Ausgeliefert: Wie ein Kurde für die Nato-Norderweiterung bezahlt
Exil-Oppositionelle wie Mahmut Tat waren Verhandlungsmasse, als die Türkei von Schweden Zugeständnisse für ihr "Ja" zum Nato-Beitritt des Landes verlangte. Nun wurde er abgeschoben und inhaftiert. Was Amnesty International zur türkischen Justiz sagt.
Triumphierend verkündete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu am Wochenende, der "PKK-Terrorist" Mahmut Tat sei in Istanbul festgenommen worden, nachdem er von Schweden an die Türkei ausgeliefert und über Nacht von Stockholm eingeflogen worden sei.
Wie schnell Terrorvorwürfe in der Türkei zustande kommen
Der abgelehnte Asylbewerber war am 22. November in Schweden festgenommen und in der Untersuchungshaftanstalt Mölndal festgehalten worden. 2015 war gegen ihn in der Türkei ein Strafverfahren wegen Betätigung für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingeleitet worden, das mit einer Verurteilung zu sechs Jahren und zehn Monaten Haft endete. Wie Anadolu betonte, ist das Urteil gegen den damals Geflüchteten in der Türkei rechtskräftig.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International geht allerdings davon aus, dass die türkische Justiz in den letzten Jahren internationale Standards für faire Gerichtsverfahren verletzt und "weit gefasste Antiterrorgesetze" genutzt hat, "um Handlungen zu bestrafen, die durch internationale Menschenrechtsnormen geschützt sind".
Dafür spricht auch, dass in der Türkei eine Ärzteverbandschefin und Forensikerin bereits wegen "Terrorpropaganda" inhaftiert und angeklagt wird, wenn sie öffentlich den Verdacht äußert, dass die türkische Armee im Kampf gegen die PKK im Nordirak verbotene Chemiewaffen einsetzt. Die Forensikerin Şebnem Korur Fincancı hatte deswegen auch eine unabhängige Untersuchung gefordert.
Zudem müssen Inhaftierte in der Türkei mit Folter und Misshandlungen rechnen. Amnesty International sprach zuletzt von "schwerwiegenden und glaubwürdigen Vorwürfen über Folter und andere Misshandlungen". Etliche "Geständnisse" vor türkischen Polizei- und Justizbehörden sowie belastende Aussagen mutmaßlicher Komplizen wären somit in Demokratien gar nicht verwertbar.
Deal auf dem Rücken der kurdischen Community
Es ist kein Zufall, dass die Auslieferung eines kurdischen Oppositionellen aus dem schwedischen Exil trotz alledem nach Jahren einer liberaleren Politik gerade jetzt erfolgt: Schweden und Finnland haben im Juni ein Auslieferungsabkommen mit der Türkei unterzeichnet, damit die islamisch-konservative Regierung des Nato-Landes dem Beitritt der skandinavischen Länder zum Nordatlantikpakt zustimmt.
Die Türkei hat bisher ihr Veto dagegen geltend gemacht, weil beide Länder – vor allem aber Schweden – quasi Hinterland der PKK seien.
Anfang November hatte Schweden angekündigt, noch weiter auf die Türkei zuzugehen und die eigenen Antiterrorgesetze zu verschärfen. Bislang waren sie vergleichsweise liberal gestaltet: Anklagen wegen der reinen Mitgliedschaft in einer Gruppierung, die im Ausland des Terrorismus bezichtigt wird, in Schweden und der EU aber keine Gewalttaten begeht, waren bisher nicht zulässig – anders als auch in Deutschland.
Die Türkei hatte ihre Zustimmung zum schwedischen Nato-Beitritt von diesem Schritt abhängig gemacht. Eine entsprechende Verfassungsänderung tritt zum Jahreswechsel in Kraft.
Ähnlich wie Mahmut Tat werden wohl noch mehrere kurdische Oppositionelle aus der Türkei, die in Schweden Schutz vor politischer Verfolgung suchten, mit Jahren ihrer Lebenszeit für die Nato-Norderweiterung bezahlen müssen.
Die kurdischstämmige Politikerin Amineh Kakabaveh hatte genau das befürchtet, als sie im Sommer dieses Jahres als unabhängige Parlamentsabgeordnete mit der sozialdemokraten Regierungspartei verhandelte. Es ging um ihr Stimmverhalten beim Misstrauensvotum gegen Justizminister Morgan Johansson, bei dem sie sich als "Zünglein an der Waage" letztendlich enthalten hatte – nach den Absprachen hatte sie Zweifel, ob ihr gegenüber gemachte Zusagen zum Schutz kurdischer Oppositioneller im Exil eingehalten würden.
Das Misstrauensvotum, das die rechten "Schwedendemokraten" aus ganz anderen Gründen initiiert hatten, war somit knapp gescheitert.
Schwedische Staatsbürger bekommt die Türkei nicht, dafür aber Waffen
Zeitweise hatte die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan sogar die Auslieferung kurdischstämmiger Menschen verlangt, die wie Amineh Kakabaveh seit mehreren Jahren schwedische Staatsbürger sind. Dazu kam es aber bisher nicht; die rechtlichen Hürden wären auch wesentlich höher.
Im September dieses Jahres hatte Schweden dafür erstmals wieder Rüstungsexporte in die Türkei bewilligt. Die Ausfuhrgenehmigungen waren zuvor aufgrund der völkerrechtswidrigen Invasion der türkischen Armee im Oktober 2019 in Nordsyrien gestoppt worden. Damals hatte sich Schweden noch für ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei eingesetzt.