Der Israel-Hass des schwierigen Partners

960 Moscheevereine in Deutschland von türkischer Religionsbehörde gesteuert: Erdogans Antisemitismus wirkt auch hier. Doch das ist nicht alles. Hintergründe und Kommentar.

Fast täglich betonten in den letzten Wochen Mitglieder der Bundesregierung die Solidarität mit Israel als Staatsräson – auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versicherte, Deutschland stehe an der Seite Israels. Allerdings will er am 17. November den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Kanzleramt empfangen – während Israel aus Gründen seinen Botschafter aus der Türkei abgezogen hat.

Erdogan bezeichnet die islamistische Hamas trotz ihrer bislang Terrorakte vom 7. Oktober als "Befreiungsorganisation" und wirft ausschließlich Israel Kriegsverbrechen vor.

Hamas-Unterstützer bedingt willkommen?

Der Westen sehe sich vielleicht in der Schuld Israels, ‚aber wir schulden Israel nichts‘, sagte Erdogan in der Sitzung der AKP-Fraktion. Unter den Rufen ‚Nieder mit Israel‘ und ‚Allah u Akbar‘ seiner Fraktion sagte er seinen geplanten Israel-Besuch ab. Während viele europäische Länder über Erdogans antiwestliche Hasstiraden und Solidaritätsbekundungen mit der Hamas entsetzt sind, sieht die SPD keinen Grund, den Besuch des türkischen Präsidenten am 17. und 18. November in Berlin abzusagen.

Bei einer Kundgebung am vergangenen Samstag in Istanbul hatte Erdogan den westlichen Staaten eine "Kreuzzugsstimmung" gegen Muslime vorgeworfen und gesagt: "Vergesst nicht, diese Nation lebt noch", rief Erdogan. Man könne "jede Nacht unerwartet kommen".

Zu diesen Worten, die durchaus als Drohung verstanden werden können, sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, im Gespräch mit der Welt nur, sein Parteifreund Olaf Scholz werde als Bundeskanzler "klar und deutlich unsere Sichtweise auf den Konflikt zum Ausdruck bringen und jeglichen Versuchen, die Verbrechen der Hamas zu relativieren, nachdrücklich widersprechen".

Man müsse mit Erdogan im Gespräch bleiben, damit "die Türkei ihre Rolle als konstruktive Gestaltungsmacht wahrnimmt und sich nicht auf die Seite von Terroristen schlägt". Ulrich Lechte, außenpolitischer Sprecher der FDP im Bundestag, sagte, Erdogan sei zwar ein äußerst schwieriger Nato-Partner, der einerseits als verlässlicher westlicher Partner auftrete, aber andererseits den Westen angreife, um innenpolitisch zu punkten. Dem müsse die deutsche Politik energisch entgegentreten.

Als ob es Erdogan interessiert, was der Westen zu seinen außenpolitischen Eskapaden sagt. Er weiß, dass Regierende in Deutschland in der Migrationsfrage unter Druck stehen – und weiterhin wollen, dass die Türkei weitere Migranten von der EU fernhält.

Erdogan weiß auch, dass sich die Bundesregierung das etwas kosten lässt - Geld, das er für sein von hausgemachter Inflation gebeuteltes Land dringend braucht. Dafür schweigt der Westen weiter zu den völkerrechtswidrigen Angriffen der türkischen Armee auf die zivile Infrastruktur in Nordsyrien. Das Abstellen der Wasserversorgung, die Bombardierung von Krankenhäusern, der Strom- und Gasversorgung, von Lebensmittellagern - all das, was Erdogan Israel als Kriegsverbrechen vorwirft, begeht die Türkei in Nordsyrien selbst.

Erdogan weiß auch, dass er jederzeit seine Anhänger in den von der türkischen Religionsbehörde kontrollierten Moscheen und den Organisationen der Muslimbruderschaft in Deutschland mobilisieren kann, falls die Bundesregierung sich von ihm nicht weiter am Nasenring durch die Manege ziehen lässt. Nach eigenen Angaben ist die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (Ditib) hierzulande Dachverband von 960 Moscheevereinen.

Kapitalinteressen: Warum Habeck in der Türkei belächelt werden dürfte

Ausgerechnet der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck reiste vergangene Woche trotz antisemitischer Propaganda und Drohungen Erdogans gegen den Westen für drei Tage zu Gesprächen über wirtschaftliche Zusammenarbeit in die Türkei.

Mit seinen rhetorischen Mahnungen, man müsse auch über Menschenrechts- und Klimaschutzstandards sprechen, dürfte er von Handelsminister Ömer Bolat, Finanzminister Mehmet Şimşek und Energieminister Alparslan Bayraktar eher belächelt worden sein.

Denn nach einer Umfrage der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer (AHK) bewerten gut zwei Drittel der in der Türkei tätigen deutschen Unternehmer ihre Lage als gut und nur ein einstelliger Prozentsatz als schlecht. Demokratie oder Menschenrechte haben deutsche Unternehmen in der Türkei noch nie interessiert.

Einige von ihnen waren auch schon vor mehr als 100 Jahren am Völkermord an den Armeniern beteiligt. Das weiß auch Erdogan. Interessant ist auch, dass ausgerechnet ein grüner Minister und deutscher Vizekanzler in der jetzigen Atmosphäre einen Kranz am Atatürk-Mausoleum niederlegte - für einen Mann, der als Staatsgründer der Türkei für deren strammen Nationalismus und für die seit über 100 Jahren andauernde Unterdrückung und Assimilierung von ethnischen und religiösen Minderheiten steht.

Heute leben noch rund 15 Millionen Menschen mit kurdischem Hintergrund in der Türkei, das entspricht 19 Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie waren nach der Gründung der Republik Jahrzehnte lang einer drastischen Assimilierungspolitik unterworfen: Kurdische Kinder durften in der Schule nur Türkisch sprechen, auf die Verwendung ihrer Muttersprache stand lange Zeit die Prügelstrafe. Kurdische Ortsnamen wurden durch türkische ersetzt, kurdische Namen und Kultur verschwanden aus der Öffentlichkeit.

1934 hatte das türkische Parlament ein Gesetz gegen "Personen ohne Verbindung zur türkischen Kultur", mit dem die Zwangsumsiedlung der kurdischstämmigen Bevölkerung aus den kurdischen Gebieten besiegelt wurde. Irgendwie passt das nicht zum Parteiprogramm der Grünen.

Im Gegensatz zur Bundesregierung sehen Wissenschaftler und Journalisten keine Gesprächsgrundlage mehr mit der derzeitigen türkischen Regierung. Der Professor für Politikwissenschaft an der Internationalen Hochschule und Leiter des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention in Essen, Burak Copur sagte, wirtschaftliche und migrationspolitische Angelegenheiten könnten auch auf ministerieller Ebene besprochen werden.

Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln, meint, Erdogan könne sich aufgrund der geostrategischen Lage den Handlungsspielraum nehmen, gegen den Westen zu hetzen, ohne Konsequenzen erwarten zu müssen.