Emil und der Liebestod

Seite 4: Lückenlose Beweiskette

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Nach der Begegnung im Reichstag arbeitet Koch Tag und Nacht daran, den von Virchow geforderten Beweis zu erbringen. Seine Gattin Emmy, die Frau mit den allzu bürgerlichen Vorstellungen vom privaten Glück, muss sich jetzt schon ins Kaiserliche Gesundheitsamt bemühen, wenn sie damit drohen will, zu ihrer Mutter zu fahren, weil Robert nur für seine Aufgabe lebt. In Wollstein war das noch einfacher, weil alles unter einem Dach war. Ansonsten wiederholen sich die Ereignisse. In Wollstein verpufft die Drohung, weil die Nachricht von Kochs Berufung an das Gesundheitsamt eintrifft. Jetzt, in Berlin, hat Koch soeben das große Werk vollbracht. "Ich bin fertig", sagt er zu Dr. Gaffky. "Der Beweis ist da, die Kette ist geschlossen. Lückenlos." Dr. Gaffky und Dr. Loeffler schauen ergriffen in die Mikroskope. Emmy geht im Korridor auf und ab und verschwindet dann aus dem Gebäude. Ihre Gefühle sind letztlich unerheblich. Als Frau, die ihrem Mann keine treue Kameradin ist, hat sie jedes Recht auf unsere Aufmerksamkeit verwirkt. So will es die NS-Ideologie.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

"Ach, Kinder", sagt Dr. Koch erschöpft zu Dr. Gaffky und Dr. Fritz von Hartwig, nachdem Emmy gegangen ist, "es war ein bisschen viel in den letzten Wochen. Aber … wir haben’s geschafft." Und die wahre Familie des Helden, teilt der Film mit, ist eine Gesinnungsgemeinschaft, sind seine Mitarbeiter und nicht eine quengelige Ehefrau. Passend dazu taucht die junge Else wieder auf, für die es seit dem Umzug nach Berlin nichts mehr zu tun gab. Else, bis dahin Kochs Assistentin, trat in Wollstein brav zurück ins Glied, als Koch im jungen Fritz einen männlichen Mitarbeiter bekam. Seitdem arbeitet sie in der Charité als Schwester, bringt ihrem Verlobten brav das Essen ins Labor und wartet geduldig mit der Hochzeit, bis die Beweiskette lückenlos geschlossen ist. Sie fragt Fritz nicht, wann er endlich auch mal Zeit für sie hat, sondern will nur wissen, wie sie ihm helfen kann. So hat die nationalsozialistische Frau zu sein: jederzeit bereit, ein Opfer zu bringen. Beim nationalsozialistischen Mann ist es genauso. "Der Junge hat sich direkt aufgeopfert", sagt Koch über den elend aussehenden Fritz, weil in diesem Film alles sorgfältig vorbereitet wird.

Der echte Robert Koch hielt am 24. März 1882 vor der Berliner Physiologischen Gesellschaft einen in die Wissenschaftsgeschichte eingehenden Vortrag über die "Aetiologie der Tuberculose", mit dem er seine Entdeckung vorstellte. Im Film wird vorher noch einmal daran erinnert, was ein Führer zu erwarten hat. "Aber Mama", sagt Robert Koch zu Emmy, "morgen glaubt die ganze Welt an mich. Und du allein zweifelst." Fritz, der immer an Koch geglaubt hat, sieht sich am Ziel seiner Träume, und etwas rhetorische Aufrüstung kann auch nicht schaden: "Morgen kämpft er den Kampf seines Lebens, und ich will ihn miterleben, seinen Sieg!" Leider hat Fritz sich bei den Tierversuchen mit der Tuberkulose angesteckt, und ihm geht es sehr schlecht.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Im Gegensatz zu Dr. Gaffky und Dr. Loeffler ist Fritz eine rein fiktionale Figur, die der Film erfunden hat, weil ein junger Mann gebraucht wird, der sich opfert. Man hätte die Geschichte problemlos ohne seinen Tod erzählen können, doch im NS-Propagandafilm müssen solche Opfer eben sein. In der Wirklichkeit war es genauso, weil die Wehrmacht bald nach der Weltpremiere von Bekämpfer des Todes in Polen einmarschierte. Wer wissen will, wie es anders geht, sehe sich William Dieterles Dr. Ehrlich’s Magic Bullett (1940) an. Der Held, Paul Ehrlich, kämpft da ebenfalls gegen tödliche Krankheiten, was jedoch zur Folge hat, dass Menschen überleben und nicht sterben. Man kann nun einwenden, dass Kochs Entdeckung des Erregers nur ein erster Schritt im Kampf gegen die Tuberkulose war. Das von Koch entwickelte Heilmittel, das Tuberkulin, war keines, wurde nach einem Skandal vom Markt genommen und kommt im Film nicht vor (in Mein Kampf ist ein jüdischer Geschäftemacher schuld an dem Skandal). Das ändert nichts daran, dass bei der Bekämpfung des Todes mehr gestorben als gelebt wird. "Noch eine Nacht", sagt Koch, "und dann beginnt ein neues Leben." Das neue Leben beginnt mit dem Tod von Fritz, der tags darauf bereits im Sterben liegt. Wer, bitte, will so etwas seinen Kindern zeigen?

Das Wesen der Tuberkulose

Der Fortgang der Geschichte wird in Parallelmontagen erzählt. Fritz gesteht Koch, dass er an der Tuberkulose erkrankt ist, weil er den Husten nicht mehr verheimlichen kann. Koch lässt ihn in seine Abteilung bringen und eilt sodann zum Physiologischen Institut. Die versammelten "Koryphäen" warten auf seine Enthüllungen. Virchow, sagt der Direktor der Charité zu seinem Sitznachbarn, werde bestimmt nicht kommen, weil er zu einem Empfang des Kaisers eingeladen sei. Den Herrn neben dem Direktor zeigt uns die Einstellung im Profil, damit wir die Hakennase gut sehen können. Glücklicherweise bin ich in einem Land aufgewachsen, in dem man nicht täglich mit antisemitischen Karikaturen vom "Juden" konfrontiert wird. Mein Blick ist dafür nicht geschärft, doch meine Sensibilität für die kleinen Gemeinheiten nimmt zu. Je mehr NS-Filme ich mir anschaue, umso mehr von diesen "typisch jüdischen" Nasen fallen mir auf (zum Beispiel die der Falschspieler und Wucherer, die Jannings in Der alte und der junge König auspeitschen und aus dem Land werfen lässt, weil sie den Hals nicht voll genug kriegen können).

Das Publikum des Jahres 1939, nehme ich an, hatte sich daran gewöhnt, dass Nebenfiguren mit großen gebogenen Nasen verwerfliche Dinge sagten oder taten. Durch Gewöhnung wird die Diffamierung zur Normalität. Dafür braucht es im Einzelfall nicht viel. Die dauernde Wiederholung macht die Wirkung aus. "Ach, jetzt verstehe ich erst", sagt der Sitznachbar des Direktors. "Deswegen ist der Vortrag auf den heutigen Abend gelegt worden." Soll heißen: Koch - der, wie uns der Film gelehrt hat, immer die Konfrontation sucht und dem alles Feige ein Gräuel ist - hat den Termin so gelegt, dass Virchow nicht kommen und den Vortrag nicht in der Luft zerreißen kann. Das ist eine infame Unterstellung. "Typisch jüdisch" eben.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Virchow kommt dann aber doch. Der ganze Saal hört gespannt zu, wenn Koch seinen Vortrag beginnt: "Meine Herren. Das Wesen der Tuberkulose zu ergründen, ist schon wiederholt versucht worden …" Steinhoff schneidet Szenen aus dem Foyer (ein Geheimrat hat sich verspätet) und der Charité dazwischen (bei Fritz wird "galoppierende Schwindsucht" diagnostiziert), um sich auf die wesentlichen Aspekte der Rede beschränken zu können: "Bisher hat man geglaubt, die Tuberkulose sei auf Ernährungsstörungen oder einen Zerfall der Zellen zurückzuführen. [Schnitt auf Virchow, der die Zelltheorie vertritt.] Ich werde Ihnen beweisen, dass die Tuberkulose eine parasitische Krankheit ist. Der von mir entdeckte Erreger, den ich den Tuberkelbazillus nenne, ist die Ursache der Tuberkulose." Der genaue Wortlaut der historischen Rede von 1882 ist mir unbekannt. Ich weiß hingegen, dass Jannings diese Sätze im Dritten Reich sagte, in dem die Juden permanent als Parasiten im deutschen Volkskörper geschmäht wurden und dessen Diktator sie mit Tuberkelbazillen verglich. Das scheint mir das Wichtigere zu sein.

Bekämpfung einer mörderischen Seuche

Dr. Koch fährt fort: "In Zukunft wird man es also im Kampf gegen diese schreckliche Plage des Menschengeschlechtes nicht mehr mit einem undefinierbaren Etwas zu tun haben, sondern mit einem fassbaren Parasiten, dessen Lebensbedingungen bekannt sind. Wenn ich nun überzeugt sein darf, dass sich unter den Ärzten die Gewissheit Bahn gebrochen hat: Die Tuberkulose ist eine Infektionskrankheit, dann muss ich in dieser Stunde zum edelsten Wettstreit aufrufen, sich der Bekämpfung dieser mörderischen Seuche mit allen Kräften zu widmen." Da ist sie wieder, die "mörderische" und so mit einer moralischen Wertung belegte Seuche, die Koch schon in Wollstein mit allen Mitteln bekämpft hat. "Tödlich" ist zu wenig in einem Film, dessen Held zum Krieg gegen einen Parasiten aufruft.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Im Wilhelminismus war man alles andere als zimperlich, wenn es darum ging, den Kampf gegen Krankheiten als Vernichtungsfeldzug zu beschreiben. Daraus ergibt sich aber nicht zwingend, dass Unger in seiner erstmals 1929 erschienenen Koch-Biographie die Kriegsmetaphorik übernehmen und sogar noch ausmalen musste. Leseprobe aus Helfer der Menschheit: "Der Tuberkelbazillus ist aber ein viel hinterhältigerer Gesell als sein Entdecker ahnt. Seine Leidenschaft ist es, im Dunkeln zu schmarotzen und auf Kosten seiner Ernährung und Fortpflanzung gesundes Leben zu vernichten. Nein, er liebt es gar nicht, daß man Gleiches mit Gleichem vergilt und ihn angreift. Er hat durch tausend Jahre ein geheiligtes Recht, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Er wünscht in Ruhe gelassen zu sein. Basta. Das grelle Licht des Spiegels unterm Mikroskop gefällt ihm absolut nicht, zumal er zur Bewegungslosigkeit verdammt der Grellheit nicht entschleichen kann."

In der erstmals 1936 erschienenen NS-Version der Biographie, dem Roman eines großen Lebens, wird das wortgleich wiederholt, ergänzt um das "Räubertum" des Schmarotzers. Zwischen den beiden Fassungen gibt es einen wesentlichen Unterschied. 1929 findet Koch in den Wissenschaftlern Ferdinand Cohn und Julius Cohnheim "zwei wertvolle und aufrichtige Freunde […], die sich ohne Eigennutz seines Werkes annehmen und auch den so verdienstvollen Mann selbst fördern möchten". Paul Ehrlich wird als junger Forscher eingeführt, "der noch nicht ahnt, daß auch sein Name einmal durch eine herrliche Tat von der Gloriole des Weltruhms umgeben sein wird". Juden als wertvolle Freunde und ohne Eigennutz? Unmöglich. 1936 sind Cohn und Cohnheim verschwunden (in der entnazifizierten Nachkriegsversion sind sie wieder da), und auch Paul Ehrlich ist weg, weil ihn das Dritte Reich zur Unperson erklärt hatte und ein Jude wie er nicht für "herrliche Taten" verantwortlich sein durfte.

Indem Unger die jüdischen Freunde, Kollegen und Förderer aus Kochs Biographie tilgte entfernte er die mit positiven Eigenschaften ausgestatteten Wissenschaftler, die einen Leser des Buches daran hätten hindern können, die von Koch aufgespürten Tuberkelbazillen gedanklich mit "den Juden" gleichzusetzen, wie es in Mein Kampf, in Hitlers Hassreden und in denen anderer Nazibonzen nahegelegt wurde. Als lichtscheue, ihrer Umgebung angepasste und gut getarnte Parasiten haben die Bazillen dieselben Eigenschaften, wie sie die NS-Propaganda auch den Juden zuschrieb. Als Robert Koch 1882 den berühmten Vortrag über die Entdeckung des Tuberkuloseerregers hielt, saß Paul Ehrlich im Auditorium. An dem "edelsten Wettstreit", zu dem Jannings alias Koch aufruft, beteiligte er sich sofort. Schon am Tag danach hatte er die Färbemethode seines Freundes verbessert. Koch holte Ehrlich 1891 an das neu gegründete Preußische Institut für Infektionskrankheiten. In der metaphorisch aufgeladenen Welt der NS-Propaganda würde das bedeuten: Der Parasit und Krankheitserreger erforscht sich selbst. Das ging gar nicht. Ehrlich musste aus dem Auditorium verschwinden. Übrig geblieben ist der Mann mit Hakennase, der Koch, dem aufrechten Vorkämpfer der Wahrheit, Hinterhältigkeit und Taktiererei unterstellt.

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