Erdogans Ringen um die "Werte der Nato"
Zynisch, aber lehrreich für das Bild des Militärpakts im Westen: Der türkische Präsident macht geflohene Kurdinnen und Kurden zur Verhandlungsmasse für die Beitritte Schwedens und Finnlands
Für bundesdeutsche Grüne ist eine "wertebasierte" oder gar "feministische Außenpolitik" bestens mit einem Bekenntnis zur Nato vereinbar. Letzteres hatten die Grünen vor der Bundestagswahl sogar zur Bedingung für mögliche Koalitionspartner gemacht. Was aber sind nun die Werte der Nato, falls es nicht nur die Interessen mächtiger Kapitalfraktionen sind?
Während die grüne Außenministerin Annalena Baerbock diese Werte feministisch auslegt und zwei bisher neutrale nordische Länder mit Frauen an der Spitze dem Militärbündnis beitreten wollen, beansprucht auch der reaktionärste Macho unter den Nato-Staatschefs die Werte der Nato für sich.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der im vergangenen Jahr die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufgekündigt hat, stellt Schweden und Finnland gerade Bedingungen für den Nato-Beitritt – darunter die Auslieferung kurdischstämmiger Menschen, die vor politischer Verfolgung aus seinem Land geflohen sind.
Schweden und Finnland haben sie aus seiner Sicht zu freundlich aufgenommen und sollen stattdessen "die Werte der Nato hochhalten und die legitimen Anliegen der Türkei berücksichtigen", wie Erdogan laut einem Bericht der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu vom Freitag in einem Telefonat mit dem britischen Premier Boris Johnson sagte.
Am Mittwoch hatte Erdogan laut Anadolu erklärt, es sei "inkonsequent", dass Schweden und Finnland versuchten, dem Militärbündnis beizutreten, wenn sie "Terroristen" der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der syrisch-kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) unterstützten.
In den letzten fünf Jahren hätten sowohl Schweden als auch Finnland "Dutzende" von türkischen Auslieferungsanträgen abgelehnt. Schweden weigere sich, "Terroristen" an die Türkei auszuliefern, traue sich aber, um die Nato-Mitgliedschaft zu bitten, beschwerte sich Erdogan. Als langjähriges Nato-Mitglied habe die Türkei Einwände gegen die Beitrittsanträge erhoben.
Wer schon Mitglied ist, muss bisher keinen Rausschmiss fürchten
Das Land gehört dem Militärpakt seit 1952. Ein Verfahren für den Rausschmiss eines Mitgliedsstaats ist im Nato-Vertrag nicht vorgesehen; und wirksame Sanktionen wurden von den Vertragspartnern auch in Zeiten gehäufter Berichte über schwere Folter in der Türkei – wie etwa nach dem Militärputsch 1980 und in den 1990er-Jahren – nicht ernsthaft diskutiert. So hatte Erdogan auch wegen der offensichtlichen Zusammenarbeit mit dschihadistischen Gruppen beim Angriff auf den nordsyrischen Kanton Afrin 2018 außer Naserümpfen nichts zu befürchten.
Im Zuge der Ukraine-Krise feierte Deutschlands Außenministerin Baerbock dann auch wieder die "starke deutsch-türkische Partnerschaft" mit ihrem Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu.
Die bisher neutralen nordischen Länder, die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine quasi der Nato in die Arme getrieben wurden, wären ein besseres Aushängeschild für den Militärpakt, der sich so gern als Verteidiger demokratischer Werte geriert. Die Aufnahme neuer Nato-Mitglieder kann aber nur einstimmig beschlossen werden.
So zwingt Erdogan der westlichen Öffentlichkeit eine Wertediskussion zur Unzeit auf – was lehrreich ist, weil es frischgebackene linksliberale Nato-Fans zwingt, die rosa Brille abzunehmen, aber auch unfassbar zynisch aus der Sicht der kurdischen Betroffenen.
Das Zentrum der Kurdischen Demokratischen Gemeinde in Schweden (NCDK Schweden) hat sich dazu bereits Mitte vergangener Woche geäußert:
In diesem politischen Spiel fordert die türkische Regierung die Auslieferung von Kurd:innen und dass die schwedische Regierung sich gegen die kurdischen Freiheitskämpfer:innen stellt, die die Terrorgruppe Daesh (IS) besiegt haben. Es ist also eine Tatsache, dass wir Kurden wieder einmal als Spielball im internationalen politischen Spiel benutzt werden, bei dem Schweden und die Türkei im Rampenlicht stehen.
Zentrum der Kurdischen Demokratischen Gemeinde in Schweden / Übersetzung: ANF
Nur wenige Stunden, nachdem Finnland und Schweden ihre Anträge für die Aufnahme in die Nato eingereicht hatten, sollte der Beschluss gefasst werden, den Beitrittsprozess zu starten. Die Türkei blockierte diesen Beschluss am Mittwoch zunächst. Allerdings gibt es auch Expertenstimmen, die davon ausgehen, dass die USA als mächtigstes Nato-Mitglied hier Abhilfe schaffen könnten – etwa durch ein von Erdogan lang ersehntes Gipfeltreffen und grünes Licht für die Lieferung von F-35-Kampfbombern der Firma Lockheed Martin, die dem türkischen Militär bisher vorenthalten werden, weil es ein Luftabwehrsystem aus Russland gekauft hat. Soviel zur Möglichkeit, dass es vielleicht doch nur um die Interessen mächtiger Kapitalfraktionen geht.
Jede Art von Waffenhilfe für die Türkei dürfte sich aber ebenfalls zuerst gegen Kurdinnen und Kurden richten – sei es auf türkischem Staatsgebiet oder in den Nachbarländern Syrien und Irak.
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