Alte neue Weltordnung

Blick auf Manhattan vom Rockefeller Center. Foto: Jerry Ferguson / CC BY 2.0

Das sich deutlich abzeichnende Ende der globalen US-Hegemonie blamiert den deutschen Antiamerikanismus bis auf die Knochen

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Es war ein Meisterstück imperialistischer Kanonenbootpolitik: Unter Ausnutzung der inneren Spannungen und Konflikte innerhalb der korrupten kurdischen Klans haben es die regionalen Mächte im Nah- und Mittelost geschafft, den kurdischen Traum von nationaler Selbstbestimmung binnen weniger Tage zu zerschlagen. Der in den Kurdengebieten des Irak herrschende Barzani-Klan steht vor den Trümmern seiner per Referendum forcierten Unabhängigkeitspolitik, nachdem konkurrierende Kurdengruppen sich aus den Frontlinien um die umkämpfe Ölstadt Kirkuk schlicht zurückzogen.

Ein unabhängiges Kurdistan, einen Staat für das größte staatenlose Volk der Welt, wird es nicht geben, nachdem schiitische, mit dem Iran verbündete Milizen (offiziell als "Irakische Streitkräfte" bezeichnet) in einem Überraschungsangriff weite Teile der kurdischen Autonomieregion überrannten. Während die iranisch unterstützen Milizen vorrückten, hat die Türkei den Luftraum und die Grenzen zu Irakisch-Kurdistan geschlossen, sowie ihre militärischen Aktivitäten in Nordirak verstärkt.

Die Annäherung der geopolitischen Rivalen Türkei und Iran in der Region findet somit über der Leiche Kurdistans statt. Beide Regime, die über kurdische Minderheiten herrschen, wollen in den von den Kurden eroberten Grenzgebieten neue Grenzübergänge einrichten, um diese weiter zu isolieren.

Das geheiligte "Selbstbestimmungsrecht der Völker", das insbesondere deutschen "Antiimperialisten" jedweder politischen Couleur so am Herzen zu liegen scheint, wurde hier offensichtlich mit Füssen getreten: Gerade von dem in diesen Kreisen gerne als objektiv "antiimperialistisch" agierenden iranischen Regime, das dabei mit der Türkei kooperierte. Dies geschah selbstverständlich mit Wissen und - mindestens - der Tolerierung aus Moskau, das ja eben diese Regionalmächte an einem Verhandlungstisch bei den Syrien-Verhandlungen in Astana brachte.

Es ist jetzt evident, auf wessen Kosten die dort ausgehandelten geopolitischen Deals gehen. Selbstverständlich, wie es sich für klassischen Imperialismus gehört, geht es hierbei auch ums Öl. Die Krise in Kurdistan könne zu neuen Energie-Deals zwischen dem Iran, der Türkei und Russland führen, schrieben US-Medien.

Das Besondere an diesem klassischen imperialistischen Machtpoker ist ja tatsächlich, dass er ohne die Beteiligung der USA stattfand. Washington - das zugleich sich auf Konfrontationskurs mit Nordkorea befindet, wo drei Flugzeugträger gebunden sind - intervenierte nicht. In Gegenteil: Das Weiße Haus begrüße den Verzicht Barzanis auf die Unabhängigkeit Kurdistans.

De facto habe Washington sich bei dieser Auseinandersetzung "auf der Seite Irans" befunden, schlussfolgerte etwa CNN. Im US-Kongress haben Scharfmacher diese "Neutralität" der USA bei den Kämpfen vehement kritisiert.

Blamage des "Antiamerikanismus"

Dieses imperialistische Lehrstück aus Irakisch-Kurdistan, das an all die unzähligen imperialistischen Gemetzel der vergangenen Jahrzehnte erinnert, bietet gerade einen Ausblick auf ein spätkapitalistisches Weltsystem nach dem Ende der US-Hegemonie: Es ändert sich nichts Grundlegendes.

Die "Interventionen", die Militärabenteuer, die Ressourcenmassaker gehen weiter, sie werden gar intensiviert, nur die Namen der beteiligten "Mächte" ändern sich. Jahrzehnte, in denen in Teilen der deutschen "antiimperialistischen" Linken wie auch der extremen Rechten ein dumpfer Antiamerikanismus gepredigt wurde, bei dem alle Übel des Spätkapitalismus auf das bösartige Wirken der USA zurückgeführt wurden, blamieren sich gerade an der geopolitischen Realität in dem historischen Moment, in dem die USA ihrer Rolle als Hegemon verlustig gehen.

Das Weltbild des deutschen Antiamerikanismus ist schlicht: Alles Böse komme vom großen Satan USA, während das imperialistische Dominanzstreben der anderen Weltmächte, wie auch der BRD, ausgeblendet oder legitimiert wird - die inneren Widersprüche des Kapitals, die das gegenwärtige neoimperiale Great Game in einen globalen Schlagabtausch treiben könnten, verschwanden beim Antiamerikanismus im halluzinierten absolut Bösen der USA. In dieser Ideologie werden somit US-amerikanische Verschwörungen für die überall um sich greifenden Kriege und Krisen verantwortlich gemacht und nicht die eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitals.

Das Chaos, die zunehmenden Spannungen und Kriege in vielen Weltregionen, sie sind aber gerade Indiz für die schwindende US-Hegemonie: Die USA treten als Hegemonialmacht offensichtlich ab, doch zugleich ist kein Nachfolger in Sicht. Deswegen wird sich die Gewalt auf globaler Ebene, die zuvor nur der US-Hegemon im Rahmen seiner Funktion als imperialistische Weltpolizei ausübte, potenzieren, da nun viele Nachwuchs- und Möchtegern-USA auf blutige Expansionspolitik setzen werden.

Bestes Beispiel dafür ist derzeit das islamistisch-faschistische Regime in der Türkei, das das Osmanische Reich reanimieren will oder der theokratische Iran samt seinem regionalen Rivalen Saudi Arabien, die etwa im hungernden Jemen einen blutigen Stellvertreterkrieg führen lassen (die absteigenden USA nehmen dort inzwischen eine Nebenrolle ein).

Um beim Beispiel Mittelost zu bleiben: Der Einfluss der USA in der Region schwindet, während der Kreml Ansprüche erhebt, als neue "Ordnungsmacht" im Mittleren Osten aufzutreten - was natürlich die militärischen wie ökonomischen Kapazitäten Russlands weit übersteigt.

Der Kreml kann zeitweilige Allianzen zwischen den regionalen Akteuren schmieden, doch er kann nicht, wie es die USA in den zwei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks taten, ein Monopol auf imperialistische Interventionen durchsetzen. Dieses militärische Fundament der 20-jährigen amerikanischen Hegemonie nach 1990 - Interventionen wurden durch die USA und "ihrer" Nato monopolisiert - ist unwiederbringlich verloren gegangen. Der "Westen" kann sich seine neoimperialistischen Weltordnungskriege in den Zusammenbruchgebieten des Weltsystems kaum noch leisten.

Dies ist die Praxis der multipolaren Weltordnung im Spätkapitalismus, von der alle geopolitischen Akteure schwadronieren, die sich Hoffnungen darauf machen, die USA zu beerben: Jeder Staat, der die militärischen Mittel besitzt und noch nicht vom Zerfall ergriffen wurde, kann jetzt "intervenieren". Es ist ein Imperialismus ohne Hegemon. Deswegen nehmen die geopolitischen Turbulenzen weiter zu, obwohl die USA absteigen.

Indien vs. China

Evident wurde dies auch an den Spannungen zwischen China und Indien im August 2017, die beide Länder an den Rand einer militärischen Auseinandersetzung brachten: Nach zunehmenden Grenzzwischenfällen zwischen beiden südostasiatischen Großmächten beiderseits der konfliktreichen Grenze im Himalaya wurden rasch massive Truppenverbände in der Region zusammengezogen.

Wie immer bei solchen binnenkapitalistischen Konflikten ist deren konkreter Anlass - hier ein Straßenbauprojekt auf einem zwischen China und Bhutan umstrittenen Hochplateau - eingebettet in ein spannungsreiches regionales Interessengeflecht beider Großmächte.

Die Washington Post gab einen Überblick über die zunehmenden geopolitischen Friktionen, die mit dem Aufstieg Chinas in der Region einhergehen (und die Washington bei seinen anti-chinesischen Eindämmungsversuchen zu instrumentalisieren versucht). Die Spannungen reflektierten die zunehmende "geopolitische Konkurrenz" zwischen den südostasiatischen Großmächten, da Pekings Dominanz in der Region aufgrund "ehrgeiziger Infrastrukturprojekte" wachse und Indien "von Einigen" als ein "letztes Gegengewicht" angesehen werde.

Der chinesische Straßenbau an der Grenze zu Bhutan würde Pekings Truppen näher an den strategischen indischen Siliguri-Korridor bringen, einer schmalen Landbrücke in Westbengalen, die die nordöstlichen Provinzen mit dem Rest des Landes verbindet.

Indien wiederum sei verstärkt bemüht, den tibetischen Separatismus zu fördern. Auch im Südchinesischen Meer gehe Peking daran, durch die "Befestigung von Inseln" seine Territorialansprüche in der ressourcenreichen Region durchzusetzen. China beansprucht einen Großteil des Südchinesischen Meeres, durch das einer der wichtigsten globalen Handelswege führt, für sich.

Als angebliche "Aufsteiger" im kapitalistischen Weltsystem verhalten sich die "BRIC"-Staaten China und Indien somit kaum anders, als es die kapitalistischen Kernländer in den vergangenen Jahrhunderten taten.

Imperialismus und die Krise des Kapitals

Unstrittig ist, dass die Vereinigten Staaten seit der Erlangung ihrer Stellung als Welthegemon in zahllosen Kriegen und Interventionen die breiteste Blutspur in der Weltgeschichte nach 1945 hinterlassen haben. Doch ist diese Stellung der USA als globale Hegemonialmacht, die der "unsichtbaren Hand" des Weltmarktes immer wieder mit der eisernen Faust ihrer Militärmaschinerie zum Durchbruch verhalf, nicht neu.

Seit der Ausbildung des kapitalistischen Weltsystems haben immer wieder Großmächte die Stellung einer Hegemonialmacht erobert; dies ist ein konstitutionelles Merkmal des Kapitalismus. Vor den USA hatte beispielsweise Großbritannien diese Stellung inne, und die britische Kolonialpolitik gegenüber Indien war nicht weniger massenmörderisch als etwa der Krieg der USA in Vietnam.

Um die Gegenwart auf den korrekten theoretischen Begriff zu bringen, können somit durchaus - wenn auch begrenzt! - Parallelen zum klassischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts gezogen werden - zum globalen Machtkampf der imperialen Großmächte, der in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges kulminierte. Alle kapitalistischen Großmächte, auch Russland, China oder die regionalen "Aufsteiger" Iran und Türkei, streben nach einer Erweiterung ihrer Machtfülle durch Expansion (eine Einteilung in "gute" und "böse" Mächte ist schlich infantil).

Dem uferlosen Akkumulationszwang des Kapitals in der Sphäre der Ökonomie entspricht der Expansionsdrang der kapitalistischen Staaten, der in Wechselwirkung mit eben den Widersprüchen der Kapitalverwertung steht (imperiale Expansion um neuer Märkte, neuer Ressourcen wegen).

Der wichtigste Unterschied zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem derzeitigen Neoimperialismus besteht in der globalen Krisendynamik, die gerade diese neoimperiale Expansion antreibt. Die zunehmenden inneren Widersprüche in den kapitalistischen Machtblöcken (Eurokrise, Folgen der geplatzten US-Immobilienblase) sollen durch diese Expansion kompensiert werden.

Innere sozioökonomische Widersprüche lassen den imperialistischen Drang zur äußeren Expansion - auf Kosten der geopolitischen Konkurrenz - anschwellen, während zugleich die wachsenden Schuldenberge die Aufrechterhaltung dieser Interventionspolitik immer kostspieliger werden lassen.

Die Kämpfe der erodierenden kapitalistischen Staatsmonster untereinander nehmen zu, während all die westlichen Interventionen in den failed states der Peripherie des Weltsystems sich als kolossale Fehlschläge erwiesen haben (Afghanistan, Irak, Somalia, Libyen, etc.). Der Abgang der USA wird somit nicht mehr von einer neuen hegemonialen Ära abgelöst werden - etwa einem "Chinesischen Zeitalter".

Der nun allseits prognostizierte Wachwechsel an der Spitze des kapitalistischen Weltsystems - bei dem China die USA als Hegemon ablösen würde - scheint kaum machbar, da die Volksrepublik als dessen Bestandteil auch von der Krise erfasst wurde, in der sich der Spätkapitalismus befindet. Gigantische Schuldenberge wurden nicht nur in den USA, sondern auch in der Volksrepublik aufgetürmt. Tatsächlich nähert sich China mit Riesenschritten einem ähnlichen Niveau der Gesamtverschuldung an, wie es die USA aufweisen.