Erdogans Rollenspiel in Berlin und das offene Geheimnis der Hamas
Türkischer Präsident spielt Schutzpatron der palästinensischen Bevölkerung. Für die Hamas hat er Verständnis. Egal, was deren Funktionäre zugeben. Ein Kommentar.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte beim Staatsbesuch in Berlin seinen großen Auftritt als Schutzpatron der palästinensischen Bevölkerung des Gazastreifens. Seine Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs dürften viele unterschreiben können, die gegensätzlicher Meinung sind, was Erdogans eigene Kriegsführung in Nordsyrien angeht.
Für Gaza scheint er wirklich ein Herz zu haben: "Wir sprechen von 13.000 Kindern, Frauen, alten Menschen, die getötet worden sind", sagte Erdogan am Freitag im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Kanzleramt. "Alles ist dem Erdboden gleichgemacht worden."
Die Forderung nach einem humanitären Waffenstillstand, die Erdogan in Berlin hervorhob, wird in Deutschland beispielsweise von den Vorsitzenden von der Partei Die Linke geteilt, die zugleich den Deutschland-Besuch des türkischen Präsidenten scharf kritisiert hat.
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Der Israel-Hass des schwierigen Partners
Erdogan sei kein Partner für eine glaubwürdige deutsche Außenpolitik und dürfe "für Deutschland kein normaler Staatsgast sein", betonte Linken-Ko-Chef Martin Schirdewan Anfang der Woche.
Auch innerhalb der Ampel-Koalition gab es Stimmen, die meinten, die Bundesregierung hätte dem türkischen Präsidenten besser keine Bühne geboten. "Erdogans permanente Hassreden gegen Israel und seine Solidarität mit der Terrororganisation Hamas sind unerträglich", hatte der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bereits Anfang November der Deutschen Presseagentur gesagt.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zog es dagegen vor, auf dieser Bühne den offenen Dissens mit Erdogan zu demonstrieren: Er betonte das israelische Selbstverteidigungsrecht.
Blutige Strategie der Spannung: Hamas ehrlicher als Erdogan
Aber Erdogans Worte in Berlin waren durchaus blumig: Wenn Deutschland und die Türkei gemeinsam einen Waffenstillstand erreichen könnten, bestehe die Chance, die Region aus diesem "Feuerring" zu retten, sagte er.
Jeder müsse sich für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten einsetzen, sagte er. Wer möchte da schon widersprechen? Aber als Friedensfürst eignet sich Erdogan gleich aus mehreren Gründen schlecht.
Mit den Dschihadisten der palästinensischen Hamas, deren Funktionäre zum Teil offen zugeben, dass sie mit den blutigen Pogromen vom 7. Oktober eine harte israelische Reaktion provozieren wollten, um ihr Anliegen weltweit auf die Tagesordnung zu setzen, verbindet Erdogan die Ideologie der Muslimbruderschaft. Sie ist auch der Markenkern der türkischen Regierungspartei AKP.
Die Massaker der Hamas an Jüdinnen und Juden in grenznahen Kibbuzim und auf einem Musikfestival hielten Erdogan vor wenigen Wochen nicht davon ab, die Hamas als "Befreiungsorganisation" zu klassifizieren.
Laut einem Bericht der New York Times bezeichnete der Hamas-Funktionär Khalil al-Hayya die Massaker vor wenigen Tagen nicht nur als "große Tat", sondern gab auch offen zu, dass man dabei selbstverständlich mit einer drastischen Reaktion Israels gerechnet habe.
Tausende Tote durch israelische Bomben im Gazastreifen waren demnach einkalkuliert, um das Weltgewissen gegen Israel einzunehmen und das Kräfteverhältnis zugunsten der Islamisten zu ändern.
Aufgrund der Erfahrungswerte nach Hamas-Angriffen mit vergleichsweise wenigen Opfern in Israel war nach dem gewaltsamen Tod von mehr als 1.300 Israelis tatsächlich mit keiner anderen Reaktion zu rechnen. Die Hamas müsste dumm wie ein Meter Feldweg gewesen sein, hätte sie das nicht vorausgesehen. Und so dumm will sie nicht dastehen.
In diesem Punkt sind manche Hamas-Funktionäre wohl einfach nur ehrlicher als Erdogan.
Erdogan als "personifizierte Fluchtursache" und Wachhund der EU
Ein weiterer Grund, warum der türkische Präsident kein glaubwürdiger Vermittler sein kann, ist der "andere Nahostkonflikt", der in westlichen Massenmedien wenig Beachtung findet – Erdogan macht hier den "Antiterrorkampf" gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Grund für grenzübergreifende Militäroperationen geltend: Seit Anfang Oktober greift die türkische Armee fast täglich Posten der syrisch-kurdischen Milizen YPG und YPJ, aber auch zivile Infrastruktur im Nordosten Syriens an.
Dieser "andere Nahostkonflikt" spielt aber für viele, die sich – zu Recht – über Erdogans Nähe zur Hamas empören, eine eher untergeordnete Rolle. Die säkulare PKK, mit der Erdogan eine ganze Reihe kurdischer und syrischer Organisationen gleichsetzt, ist auch in Deutschland verboten – und zwar seit bald 30 Jahren. Die Hamas ist es erst seit wenigen Wochen.
Allerdings zeigt auch Erdogans wohlwollende Sicht auf die Hamas, dass die Befindlichkeiten des türkischen Präsidenten kein Maßstab dafür sein können, wer in einer Demokratie als Terrorist gilt und wer nicht. Die Bundesregierung könnte dies zum Anlass nehmen, das PKK-Verbot zu überdenken.
Wenn sie es nicht tut, liegt das zum einen daran, dass für die Türkei als Nato-Partnerstaat eben im Westen andere Maßstäbe gelten als für sogenannte Schurkenstaaten außerhalb der Nato.
Der schwedische Beitrittsprozess ist dafür ein trauriges Lehrstück: Die Türkei konnte in diesem Fall ihr Vetorecht als "alteingesessenes" Nato-Mitglied nutzen, um Schwedens Innenpolitik in Bezug auf die kurdische Exilopposition zu beeinflussen.
Zum anderen liegt es daran, dass Erdogan als Grenzwächter der EU dient. Der sogenannte Flüchtlingsdeal mit Ankara, der noch in der Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zustande kam, wird mittlerweile auch innerhalb der Unionsparteien in Frage gestellt.
Von Anfang an kritisiert hat diesen Pakt die damalige Linke-Politikerin Sevim Dagdelen: "Eine Politik zu machen zum Zwecke der Flüchtlingsabwehr mit jemandem, der selbst die personifizierte Fluchtursache für hunderttausende Kurden ist, das ist zum Scheitern verurteilt", sagte sie 2016 dem Deutschlandfunk.
Mit Blick auf Erdogans Nähe zur Hamas, die im Israel-Palästina-Konflikt eine blutige Strategie der Spannung verfolgt, wäre noch hinzuzufügen: nicht nur für hunderttausende Kurden.