Erschossen an einer Straßensperre

Die US-Bürgerrechtsorganisation ACLU hat vom Pentagon aufgrund eines FOIA-Antrags Dokumente über Schadensersatzforderungen von Angehörigen getöteter Zivilisten in Afghanistan und im Irak erhalten, die einen Einblick in die Gefahren für Zivilisten erlauben, denen sie durch US-Soldaten ausgesetzt sind

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Zum Alltag der Gewalt tragen nicht nur Aufständische und Terroristen im Irak bei, sondern auch die Besatzungsmächte. Bei Straßensperren, Einsätzen, Bombardierungen und Patrouillen finden sich unter den Opfern nicht selten Zivilisten, auch wenn sie vom Militär in aller Regeln als Aufständische oder Terroristen bezeichnet werden. Schon länger ist bekannt, dass besonders an den Straßensperren US-Soldaten auch sicherheitshalber feuern. Auch in anderen Situationen, bei denen es sich nicht um Kampfhandlungen handelt, gibt es immer wieder Opfer. Wie viele Zivilisten durch die Koalitionstruppen in Afghanistan und im Irak getötet und verletzt wurden, ist nicht bekannt. Aber ihre Aktionen gegen die Zivilbevölkerung haben den Widerstand gegen die Besatzungstruppen und ihre Ablehnung verstärkt. Die Bürgerrechtsorganisation ACLU hat nun erstmals über einen Informationsfreiheitsantrag einen Einblick in die durch US-Soldaten verursachten Opferzahlen gewinnen können, indem sie eine Liste mit Forderungen von Entschädigungszahlungen an Angehörige von irakischen Opfern erhalten hat.

Die ACLU geht davon aus, dass die aufgrund des FOIA-Gesuchs herausgegebenen Fälle nur ein kleiner Ausschnitt der Forderungen sind, die beim Verteidigungsministerium eingegangen sind. Es handelt sich um 496 Forderungen, bei 164 wurden Geldzahlungen an die Angehörigen der Opfer bewilligt. Das Pentagon leistet Schadensersatzzahlungen nicht für "Kollateralschäden" bei Kampfhandlungen, sondern nur dann, wenn keine Kämpfe stattgefunden haben und die Soldaten "fahrlässig" oder "falsch" gehandelt haben. Wenn das Militär für den Tod eines Zivilisten nicht die Verantwortung übernimmt, kann eine Art Schmerzensgeld von maximal 2.500 US-Dollar bezahlt werden. Das war etwa bei der Hälfte der erfolgten 164 Zahlungen der Fall.

By making this condolence payment, MNF ensures the family and community recognize the MNFs' sympathy for the unfortunate occurrence. Support will positively influence both the community and local Iraqi leaders.

Standardbegründung für Schmerzensgeldzahlungen

Bei den zurückgewiesenen Fällen wurde geltend gemacht, dass die Opfer im Zuge von Vorfällen entstanden sind, die entweder durch Aktionen eines Gegners oder direkt oder indirekt durch Handlungen der Streitkräfte in Kampfhandlungen verursacht wurden. Die meisten der Forderungen, die zwischen 2003 und 2006 erhoben wurden, beziehen sich auf Vorfälle im Irak. Die meisten wurden 2005 erhoben, in Afghanistan 2006.

Für die ACLU geben die Dokumente erstmals einen detaillierten Einblick in die Bedingungen, die zum Tod von Zivilisten im Irak und in Afghanistan geführt haben. Das Pentagon habe seit Beginn des Krieges in Afghanistan möglichst weitgehend zu verhindern versucht, so Anthony Romero von der ACLU, dass Informationen über die menschlichen Kosten des Krieges bekannt werden. Das Pentagon habe beispielsweise Fotografen auf Militärstützpunkten verboten, Bilder von Särgen mit getöteten US-Soldaten zu machen. Man habe irakische Journalisten bestochen, positive Berichte zu schreiben, von Journalisten gemachte Bilder von toten Zivilisten in Afghanistan vernichtet oder sich geweigert, Statistiken von getöteten Zivilisten herauszugeben. Romero betont, dass "unsere Demokratie von informierten Bürgern" abhänge, weswegen diese einen vollständigen und genauen Zugang zu Informationen "über den Verlauf des Krieges und dessen Folgen für unschuldige Zivilisten" erhalten müssten. Die jetzt vom Pentagon übermittelten Informationen würden die Öffentlichkeit die Last erkennen lassen, "die die Zivilisten im Irak und in Afghanistan tragen müssen". Sicher wurde gelegentlich auch versucht, Zahlungen durch Betrügereien oder aufgrund von Vorfällen zu erhalten, an denen US-Soldaten nicht direkt beteiligt waren, beispielsweise aufgrund von explodierten Sprengsätzen an Straßen (IEDs). Allerdings heißt es auch gelegentlich, dass Zahlungen verweigert wurden, weil die US-Einheit nicht über den Vorfall berichtet hat.

Die meisten Todesopfer gab es an Straßenkontrollen, in der Nähe von US-Konvois oder wenn nicht auf Handsignale von US-Soldaten korrekt reagiert wurde. So schossen "zufällig" US-Soldaten auf ein Haus in Hib Hib, wobei sie drei Kinder einer Familie töteten und das Haus zerstörten. Auch 32 Schafe kamen bei der wilden Schießerei ums Leben. Die Hinterbliebenen erhielten 35.000 US-Dollar Schadensersatz. 2006 wurde ein Fischer erschossen, als er sich bückte, um den Motor seines Bootes auszustellen. Zuvor hatte er "Fisch" gerufen und auf seine Beute gezeigt. Das Pentagon verweigerte eine Zahlung, weil die Tötung im Verlauf einer Kampfhandlung vorgefallen sei, gewährte aber 3.500 US-Dollar Schadensersatz für das Boot. In einem anderen Fall schossen US-Soldaten auf eine schlafende Familie und töteten dabei die Mutter, den Vater und den Bruder des Klägers. Nach dem Pentagon hatten die Soldaten auf einen Angriff aus Richtung des Dorfes reagiert. In Bagdad wurde ein Vierjähriger beim Spielen auf der Straße von einer Kugel getötet. Das Militär übernahm die Verantwortung dafür und zahlte 4.000 Dollar. Im Mai 2005 befand sich ein Kläger mit seinem Bruder auf einem belebten Markt. Angeblich seien vier Humvees gekommen, die Soldaten hätten wild um sich geschossen und dabei seinen Bruder getötet. Danach hätten sie sich entschuldigt und ihm einen Antrag für Schadensersatz gegeben, der aber nicht bewilligt wurde, weil der Kläger nicht nachweisen konnte, dass die Soldaten fahrlässig oder falsch gehandelt haben.

Bei den Schießereien an Straßenkontrollen handelte es sich in aller Regel um Missverständnisse. So wurde die Mutter eines Klägers getötet und seine Schwester und ein vier Jahre alter Bruder verletzt, als Soldaten auf ein Taxi schossen, das durch eine Straßensperre in Bakuba fuhr. Wie es in dem Bericht heißt, bestehe die Möglichkeit, dass vor der Straßensperre keine Warnhinweise aufgestellt worden seien. Bei vielen Fällen heißt es, dass Iraker getötet wurden, weil die US-Soldaten glaubten, im Auto befänden sich Sprengsätze. In einem Fall wurde ein Fahrer erschossen, weil er vor einem Konvoi gefahren war. Angeblich habe er auf Hupen, Licht- und Handsignale nicht schnell genug reagiert. Die Familie erhielt nur Schmerzensgeld, weil der Vorfall im Rahmen einer "Eskalation der Gewalt" geschehen sei. Das sei gleichbedeutend mit einem Kampfeinsatz, da bei einer Eskalation die Vorbereitung zu Kampfhandlungen beginne.

Auch wenn gelegentlich Fußgänger oder Bewohner eines Hauses getötet wurden, so scheint es vor allem gefährlich zu sein, in einem Fahrzeug zu sitzen. Fahrzeugen aller Art, die mit Sprengstoff beladen sind, dienen neben Straßenbomben als primäre Waffe von Aufständischen und Terroristen. Der Tod kann aber auch schnell in der Nähe von US-Soldaten hereinbrechen, wenn man nicht auf jeden Schritt achtet. So wurde ein Kind 2005 von einem Scharfschützen erschossen, als es auf der Straße an einem US-Stützpunkt vorüberging und angeblich seine Schultasche emporgehoben hat. Der Scharfschütze dachte, so heißt es, die Schultasche sei "etwas Gefährliches": "Daher schoss er auf das Kind und verursachte dessen Tod." Das zunächst bewilligte Geld wurde aber dann doch nicht ausbezahlt, weil der Tod eine "Folge von Kampfhandlungen" gewesen sei.