Enthüllungen Nord-Stream-Anschlag: Wenn Hersh so gearbeitet hätte?

Internationales Investigativteam verfolgt zwei heiße Spuren, die in die Ukraine führen. Die veröffentlichten Aussagen sind dürftig und wenig belastbar. Ist die Sabotage nur mehr Suspense-Stoff?

Die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines vom September 2022 haben ein großes Sensationspotential. Wer immer die Anschläge ausgeführt oder in Auftrag gegeben hat, der Aufdeckung würde ein Eklat folgen, der den Blick auf Gut und Böse neu einstellt. Man braucht sich nur die Konsequenzen in der Öffentlichkeit vorzustellen, wenn sich die USA oder Russland, osteuropäische Staaten oder die Ukraine als Verantwortliche herausstellen.

Allerdings ist nicht nur der Sensationswert hoch, sondern auch die Fallhöhe beim Leser. Dessen Erwartungen werden vom Titel Der Nebel lichtet sich (SZ) ziemlich gehoben. Auch ARD-Anstalten fachen mit "Neue Spur führt offenbar in die Ukraine" die Neugier an.

Die beiden "heißen Spuren", auf die gestern erschienene Berichte eines großen journalistischen Investigativteams aufmerksam machen, folgen Ermittlungen des Bundeskriminalamtes (BKA). Eine Spur führt zu einem Reisebüro, das seine Adresse in Warschau mit mehr als hundert Briefkastenfirmen teilt. Die zweite landet bei einem ukrainischen Soldaten. Wenig überraschend bleiben, um es vorwegzunehmen, viele offene Fragen.

An den Recherchen beteiligt sind neben der Süddeutschen Zeitung und dem NDR auch der WDR sowie Expressen aus Schweden, das polnische Online-Magazin frontstory.pl und die dänische Tageszeitung Berlingske.

Die derzeit "heißeste" Spur

Das Reisebüro mit dem Namen "Feeria Lwowa" wird von der SZ als "derzeit heißeste Spur auf der Suche nach den Attentätern, die am 26. September 2022 beide Stränge der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 und eine von zwei Röhren der Nord Stream 2 gesprengt haben" bezeichnet. Die Warschauer Spur führe "direkt in die Ukraine".

Allem Anschein nach handele es sich bei dem Reisebüro um eine Scheinfirma, wie das Investigativteam berichtet. Dessen Geschäft ging bis zum Jahr 2020 mäßig, dann soll die Firma, nachdem sie den Besitzer gewechselt hat, plötzlich 2,8 Millionen Euro eingenommen haben - womit ist unklar. Was dies mit den Anschlägen auf die Pipelines zu tun hat? Es gibt da eine Hypothese:

Denkbar, dass das Reisebüro lediglich dafür genutzt wurde, um die Segeljacht "Andromeda" zu mieten und zu bezahlen - um die tatsächlichen Hintermänner zu verschleiern. Sicher ist dies allerdings nicht.

Tagesschau

Laut Recherchen hat das ominöse Reisebüro die Segeljacht "Andromeda" angemietet, mit der die sechs mutmaßlichen Saboteure seinerzeit vom Hafen in Rostock in Richtung Pipelines aufgebrochen sein sollen (siehe: Nord-Stream-Anschlag: ZDF-Bericht zieht Version von pro-ukrainischen Saboteuren in Zweifel.

Wie sich herausstellt: Die Firma gehört offiziell einer Frau, die heute laut NDR und WDR in Kiew leben soll.

Laut polnischer Firmenunterlagen, berichtet die SZ, habe sie einen ukrainischen Pass wie auch die russische Staatsbürgerschaft. Am Telefon teilt sie allerdings mit, dass sie "nichts davon wisse, dass ihr Feeria Lwowa gehöre". Dazu wird dann noch eine zweite Frau erwähnt, die als "Präsidentin und Anteilseignerin der offensichtlichen Briefkastenfirma zeichnet": Auch sie ist eine Ukrainerin. Sie ist Ansprechpartnerin für den Büroservice, der das Reisebüro betreut.

Dem Vermieter der "Andromeda" wurden Pässe vorgelegt, heißt es weiter, ohne dass ausdrücklich präzisiert wird, ob damit das dubiose Reisebüro gemeint ist. Unter den Dokumenten findet sich auch ein rumänisches, ausgestellt auf einen Mann namens Stefan M., der den deutschen Sicherheitsbehörden aufgefallen ist.

Die bisher "brisanteste" Spur

Das ist dann die zweite Spur, die "bisher brisanteste" für die deutschen Ermittler. Die Formulierungen im Bericht lassen jedoch verstehen, dass die Namens-Identität nicht glasklar feststeht oder weiterhilft. Als Erkennungsmerkmal werden auffällige Tätowierungen genannt.

Offenbar war oder ist der Mann Mitglied der ukrainischen Streitkräfte. "Der junge Ukrainer soll früher in einer Infanterieeinheit gedient haben. Die Ermittler gehen offenbar noch weiteren Namen und Hinweisen nach. Es soll sich um die bislang heißesten Spuren handeln", ist in der Tagesschau zu erfahren. Dazu veröffentlicht das ARD-Nachrichtenflaggschiff ein verpixeltes Foto des Mannes in Uniform, auf dem allerdings keine Tattoos zu sehen sind.

Erwähnt wird ein weiterer Ukrainer, der soll aber vermutlich nicht an der eigentlichen Sabotage beteiligt gewesen sein, aber möglicherweise doch "in einer Nebenrolle" involviert.

Der Nebel bleibt

"Waren also womöglich staatliche ukrainische Stellen an der Sabotage beteiligt?", fragen die Rechercheure hypothetisch und mahnen zugleich vorsichtig: "Selbst wenn Ukrainer in den Anschlag verwickelt wären, müssen sie nicht zwangsläufig mit Wissen oder Billigung oder gar im Auftrag der Regierung in Kiew gehandelt haben."

Auffallend ist, dass die Nachrichtenagentur Reuters und große internationale Medien wie etwa die New York Times oder Le Monde die neueste heiße Spur aus Deutschland zum Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines anscheinend gar nicht aufgenommen haben. Es findet sich bislang kein großes Echo auf die Enthüllungen im großen Nebel. Vielleicht warten sie noch auf fundierteres Material.

Stellt sich die Frage, wie man reagieren würde, wenn Seymour Hersh so gearbeitet hätte. Der US-amerikanische Investigativ-Journalist, der die USA der Anschläge bezichtigte, erntete scharfe Kritik. Die Geschichte wurde als unglaubwürdig infrage gestellt (siehe auch: Nord-Stream-Ermittlungen: Lag Seymour Hersh doch richtig?).