Ende einer Karriere: Michael Powell und Peeping Tom

A Matter of Life and Death

Teil 1: Die Karriere

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Life is short and art is long.

Michael Powell

Der Mann, der mehr Hauptwerke des britischen Kinos gedreht hat als jeder andere, heißt nicht Alfred Hitchcock, Carol Reed oder David Lean. Sein Name ist Michael Powell. Peeping Tom – der Film, den inzwischen viele für seinen besten halten – löste vor 50 Jahren einen Sturm der Entrüstung aus. Die britischen Kritiker waren sich einig wie nie. Sie schrieben hysterische Verrisse, die so hasserfüllt sind, dass es einem heute noch die Sprache verschlägt. Powells Karriere war damit vernichtet. Arbeit fand er fast nur noch in Australien. Vielleicht wäre er längst vergessen, wenn nicht Fans wie Martin Scorsese seinen Namen hochgehalten hätten. Eine Erinnerung an Michael Powell, an seine erstaunlichen, mit den Jahren immer besser werdenden Filme und an einen dunklen Punkt in der Geschichte der britischen Filmkritik.

Briten und Amerikaner

1986 veröffentlichte das British Film Institute einen Band mit Aufsätzen (All Our Yesterdays: 90 Years of British Cinema), mit dem eine Art Bestandsaufnahme versucht wurde. Bei solchen „offiziellen“ Unternehmungen kommt es auf die symbolischen Gesten an, die von den Interessierten aufmerksam registriert werden. Für einiges Kopfschütteln sorgte die Entscheidung, auf dem Buchumschlag nicht Laurence Olivier, Vivien Leigh oder einen anderen britischen Filmstar zu zeigen, sondern Karlheinz Böhm, den Frauenmörder aus Peeping Tom, mit einem Projektor. Das war eine späte Wiedergutmachung. Heftig kommentiert wurde damals auch Julian Petleys Aufsatz „The Lost Continent“, in dem der Autor dazu auffordert, nicht immer alles nach den Regeln der realistischen Ästhetik zu beurteilen und sich bewusst zu machen, dass es auch eine andere, nicht-realistische Tradition gibt, der das britische Kino einige seiner besten Werke verdankt. Schon allein die Tatsache, dass Petley extra darauf hinweisen musste und das damals wie eine völlig neue Einsicht wirkte, spricht Bände. Er schreibt:

Diese [Filme] bilden eine andere, unterdrückte Seite des britischen Kinos, einen dunklen, verächtlich gemachten Faden, der dieses Kino der Länge und der Breite nach durchzieht, durch Autorschaft und Genre gesetzte Grenzen überschreitet, der manchmal gut sichtbar ist, manchmal fast ganz unsichtbar, manchmal mit einem lauten Knall hervorbricht, von den Kritikern immer mit Angst und Ablehnung in Empfang genommen wird.

Besonders bemerkenswert fand Petley das Werk von zwei immer unabhängig gebliebenen Filmemachern, die Michael Powell und Emeric Pressburger hießen. Wer waren also diese beiden, die sich „The Archers“ nannten und angeblich ein Meisterwerk des britischen Kinos nach dem anderen gedreht hatten, obwohl der eine, Powell, eher berüchtigt als berühmt war, während seinen Partner, Pressburger, kaum einer kannte, als das Buch erschien? Eine andere Frage erleichtert den Einstieg in die zumindest sehr ungewöhnliche, einige Jahrzehnte lang verschüttete Archers-Welt: Was ist ein Amerikaner?

Die Frage beantwortet jeder abhängig von dem, was er kennt oder zu kennen glaubt. Für die meisten Briten waren Amerikaner erfolgreiche Geschäftsleute oder gesetzte, wohlhabende Touristen, weil nur die sich eine Europareise leisten konnten. Das änderte sich, als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten. Vor der Landung der Alliierten in der Normandie waren mehr als eine Million GIs im Vereinigten Königreich stationiert. Mehrheitlich waren das junge Leute aus der Arbeiterschicht. Sie kauten Kaugummi, waren nicht besonders gebildet, und sie brachten Comics mit Titeln wie Superman, Crime Detective, Battle Stories oder Justice Traps the Guilty mit. Es waren Comics nicht für Kinder, wie es in Großbritannien üblich war, sondern für Erwachsene: mit Geschichten über den Krieg und das Verbrechen, und mit viel Gewalt. Manch einer rümpfte die Nase, sprach von den GIs nur als den „3 Os“: „overpaid, oversexed, and over here“ (überbezahlt, sexbesessen und hier bei uns). Durch die Comics fühlten sich die Briten in ihrem Snobismus erst recht bestätigt.

Ende 1944 war das Informationsministerium über die Entwicklung so besorgt, dass es Michael Powell und Emeric Pressburger vorschlug, einen Film zu drehen, der zur Verbesserung der britisch-amerikanischen Beziehungen beitragen konnte. Anderen Filmemachern wäre vermutlich etwas in der Art von John Schlesingers Yanks eingefallen (britische Frauen lernen vor dem D-Day in England stationierte GIs kennen und lieben). Und hier die Geschichte, die sich Pressburger und Powell ausdachten:

Kurz vor dem Absturz eines britischen Bombers nimmt der Pilot Peter (David Niven) Kontakt mit der Bodenkontrolle auf, wo die amerikanische Funkerin June (Kim Hunter) Dienst tut. Wie durch ein Wunder überlebt der Pilot den Absturz. Von da an spielt sich die Geschichte auf zwei durch eine riesige Rolltreppe verbundenen Ebenen ab. Auf der Erde (in Technicolor) kommen sich der Pilot und die Funkerin schnell näher. Aber der Pilot halluziniert auch von einem Verfahren, das in der anderen Welt (in Monochrom) gegen ihn geführt wird. June kennt den als Landarzt praktizierenden Neurologen Dr. Reeves (Roger Livesey), der das Geschehen in seinem Dorf mit Hilfe einer Camera Obscura beobachtet (da kündigt sich bereits Peeping Tom an). Reeves vermutet, dass Peter beim Absturz eine lebensgefährliche Hirnverletzung erlitten hat.

In der anderen Welt ärgern sich unterdessen die Bürokraten über den Boten Nr. 71 (ein während der Französischen Revolution geköpfter Adeliger), der den eigentlich gestorbenen Piloten im englischen Nebel verloren hat. Während auf der Erde ein chirurgischer Eingriff vorbereitet wird, soll im Himmel ein Tribunal darüber befinden, ob der Pilot mit der Funkerin weiterleben darf oder ob er doch sterben muss. Die Anklage vertritt der erste Amerikaner, der im Unabhängigkeitskrieg von den Briten getötet wurde (Raymond Massey). Er erhält einen ebenbürtigen Gegner, als Dr. Reeves bei einem Motorradunfall stirbt und nun im Himmel Peters Verteidigung übernehmen kann. Dessen Chancen steigen weiter, als die aus Angehörigen der von den Briten kolonisierten Nationen bestehende Jury durch Vertreter der in Amerika lebenden ethnischen Gruppen ersetzt werden …

A Matter of Life and Death

Welt der Magie

Bevor Powell und Pressburger ihr Feuerwerk an Ideen und nie gesehenen visuellen Einfällen abfeuern konnten, mussten sie warten, bis das für den Technicolor-Teil benötigte Filmmaterial zur Verfügung stand (Technicolor war bis kurz vor Kriegsende für Ausbildungs- und Dokumentarfilme der Armee reserviert). Wie also die Wartezeit ausfüllen? Pressburger hatte seit längerem einen Film über eine Frau drehen wollen, die versucht, auf eine Insel zu kommen, diese fast schon erreicht hat und es doch nie schafft. Powell wollte wissen, warum das so ist? Pressburgers Antwort: „Machen wir den Film, dann werden wir es herausfinden.“ Das war genau das, was Powell hören wollte. Für ihn war das Filmemachen immer auch ein Abenteuer. Am liebsten drehte er an Originalschauplätzen.

Der kreative Prozess begann für Powell mit dem location scouting. Nach einigem Herumreisen entschied er sich für die zu den Hebriden gehörende Isle of Mull. Dann entstand einer der schönsten Schottand-Filme, die je gedreht wurden, und wahrscheinlich der magischste – ein Film über Spiritualität und ein Leben im Einklang mit der Natur, über die Bedeutung der alten Mythen und Legenden für die Gegenwart, über den Einfluss des Schicksals und über die Auswirkungen moralischer Entscheidungen auf Kultur und Zivilisation. Das alles in eine um Authentizität bemühte, Realität und Romantik vereinende Liebesgeschichte zu verpacken und auch noch aktuelle Themen anzusprechen, ohne die Schauspieler Leitartikel aufsagen zu lassen, ist schon ziemlich gut.

I Know Where I’m Going!

Für Rudyard Kipling ist in der Gegenwart immer auch die Vergangenheit enthalten; wer darauf achtet, kann sie erkennen. Michael Powell sieht das so ähnlich. In weniger als einer Sekunde, sagt einmal ein Schotte in I Know Where I’m Going! (1945), kann man von einer Welt in eine andere gelangen. Die Heldin erfährt, wie Recht er damit hat. Erzählt wird vom Scheitern des Materialismus an einer Welt der Mythen und der Poesie, in der man mit Geld wenig ausrichtet. Die sehr zielbewusste Joan Webster (Wendy Hiller) fährt von Manchester nach Schottland, um da den Industriellen Sir Robert Bellinger zu heiraten, einen der reichsten Männer Englands. Die Hochzeit soll auf Bellingers Insel Kiloran stattfinden. Joan muss die Gastfreundschaft der Schotten in Anspruch nehmen, weil dichter Nebel ein Übersetzen unmöglich macht. In ihrem Nachtgebet bittet sie Gott, einen Wind zu schicken, der den Nebel vertreibt. Tags darauf tobt ein Sturm, der nun die Überfahrt verhindert. Da beginnt man zu ahnen, dass hier übernatürliche Kräfte am Werk sind.

Auf besseres Wetter wartet auch Torquil MacNeil (Roger Livesey), der Laird von Kiloran. Er ist Soldat auf Heimaturlaub und der eigentliche Besitzer der Insel, die er an Bellinger verpachten musste, weil er verarmt ist. Durch Torquil lernt Joan eine Welt mit anderen Werten und Regeln kennen. Es gibt sogar einen Fluch, der die Lairds von Kiloran seit Generationen am Betreten einer Burgruine hindert. Torquil gewinnt Joan für sich, weil er eine Mutprobe auf sich nimmt wie der Prinz in einer nordischen Legende und schließlich dem alten Fluch trotzt, der sich dann auf eine unerwartete Weise erfüllt.

I Know Where I’m Going!

Typisch für Powell ist das ganz ohne Sentimentalität und Volkstümelei auskommende Fest, mit dem der 60. Hochzeitstag eines Paares gefeiert wird. In Filmen sind solche Hochland-Festivitäten üblicherweise ein Anlass für mehr oder weniger touristische Folklore und für das Auftreten von Privilegierten aus uraltem Geschlecht, die huldvoll die Ehrbezeugungen ihrer Untertanen entgegennehmen. Bei Powell ist alles authentisch. Das Fest wird von einfachen Leuten ausgerichtet, die Oberschicht ist als Gast mit dabei und begegnet den Gastgebern mit dem ihnen gebührenden Respekt – so also, wie es sich Powells Meinung nach von selbst versteht oder doch zumindest sollte. An I Know Where I’m Going! lässt sich auch studieren, was für ein virtuoser Filmemacher er war. Roger Livesey konnte nicht mit nach Mull kommen, weil er in London ein Theaterengagement hatte. Powell musste sich deshalb auf Totalen mit Liveseys Double beschränken, die er später so geschickt mit Atelieraufnahmen vom Hauptdarsteller kombinierte, dass man es nur bemerkt, wenn man gezielt danach sucht.

Der Bezug zum Mystisch-Spirituellen wurde Michael Powell in die Wiege gelegt. Das Haus, in dem er am 30. September 1905 geboren wurde, Howlett’s Farm, stand in Kent, dem „Garten Englands“, und war fünf Meilen von Canterbury entfernt. Er wuchs also gewissermaßen im Schatten der dortigen Kathedrale auf, dem spirituellen Zentrum Englands. Seinen Filmen merkt man das an, was aber wenig mit organisierter Religion zu tun hat. In „… one of our aircraft is missing“ (1942) muss die Crew eines Bombers über dem von den Nazis besetzten Holland mit dem Fallschirm abspringen. Die Holländer schmuggeln die Soldaten Stück für Stück zur Küste. Dabei soll auch ein katholischer Pfarrer helfen (Peter Ustinov in seiner ersten Filmrolle). Die Briten haben Bedenken, weil sie Protestanten sind. Sie lernen dann schnell, dass es auf innere Werte ankommt, nicht auf die Vereinsmitgliedschaft.

„… one of our aircraft is missing“

Von seiner Mutter erbte Michael die Begeisterung und die Unerschrockenheit, mit denen sie fremde Gegenden erkundete. Sein Vater, ein Spieler und ein Lebenskünstler, baute Hopfen an, gab den Gentleman-Farmer und setzte sich dann nach Südfrankreich ab, wo er auf dem Cap Ferrat ein Hotel betrieb. Der junge Michael trat eine Stelle in einer Bank an, träumte aber früh davon, ein Filmregisseur zu werden. In ersten Teil seiner Autobiographie, A Life in Movies, die ganz anders ist als andere Autobiographien von Filmleuten (und also unbedingt lesenswert), berichtet er von einem 1920 in der Zeitschrift The Picturegoer erschienenen Artikel, der seine Begeisterung weckte:

Ich war fasziniert. Irgendwie war es dem Journalisten gelungen, die kameradschaftliche Atmosphäre beim Film zu vermitteln, das völlige Fehlen von durch Klasse oder Reichtum bedingten Unterschieden, den vereinten, auf ein gemeinsames Ziel ausgerichteten Enthusiasmus. Am Ende entstand Kunst; das Ziel war es, eine Geschichte zu erzählen; das Ziel war es, in die wirkliche Welt hinauszugehen und sie in eine romantische Phantasiewelt zu verwandeln, in der alles passieren konnte.

Eine Welt, in der alles passieren kann – Michael Powells Filme beschreiben das sehr gut. Seine eher zu steifem Realismus als zu Romantik (und gar der dunklen Variante) neigenden Landsleute erfüllte das mit einem Misstrauen, das sie ihn später, bei Peeping Tom, mit voller Wucht spüren ließen. Aber zunächst ging er ohnehin nach Frankreich. Sein Vater kannte ein paar Filmleute, was schließlich dazu führte, dass Michael für Rex Ingram arbeitete, den Regisseur von Hollywood-Großproduktionen wie The Four Horsemen of the Apocalypse oder Scaramouche. Ingram betrieb damals, mit Unterstützung der MGM, in Nizza sein eigenes Atelier, das Victorine-Studio, wo er den Aleister-Crowley-Film The Magician (Powell hat da einen Kurzauftritt) und den ebenfalls ziemlich bizarren The Garden of Allah drehte (ein Trapistenmönch strandet in einer Oase).