der sich anschickt, einen "interessanten Fall von Miliartuberkulose" (die schwerste Form, mit vielen Krankheitsherden) zu sezieren.
Auf dem Seziertisch liegt eine nackte junge Frau. Wir sehen ihre Brüste. Ein Bild von Koch mit der nackten Toten, die Brüste gut sichtbar, schmückte auch die Titelseite des Illustrierten Film-Kuriers. Ein Standphoto mit dem die Tote aufdeckenden Emil Jannings konnte man als Post- und Autogrammkarte kaufen. Da fragt man sich: Warum? Sollen auch die Nekrophilen zu ihrem Recht kommen? Muss man den Sex und die Erotik nehmen, wo man sie kriegt, wenn die lebendigen Frauen in schwarzer Schwesterntracht herumlaufen und ihrem Liebsten höchstens starken Kaffee bringen, damit er weiterarbeiten und sich für die großen neuen Dinge opfern kann? Vermutlich eher nicht. Meine Interpretation geht so (wobei ich zugebe, dass mich diese Nackte nach wie vor verstört): Von Koch und der Toten auf dem Seziertisch wird wieder auf den Hofball überblendet. Vor Kaiser Wilhelm I. stehen drei junge Damen, machen einen Hofknicks und bieten tiefe Einblicke in ihr Dekolleté. Prompt wird Virchow gemeldet, tritt vor den Kaiser und macht einen Diener. "Irren ist menschlich", sagt der Monarch beim freundlichen Geplauder. Virchow erwidert: "In meinem Beruf, Majestät, ist Irren leider tödlich."
Eben. Umso wichtiger ist es, dass die Medizin (und die Politik) den Erreger identifiziert und sichtbar macht, damit man ihn bekämpfen und vernichten kann. Von Virchow wird auf Koch überblendet, der das Leichentuch über die Tote breitet, weil er die Sektion beendet und vom Tuberkelbazillus befallenes Gewebe entnommen hat, um dem Feind weiter nachzuspüren. Tut man es nicht, sagt der Film, werden bald auch die jungen Damen vom Hofball auf dem Seziertisch liegen. Die feine Gesellschaft im Schloss des Kaisers tanzt ihrem Untergang entgegen, ohne es zu wissen. Darum sind wir vom Glanz des Ballsaals unversehens in einem Horrorfilm gelandet. Der Bekämpfer des Todes nimmt da die unheimliche Stimmung wieder auf, mit der er angefangen hat, mit Kochs Fahrt durch den Wald und zum kleinen Marthelchen. Alles Weitere ist im 10. Kapitel des ersten Bandes von Mein Kampf nachzulesen ("Ursachen des Zusammenbruchs"). Behandelt werden die Gründe für den Zerfall des Kaiserreichs, die Tuberkulose als sozio-politisch aufgeladene Metapher inklusive.
Ein Schatten schleicht durch die Nacht
Gruselig wird die Geschichte fortgesetzt. Der ganz in Schwarz gekleidete Virchow geht vom Hofball zur Charité. Da sitzt Koch inmitten von Leichen und betrachtet den Erreger im Mikroskop. Außer der unheilschwangeren Musik von Wolfgang Zeller ist nichts zu hören. Das gibt der Szene etwas Irreales. Geräuschlos geht Virchow zu Koch, der erschrickt, wenn er bemerkt, dass dieser hinter ihm steht. So könnte man eine Sterbeszene inszenieren. Der Tod, dargestellt als alter Mann mit langem schwarzen Mantel und Zylinder, holt sich sein nächstes Opfer. So ähnlich machte es Fritz Lang in Der müde Tod, mit Bernhard Goetzke, dem hoffnungslosen Tuberkulosefall in Wollstein, als dem Tod. Überhaupt hat Robert Koch dem Kino von Weimar viel zu verdanken, und seinem Kameramann Fritz Arno Wagner, der schon beim Müden Tod, bei Nosferatu, Schatten und Das Testament des Dr. Mabuse mit dabei war.
Virchow blickt in das Mikroskop und kommentiert: "Ein frisch seziertes Lungengewebe. Interessant. Am Rande des tuberkulösen Herdes verfallen die Zellen, und der Tuberkelbazillus wird hier seltener und fehlt am Ende vollends." Woraus zu schließen wäre: "Der Tuberkelbazillus entfaltet sich mit Vorliebe im frisch infizierten Gewebe. Die abgestorbene Zelle interessiert den Bazillus nicht mehr, sie ist ja auch nach meiner Theorie tot." So kann man es bei Hitlers Ideengeber Theodor Fritsch nachlesen, im Handbuch der Judenfrage. Das antisemitische Konstrukt vom "Juden" als Parasit dringt in den "Wirtskörper" ein, zersetzt ihn und sucht sich einen neuen, wenn der alte abgestorben ist. "Was soll das heißen?", fragt Koch. Virchows Antwort: "Dass die rein parasitische Natur Ihres Tuberkelbazillus auch von dieser Seite aus als erwiesen anzusehen ist."
Man darf hinzufügen, dass Virchow den Bazillus nur sehen kann, weil das infizierte Gewebe braun eingefärbt ist. Wir sind hier in einer Welt des Todes, weil Koch das nur bei den Leichen machen kann, nicht bei den Lebenden (mit Nazibraun). Nur wer weiß, wo er steckt, der getarnte und seiner Umgebung angepasste Parasit, kann ihn vernichten. Wenn ich das hier so hinschreibe klingt es furchtbar platt. Der Film verbindet aber sehr geschickt die Bedeutungsebenen, mit dem deutschen Volkskörper als Patienten und der Tuberkulose als Metapher für eine politische und gesellschaftliche Erkrankung. Was als holzhammerartiger Indoktrinationsversuch hätte enden können, wird durch ein sorgfältig konstruiertes Drehbuch, eine subtile Inszenierung und erstklassige Schauspielerleistungen zur geglückten Propaganda.
Virchow ist von Skeletten umgeben, Koch von Leichen. Alles irgendwie dasselbe, könnte man meinen. Doch das "Material", mit dem sie arbeiten, markiert den Unterschied zwischen den beiden. Virchow rekonstruiert uralte Schädel. Koch hat es mit "frisch infiziertem Gewebe" zu tun, mit Kranken und mit frisch Verstorbenen. Das gibt der Aufgabe ihre Dringlichkeit. Der Erreger muss aufgespürt und bekämpft werden, damit er nicht noch mehr Gewebe befällt. Virchow ist in diesem Szenario nicht der Tod, höchstens sein Handlanger. Durch sein verbohrtes Festhalten an der Theorie, dass die Krankheit im Körper angelegt ist und nicht durch einen von außen kommenden Erreger hervorgerufen wird, hat man wertvolle Zeit verloren, die gebraucht wird, um die wilhelminische Gesellschaft vor der Infektionskrankheit zu schützen. Das macht Virchow zum Totengräber dieser Gesellschaft, die im Schloss Walzer tanzt, während sich die beiden Forscher in der Pathologie begegnen und der Vertreter der falschen Wissenschaft (keine Infektion durch Tuberkelbazillen = Juden oder andere Feinde, die man bei solchen Nazimodellen beliebig einsetzen kann) seine Niederlage eingesteht. Es ist daher nur folgerichtig (und wird durch die Inszenierung unterstützt), wenn Koch dem langjährigen Medizinpapst vorwirft, er komme "wie der Schatten eines schlechten Gewissens durch die Nacht mir nachgeschlichen".
"Vergessen wir doch in diesem Kampf, dass wir Menschen sind"
Auf der Handlungsebene bezieht sich das schlechte Gewissen darauf, dass Virchow erst jetzt spricht, unter vier Augen, und öffentlich geschwiegen hat, beim Vortrag im Physiologischen Institut. Koch ist darüber sehr erbost und hält es "für eine beispiellose Niedertracht, […] wenn man nicht den Mut hat, an die Öffentlichkeit zu treten und zu sagen: Ich bekenne mich geschlagen. Der Gegner hat recht." Und weiter: "Das ist das Erbärmlichste, was man in solchem Augenblick tun kann." Damit tritt Jannings aus der Einstellung, um die Bühne frei zu machen für Werner Krauß und eine seiner Virtuosendarbietungen. "Glauben Sie vielleicht, es sei leicht, seine eigene Theorie über Nacht preiszugeben, an der man 40 Jahre lang gearbeitet hat?", fragt Virchow. Krauß genügt dieser eine Satz, um uns einen Mann zu zeigen, dessen bisheriges Weltbild sich in Luft aufgelöst hat, weil ein Jüngerer sein in Jahrzehnten errichtetes Gedankengebäude zertrümmert hat.
In NS-Propagandafilmen sind solche Szenen wichtig. Der Held macht selten eine Entwicklung durch. Als visionäre Führergestalt weiß er von Anfang an, was richtig und was die Wahrheit ist, die es durchzusetzen gilt. Wünschenswert ist ein Gegenspieler, der am Schluss anerkennt, dass der Held gesiegt oder zumindest einen Etappenerfolg errungen hat. Ein "Endsieg" war eher kontraproduktiv, weil der Zuschauer im Dritten Reich, in dem Hitler als Vollstrecker auftrat, das Kino mit dem Gefühl verlassen sollte, dass der Kampf gegen diesen oder jenen weitergeführt werden musste. Zu besichtigen ist große Schauspielkunst von Krauß und Jannings. Leider steht sie im Dienste einer menschenverachtenden Ideologie, für die Andersdenkende "Gegner" sind, ein Meinungsstreit in Kategorien von Sieg und Niederlage ausgetragen wird und die sich gern martialisch äußert, weshalb Koch noch kriegerische Sachen sagen muss, bevor Virchow wieder geht: "Ich kenne jetzt den Feind. Jetzt kann ich die Waffe schmieden, die ihn schlägt. Und wenn ich einmal falle, so werde ich diese Waffe weitergeben in die Hände derer, die nach uns kommen. Der Kampf beginnt und wird nicht eher enden, bevor nicht der Feind besiegt ist!" Starker Tobak für einen Film, der vorgibt, von einer großen medizinischen Entdeckung zu berichten.
Ein verbaler Vernichtungsfeldzug mit Ausmerzung und totalem Krieg bleibt uns erspart, weil Steinhoff weiß, dass man es nicht übertreiben darf. Darum kommt an dieser Stelle Dr. Gaffky herein, um eine "Freudenbotschaft" zu überbringen. "Eine sensationelle Meldung über Sie in der Zeitung", sagt er zu Dr. Koch. "Herr Geheimrat Virchow hat dem Kultusminister Mitteilung von der Größe Ihrer Entdeckung gemacht. Er nennt Ihren Vortrag hier ‚eine Schicksalsstunde der Menschheit’ im Kampf gegen die Tuberkulose." Also doch. Virchow hat seine Niederlage öffentlich eingestanden. Auch der Held kann sich mal irren, dies aber nur in den kleinen Dingen. Virchow will nichts davon wissen, dass Koch ihm unrecht getan habe, nimmt vielmehr dessen Gedanken über den Kampf gegen den Tod auf, der "Mut und Selbstverleugnung" erfordere, und sagt: "Vergessen wir doch in diesem Kampf, dass wir Menschen sind. Es geht um mehr als um uns. Sie sehen, ich habe viel von Ihnen gelernt."
Bei dieser Konfrontation zweier Koryphäen auf dem Gebiet der medizinischen Wissenschaft ist so viel von Kampf, von Feinden, von Waffen und vom Sieg die Rede, dass man schon Darsteller vom Format eines Emil Jannings und eines Werner Krauß braucht, wenn es nicht unfreiwillig komisch werden soll. Für meinen Geschmack hätte Jannings den Furor des Kämpfers gegen den Tuberkelbazillus ein wenig drosseln können, aber das Pathos musste da wohl sein, um das Publikum mitzureißen. Isoliert wirkt die Szene auch ganz anders als eingebettet in einen Film, in dem der Held von den ersten Minuten an seine Kriegsrhetorik pflegt. Gar nicht komisch ist, was wir aus der Geschichte lernen können: Wenn einer glaubt, gegen irgendwelche Feinde kämpfen und dabei vergessen zu müssen, ein Mensch zu sein, endet es meistens damit, dass er den Gegnern deren Menschsein abspricht und bei ihrer Bekämpfung den letzten Rest von Humanität über Bord wirft.
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