Erfolgsspuren und Abstellgleise

Ein aktuelles Ranking bewertet Niveau und Dynamik der deutschen Großstädte. Für die westdeutschen Klassenbesten und einige ostdeutsche Aufsteiger sieht es gut aus, in anderen Kommunen geht langsam das Licht aus

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Die Häufigkeit und Detailfreude, mit der Institutionen, Verbände und Experten aller Art seit vielen Jahren an diversen Rankings der deutschen Städte und Gemeinden arbeiten, legt den Verdacht nahe, dass der Wahl des Lebensmittelpunktes im 21. Jahrhundert eine höhere Bedeutung zukommt als in früheren Zeiten. Zwar wurden die Foren und Tempel der Antike, die sakralen Prachtbauten des Mittelalters oder die wuchtigen architektonischen Selbstinszenierungen der Gründerzeit auch nicht an beliebigen Orten oder gar auf dem flachen Land errichtet. Doch die Moderne hat aufgrund ausgefeilterer technischer Voraussetzungen noch bessere Möglichkeiten, sich auf Zentren wirtschaftlicher und politischer Macht zu verständigen. Die Lebensqualität in Form von kultureller Vielfalt, gepflegter Park- und Grünanlagen oder optimaler Kinderbetreuung kommt denn auch genau dahin, wo sie die Entscheidungsträger und Nutznießer der sozialen Marktwirtschaft haben wollen.

Die Wahl des Wohnortes oder des Firmensitzes sagt mittlerweile weniger über geographische Vorlieben als über Anspruch und Selbstverständnis aus, und das gilt offenbar umso mehr, je häufiger die eigenen Einschätzungen und Vermutungen durch öffentlichkeitswirksame Zahlen, Daten und Fakten unterstützt zu werden scheinen. Das aktuelle Ranking der 50 größten deutschen Städte, das die „erfolgreichste“ deutsche Kommune ermitteln sollte und jetzt von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und dem Magazin WirtschaftsWoche vorgestellt wurde, spiegelt und forciert diese Entwicklung in beispielhafter Weise.

Das Gesamtergebnis, das von der Kölner IW Consult GmbH berechnet wurde, setzt sich aus einem Niveau- und einem Dynamik-Ranking zusammen. Ersteres berücksichtigt aktuelle Zahlen der Indikatoren Arbeitseinkommen, Realsteuerkraft, Arbeitslosen- und Investitionsquote bis hin zu Pendlersaldo und Kriminalitätsrate. Der Dynamik-Faktor zeigt die Entwicklung der Kommunen zwischen 2000 und 2005 und dokumentiert so entsprechende Fort- und Rückschritte.

Spitzenreiter München – Aufsteiger Dresden

Bei der neuesten Auswertung konnte München seinen Spitzenplatz vom Vorjahr erwartungsgemäß verteidigen. Die bayerische Landeshauptstadt setzte sich trotz kleinerer Rückschritte im Bereich „Dynamik“ deutlich gegen Frankfurt, Stuttgart und Düsseldorf durch. So wies München mit 17.148 Euro pro Einwohner im Jahr 2005 beispielsweise das größte Arbeitseinkommen auf, der Durchschnitt der untersuchten Städte lag nur bei 11.678 Euro.

Spitzenwerte erzielte der Klassenprimus auch in puncto Arbeitsplatzversorgung - 65,6 Prozent der erwerbsfähigen Einwohner haben einen Arbeitsplatz in der Stadt – und Arbeitslosenquote, die bei 9,8 Prozent und damit weit unter dem Durchschnitt von 16 Prozent lag. Positiv wurde auch die vergleichsweise niedrige Zahl der Arbeitslosengeld II-Empfänger, die wachsende Einwohnerzahl und der weiter gestiegene Anteil der Hochqualifizierten an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen gewertet. Bezüglich der Ausbildungsplatzdichte bekam München allerdings keine guten Noten, und die Verschuldung pro Einwohner war mit 4.136 € so hoch wie in keiner anderen untersuchten Kommune.

Was den Bayern an Dynamik fehlte, hatten die Sachsen offenbar reichlich. Leipzig und Chemnitz konnten bei noch immer schlechten Platzierungen stark verbesserte Einzelwerte aufweisen, und Dresden gelang eine Art Quantensprung innerhalb der Stadtentwicklung. Die sächsische Landeshauptstadt verbesserte sich von Platz 30 auf Rang 10 und konnte in Sachen „Dynamik“ alle Mitbewerber hinter sich lassen.

Tatsächlich setzte Dresden andere Akzente als viele Kommunen in Ost- und Westdeutschland. Die Investitionsquote war mit 14,8 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt der 49 Konkurrenten. Ähnlich verhielt es sich beim Anteil der Hochschulabsolventen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (20 gegen 11,9 Prozent). Die Arbeitseinkommen stiegen zwischen 2000 und 2005 um 9,3 Prozent, die Produktivitätsrate war 2004 um 29 Prozent höher als 2000, und in Sachen Altersbeschäftigung konnte Dresden ebenfalls punkten. Die Zahl der ab 55jährigen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten je 100 Einwohner im Alter von 55-65 Jahren lag bei 35 Prozent und damit 5,5 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.

Die Schlusslichter: Rostock und Gelsenkirchen

Aus dem Norden und Westen der Republik gibt es weniger Positives zu berichten. Dabei stehen Rostock und Gelsenkirchen nicht einfach als Symbole für das strukturschwache Mecklenburg-Vorpommern und das im Strukturwandel begriffene Ruhrgebiet. Städte wie Essen oder Dortmund sind nicht optimal, aber doch deutlich aussichtsreicher positioniert, und manch ländliche Region im nördlichsten der nun auch nicht mehr ganz so neuen Bundesländer scheint sich besser auf die aktuellen Entwicklungen eingestellt zu haben als die traditionsreiche Hansestadt.

In Rostock wären die Stadtmütter und –väter vermutlich froh, wenn sie – wie der im vergangenen Jahr abgestiegene lokale Fußballverein – wenigstens noch in der 2. Liga spielen dürften. Angesichts von 12,4 Arbeitslosengeld II-Empfängern pro 100 Einwohner, einer Realsteuerkraft von 376 Euro, der schlechtesten Bilanz von Gewerbean- und abmeldungen und einem negativen Beschäftigungswachstum von minus 14,2 Prozent in den Jahren 2000 bis 2005 blieb aber nur der letzte der 50 Plätze.

Gelsenkirchen tat jedoch einiges, um Rostock diese Position streitig zu machen. Hier lag der Anteil der Arbeitslosengeld II-Empfänger bei 11,7 Prozent, und die Ausbildungsplatzdichte war so gering wie nirgends sonst im gerankten Deutschland. Besonders beunruhigend ist der anhaltende Abwärtstrend der letzten Jahre, der Gelsenkirchen auch im Bereich „Dynamik“ nur Rang 46 einbrachte. Allein zwischen 2000 und 2005 stieg die ohnehin schon astronomische Arbeitslosenquote noch einmal um 8,3 auf nunmehr 25,2 Prozent.

Ausgewählte Indikatoren mit beschränkter Aussagekraft

Das Ergebnis all dieser Zahlenspielereien bietet reichlich Interpretationsspielräume:

Einige Städte nutzten mit innovativen Ideen und viel Engagement die durchaus vorhandenen Spielräume, um im Wettbewerb zwischen den Kommunen einen Vorsprung zu erlangen. Doch um erfolgreich zu sein, brauchen die Kommunen mehr Freiheit. Weniger Bürokratie und Zentralismus, mehr Eigenverantwortung und Raum für Experimente führen zu besseren Ergebnissen und passenden Lösungen für die jeweilige Stadt.

Presseerklärung von INSM und WirtschaftsWoche

Mit solchen Aussagen kann man nicht viel falsch machen, da sie seit Jahrzehnten im Umlauf sind und grundsätzlich für richtig befunden wurden. Allerdings zeigt das Ranking selbst, wie die einzelnen Städte in ganz unterschiedlichen Bereichen besonderes Talent fördern und entwickeln können. Es sind eben nicht nur München, Frankfurt und Düsseldorf zu nennen, sondern auch Hamm (größte Wirtschaftsfreundlichkeit), Solingen (niedrigste Kriminalitätsrate), Hannover (höchste Altersbeschäftigungsquote) oder Erfurt (höchste Investitionsquote), und wer die dynamische Entwicklung der Jahre 2000 bis 2005 hinzunimmt, kommt auch an Chemnitz (größer Zuwachs der Realsteuerkraft), Herne (höchste Bruttolohnsumme am Arbeitsort je sozialversicherungspflichtig Beschäftigten) oder Magdeburg (bestes Verhältnis von Gewerbean- und abmeldungen) nicht vorbei. Die Frage, warum die guten Einzelwerte nur selten zu einer effektiven Wirtschaftspolitik vernetzt werden können, lässt sich mit freiheitlich-demokratischen Forderungen nach weniger Bürokratie und Zentralismus - oder umgekehrt: mehr Eigenverantwortung und Experimentierfreude - nicht zufriedenstellend beantworten.

Immerhin wäre auch darüber zu diskutieren, ob der „Erfolg“ einer Stadt nahezu ausschließlich an ökonomischen Indikatoren festgemacht werden darf. Für die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die von Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie mit einem Jahresetat von rund 8,8 Millionen Euro ausgestattet wird, und ein nicht eben revolutionslüsternes Organ wie die WirtschaftsWoche ist das selbstverständlich. Aber es soll Zeitgenossen geben, für die Nachbarschaftshilfe, Solidarität am Arbeitsplatz, ein freundschaftliches Miteinander von Alteingesessenen und Migranten, Kreativität und Improvisationstalent oder auch die Anzahl der Laubbäume und Singvögel entscheidender sind als das Bruttoinlandsprodukt, die Produktivitätsrate oder der Demografie-Index.

Vor dem Hintergrund der Ausgangsüberlegungen darf auch darüber spekuliert werden, inwieweit Städterankings das, was sie zu dokumentieren vorgeben, gleichzeitig propagieren und damit, wenn schon nicht die Realität, dann wenigstens die Warnung derselben beeinflussen. Die virtuelle Welt der Leistungsvergleiche überlappt sich bisweilen allzu deutlich mit politischen und ökonomischen Interessen. Im vorliegenden Fall wird das besonders deutlich, wenn es um die rot-rot regierte Bundeshauptstadt geht. Dass Berlin vor allem die wirtschaftlichen Probleme über den Kopf zu wachsen drohen, kann niemand ernsthaft bestreiten. Die Metropole hat seit der Wiedervereinigung aber auch einen beispiellosen Imagegewinn und dramatischen Bedeutungszuwachs erlebt, was sich übrigens nicht zuletzt in der Zahl von 49 Headquartern ausdrückt, während andernorts nur durchschnittlich 12 bedeutende Unternehmen ihren Hauptsitz in die jeweilige Kommune gelegt haben. Trotz vieler negativer ökonomischer Daten grenzt es folglich ans Absurde, Berlin bei einem Ranking der erfolgreichsten deutschen Städte direkt hinter Kassel, Halle und Lübeck auf Platz 48 zu verorten. Aber Zahlen sind eben folgsame Wesen – sie gehorchen dem, der sie anzuordnen weiß.