Erdogans geopolitisches Vabanque-Spiel

Seite 3: USA lassen die Kurden fallen

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Es sind somit nicht nur geopolitische Erwägungen, sondern auch handfeste Wirtschaftsinteressen, die Moskau dazu verleiteten, die Kurden in Afrin zum Abschuss durch die türkische Soldateska samt ihres dschihadistischen Anhangs freizugeben. Und eben hier treten die Differenzen Moskaus zum verbündeten syrischen Regime zutage, dem die territoriale Integrität wichtiger ist als die Pipeline-Deals des Kremls.

Die USA haben sich zwar öffentlich auf das Lavieren zwischen den syrischen Kurden und dem "Nato-Partner" Türkei verlegt, wobei US-Außenminister Rex Tillerson gegenüber Erdogan den Good Guy spielte, während das Pentagon als der "Bad Guy" Kritik am türkischen Einsatz in Afrin übte, doch längst ist klar: Washington hat die Kurden Syriens, die die Hauptlast des Krieges gegen IS trugen, fallen gelassen. Der autoritäre "Nato-Partner" Türkei ist Washington wichtiger als die sich in radikaldemokratischen Experimenten übenden Kurden Syriens, wie US-Medien berichteten.

Die Annäherung zwischen Assad und den Kurden sei für letztere alternativlos gewesen, erklärte ein Experte gegenüber Newsweek: "Sie haben sich Assad zugewendet, weil wir ihnen keine andere Wahl ließen." Damit gehe ein massiver Einflussverlust der USA in der Region einher, der den imperialen Abstieg der einstigen Hegemonialmacht beschleunigen dürfte: "Wer wird künftig für uns kämpfen und sterben wollen, wenn wir kein verlässlicher Verbündeter sind?" Washington habe effektiv die Interessen der Türkei höher gewichtet als diejenigen der Kurden.

Washingtons Tolerierung der türkischen Aggression in Afrin gegen die einstigen Verbündeten dürfte eben dem Bemühen geschuldet sein, die von Moskau intendierte Herauslösung der Türkei aus dem westlichen Bündnissystem zu verhindern. Weder die USA noch Russland würden ihre Beziehungen zur Türkei "riskieren" wollen, indem sie den Krieg Ankaras zu stoppen versuchten, so Newsweek.

Erdogans geopolitisches Vabanque

Das türkische Regime bemüht sich somit, bislang erfolgreich, die Großmächte Russland und USA gegeneinander auszuspielen, um seinen neo-osmanischen Expansionsträumen in der Region näher zu kommen. Erdogan spielt ein brandgefährliches geopolitisches Vabanque, bei dem das geopolitische Gewicht der Türkei eingesetzt wird. Die imperialen Widersprüche und regionalen Interessengegensätze Moskaus und Washingtons instrumentalisierend, versucht Ankara, sich als regionale Hegemonialmacht zu etablieren. Die türkische Expansion samt drohenden ethnischen Säuberungen wird durch die Drohung mit oder das Versprechen des Übertritts ins verfeindete geopolitische Lager ermöglicht.

Dies ist letztendlich nur die Realität des bereits in dieser Region vollzogenen hegemonialen Abstieges der USA. Was sich in Syrien geopolitisch materialisiert, ist somit eine neu-alte "multipolare Weltordnung", die verdächtig an das Zeitalter des klassischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts erinnert. Im Endeffekt versuchen nun viele Möchtegern-USA, ihre Machtfülle auf globaler oder auch nur regionaler Ebene zu mehren, weil Washington sich im Abstieg befindet.

Wer hätte das gedacht: Der Abstieg der USA führt bei Beibehaltung des kriselnden kapitalistischen Weltsystems nicht zu einem Zeitalter des Friedens, sondern zu einer Vervielfachung der imperialistischen Gewalt spätkapitalistischer Staatsmonster. Die USA haben ihre Hegemonie bereits eingebüßt, sie sind in Syrien ein - wichtiger, hauptsächlich gegen Iran agierender - Machtfaktor unter vielen. Washington ist somit nicht mehr in der Lage, die Anwendung militärischer Gewalt bei Weltordnungskriegen zu monopolisieren, wie es in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges der Fall war.

Hierzu ist aber auch der Kreml als scheinbarer Herausforderer der USA offensichtlich nicht in der Lage. Regime, wie dasjenige Erdogans, nutzen nun die zunehmenden internationalen Interessengegensätze, um ihre eigenen imperialen Ambitionen - samt ethnischer Säuberung und drohenden Massenmord - zu forcieren.

Das Vabanque Erdogans könnte aber dann zum Scheitern gebracht werden, wenn es irgendeine diesbezügliche Form der Verständigung zwischen den imperialen Konkurrenten Russland und USA gäbe. Erst wenn in Washington und Moskau die Einsicht reifen sollte, dass Erdogans Fiebertraum eines neuen Osmanischen Reiches in dieser hochkomplexen und spannungsreichen Region weitaus gefährlicher ist als ihre wechselseitige Rivalität, könnte zumindest eine geopolitische Eindämmung des türkischen Islamofaschismus gelingen.