"Es wird ein Signal, ein Weckruf sein!"
Seite 2: Geistige Ansteckung
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Während also im Gerichtssaal über die "Erlösung" der unheilbar kranken Hanna durch ihren Gatten Thomas Heyt verhandelt wird, hat Dr. Lang die Anstalt aufgesucht, in der Trudchen untergebracht ist. Bevor er zu ihr geht, erzählt er dem Anstaltsleiter, dass er drauf und dran sei, "unseren Beruf aufzugeben", und dies nicht nur wegen der Vorwürfe von Trudchens Eltern:
Nicht darum allein. Ich hatte gleichzeitig - und das ist sicher kein Zufall - noch einen anderen Fall. Sie wissen, dass ich Frau Professor Heyt behandelt habe …
In der Tat: ein Zufall ist das nicht. Auch nicht die von Hitler gern bemühte Vorsehung. Es ist das dramaturgische Geschick von Wolfgang Liebeneiner, der hier erneut das Melodram mit der Propagandabotschaft verknüpft, die Sterbehilfe mit der Euthanasie, die private Tragödie mit der Vernichtungspolitik der Nazis. Als sich die Tür zur Kinder-Abteilung wieder öffnet, ist Dr. Lang erschüttert. "Sagen Sie", fragt er den Professor, "wie hält die Schwester das aus?" Und dann: "Wäre es doch ein Säugling!" Dr. Lang muss etwas Entsetzliches gesehen haben - kein Kleinkind mit Behinderung, sondern ein Monster. Bei einem Arzt ist diese Reaktion auf den Anblick eines kranken Menschen überraschend. Bei einem Arztdarsteller in einem NS-Propagandafilm dagegen nicht.
So eine Szene muss gut gemacht sein, weil sonst das gewünschte Ergebnis (Abscheu vor dem Monstersäugling) in sein Gegenteil umschlägt (Abscheu vor dem Arzt, für den seine Patientin ein Monster ist). Für solche Fälle hatte das NS-Kino Darsteller wie den Publikumsliebling Mathias Wieman, die das spielen konnten. Und Leute, die so eine Szene schreiben und inszenieren konnten. Das müsste bei Ich klage an Wolfgang Liebeneiner gewesen sein, der Held der Humanität in unhumaner Zeit. Brief an Carlo Schmid: "[…] mein Film, für den ich auch das gültige Drehbuch und die Dialoge geschrieben habe […]."
Wieman und seinen Schauspielerkollegen, für die Adenauers Unterhaltungskino gleich wieder viel Verwendung hatte, hielt man in der BRD zugute, dass sie wohl nicht gewusst hätten, in was für Filmen sie da mitspielten. Offenbar sagten sie ihre Dialoge in Trance auf, hypnotisiert von Dr. Goebbels. Am stärksten geriet interessanterweise Heidemarie Hatheyer wegen ihrer Rolle in Ich klage an unter Beschuss. Sie war damals 23, noch berauscht von ihrem Erfolg als Geierwally und die einzige, der man mit etwas gutem Willen attestieren kann, dass sie erst erfuhr, worauf sie sich eingelassen hatte, als der Film fertig war (falls sie nicht das komplette Drehbuch gelesen hatte). Als Hatheyer ins Atelier kam, um ihre Sterbeszene zu drehen, hatte Liebeneiner die Euthanasie-Teile schon im Kasten.
Hier ist vielleicht eine Begriffsklärung angebracht. "Euthanasie" ist aus den griechischen Wörtern eu (wohl, gut) und thanatos (Schlaf, Tod) zusammengesetzt, bedeutet somit "guter Tod". Damit war die Abkürzung eines bald und unweigerlich zum Tod führenden Leidensweges durch Sterbehilfe gemeint. Die Nazis vermischten die Sterbehilfe mit der Vernichtung "lebensunwerten" Lebens, machten aus dem "guten Tod" eine schmutzige (außerhalb der bestehenden Gesetze vollzogene) Ermordung kranker Menschen. Die dadurch entstandene Begriffsverwirrung machte sich Wolfgang Liebeneiner zunutze, als er sich gegen den Vorwurf wehrte, er habe einen Euthanasiefilm im Sinne der Nazis gedreht.
Liebeneiner behauptete nicht nur, es gehe in Ich klage an ausschließlich um Sterbehilfe aus humanen Gründen, er schwang sich im Interview mit Karl Ludwig Rost sogar zum Verteidiger des freien Menschen auf, dem man "doch wohl die Entscheidung darüber lassen" müsse, ob er leben will oder nicht leben will. Ich […] halte das für ein gräßliches Relikt aus früheren Zeiten, daß man dem Menschen das Recht absprechen will, darüber zu entscheiden, ob er leben will oder sterben will.
Fast könnte man meinen, dieser NS-Propagandafilm sei ein Traktat gegen den Rückfall in die Barbarei. Liebeneiner fiel es leicht, das zu behaupten, weil die Murnau-Stiftung Ich klage an aus dem Verkehr gezogen hatte, weshalb sich der interessierte Laie nicht selbst ein Bild machen konnte (und kann). Auch die FSK, fürchte ich, half mit ihrer Geheimniskrämerei bei der Verklärung der Vergangenheit.
In filmwissenschaftlichen Aufsätzen liest man hin und wieder, dass die Nebenhandlung mit dem behinderten Kleinkind, also auch Dr. Langs Bekehrung zur Euthanasie in Trudchens Anstalt, entfernt wurde. Die Frage ist nur: Wann und von wem? In der Fassung, die ich kenne, ist sie drin. In der Version, die im Dritten Reich in den Kinos lief, war sie ebenfalls enthalten. Laut Website der Murnau-Stiftung gibt es eine FSK-Freigabe ab 18 Jahren. Öffentlich aufgeführt werden darf der Film trotzdem nicht, weil das FSK-Siegel nur gegen eine Indizierung schützt, nicht gegen den Vorbehalt der famosen Stiftung, wo man Zensur durch die Hintertür des Urheberrechts betreibt. Wenn Ich klage an aber irgendwann eine FSK-Freigabe erhielt, ist es sehr wahrscheinlich, dass er zuvor gekürzt werden musste. Als Zuschauer erfährt man davon nichts. Und die Rekonstruktion solcher Vorgänge ist äußerst schwierig, oft unmöglich.
Das könnte erklären, warum der Besuch in der Anstalt nicht in allen Kopien vorhanden ist, die derzeit in der einen oder anderen Weise im Umlauf sind. Die FSK hätte in dem Fall vielleicht einen Beitrag zum Jugendschutz geleistet, ganz sicher aber zur Geschichtsfälschung. Es wäre dann wie so oft: Man behandelt diese Filme wie Träger hoch ansteckender Viren. Statt uns aber zu sagen, worin die Gefahr besteht, trägt man zur Verwirrung bei, indem man noch mehr herausschneidet als zuvor Liebeneiner auf Befehl des Propagandaministeriums. Wer der geistigen Ansteckung vorbeugen will, informiert zuallererst das Publikum.
Suggestion statt Holzhammer
Wir haben schon festgestellt, dass Ich klage an nicht den Weg für von Galens Predigt bereiten konnte, weil das zeitlich nicht möglich war. Umgekehrt übte die Predigt des Bischofs von Münster jedoch großen Einfluss auf den Film aus. Liebeneiner müsste das mitbekommen haben, weil er gezwungen war, den Film deshalb umzuschneiden. Er war auch nicht ganz ehrlich, als er behauptete, Goebbels habe sich nie eingemischt (das musste er sagen, weil er schlecht in Abstimmung mit dem Propagandaminister ein "Document der Humanität" drehen konnte). Aus Goebbels’ Tagebuch, 14.2.1941:
Mit Liebeneiner einen neuen Filmstoff über Euthanasie besprochen. Ein sehr schwieriges und heikles, aber auch ein sehr dringendes Thema. Ich gebe Liebeneiner einige Richtlinien.
Am 21.6.1941 notierte er in sein Tagebuch:
Neuer Liebeneiner-Film "Ich klage an". Für die Euthanasie. Ein richtiger Diskussionsfilm. Großartig gemacht und ganz nationalsozialistisch. Er wird heißeste Diskussionen entfachen. Und das ist sein Zweck.
Am Tag darauf begann der Überfall auf die Sowjetunion. Für Karl Heinz Roth, Autor eines erhellenden Aufsatzes über Ich klage an (in Aktion T4, Hg. Götz Aly enthalten), ist das die Erklärung, warum Liebeneiner verhältnismäßig lange auf die Freigabe durch die Zensur warten musste. Das "Unternehmen Barbarossa" musste propagandistisch vorbereitet und begleitet werden. Möglicherweise war die Filmabteilung in Goebbels’ Ministerium damit so ausgelastet, dass alles andere verschoben wurde. Mitte Juli durchlief Ich klage an schließlich das Zensurverfahren. Mitte August, also zwischen der Predigt in Münster und der Uraufführung, wurde er ein zweites Mal begutachtet, weil inzwischen Bischof von Galen die von Goebbels gewünschte Diskussion entfacht hatte - auf eine Weise, die dem Minister nicht gefallen konnte.
Ich klage an wurde in einigen Passagen gekürzt. Man kann das als ein Zurückrudern deuten. Wer Propaganda macht, muss aber auch auf die richtige Dosierung achten. Diese hängt vom Informations- und Bewusstseinsstand des Publikums ab. Durch die Predigt hatte sich etwas geändert. Die neue Fassung von Ich klage an trug dem Rechnung. Was angesichts der veränderten Lage zu holzhammerartig gewirkt hätte, wurde entfernt. Die in den Kinos gespielte Version war suggestiver als die Goebbels ursprünglich vorgeführte "Ministerfassung", aber doch weniger suggestiv, als es heute den Eindruck macht. Anspielungen, die in einer die Euthanasie propagierenden (und praktizierenden) Diktatur sofort verständlich waren, erkennt man heute - zum Glück - nicht mehr so einfach. Intention und Botschaft des Films änderten sich durch die Kürzungen nicht. Sie machten es Liebeneiner nur leichter, später die propagandistische Ausrichtung von Ich klage an zu verschleiern.
Entfernt wurde ein Gespräch unter den Gästen der Feier im Hause Heyt, die sich über einen verunglückten Radfahrer unterhalten, der seit einem Schädelbasisbruch "gar kein Mensch mehr" sei, sondern blind, taub und idiotisch - so wie Trudchen nach der Hirnhautentzündung und so, wie Hanna durch die multiple Sklerose zu werden fürchtet, weshalb sie Lang und Heyt um den Tod bittet. Die meisten Gleichsetzungen von Tieren mit kranken Menschen durften bleiben. Brack hatte vorgeschlagen, der gelähmten Versuchsmaus den "Gnadentod" zu gewähren. Liebeneiner hatte daraus eine Szene gemacht, in der sich die mitfühlende Dr. Burckhardt um die Maus kümmert. "Armes Tier", sagt sie, "ich hab’ dich nicht vergessen." Und dann, nachdem sie den Behälter mit dem tödlichen Äther geöffnet hat: "So, jetzt bist du von deinen Schmerzen erlöst."
Einige Dialogpassagen waren als Angriff auf die christlichen Kirchen angelegt, die, so der Film, eine Religion der Schmerzen predigen und nicht der Liebe (= die "Erlösung" von den Schmerzen). Davon ist nur ein kurzes Gespräch zwischen Professor Schlüter und Pastor Görner geblieben. Die Aussage des mittlerweile bekehrten Pastors vor Gericht (Tenor: Gott hat uns die Vernunft gegeben und erwartet, dass wir sie richtig einsetzen, am besten bei der "Sterbehilfe") wurde genauso gestrichen wie alle Dialoge, in denen das Reizwort "Euthanasie" fiel.
Was macht der nette Opa im Propagandafilm?
Während Wieman alias Dr. Lang in der Heilanstalt noch mit dem Entsetzen kämpft (und der Anstaltsleiter vielleicht bei Dr. Faltlhauser in Kaufbeuren anfragt, was es mit dieser Hungerkur auf sich hat), tut Professor Schlüter die Ansichten eines alten Arztes kund, der in einem langen Berufsleben viel gesehen hat und dem Gericht nun mitteilt, dass sich die Ärzteschaft vom Gesetzgeber im Stich gelassen fühlt. Den Schlüter spielt Albert Florath, ein Spezialist für in Ehren ergraute Würdenträger (als Obrist Röder auch in Jud Süß mit von der Partie). Ihn habe ich als Kind regelmäßig in vom Fernsehen versendeten Heimatschinken wie Drei Birken auf der Heide (1956) oder Die schöne Müllerin (1954) gesehen, und natürlich in Die Feuerzangenbowle (1944), wo er zu Heinz Rühmanns Herrenrunde gehört. Florath ist mir als netter, verständnisvoller Opa in Erinnerung. So ging es wahrscheinlich auch den Stadtvätern in seinem Geburtsort Bielefeld, als man dort eine Straße nach ihm benannte. Das Opahaft-Honorige wird aber Teil der Propaganda und ist auch nicht mehr nett, wenn Florath von Liebeneiner geschriebene Sätze sagt wie diese:
Eine Rechtsordnung, die verlangt, dass der unheilbare Kranke sich sinnlos mit seinen Schmerzen zu Tode quälen muss, ohne die Möglichkeit einer wohltätigen Erlösung, solch eine Rechtsordnung ist unnatürlich und unmenschlich. Die Natur lässt das nicht oder nicht mehr Lebensfähige schnell zugrunde gehen. Der ärztlichen Wissenschaft blieb es vorbehalten, mit ihren Medikamenten die Gnade und die Wohltat des schnellen, natürlichen Todes immer wieder künstlich hinauszuschieben, obgleich eine Heilung oder eine Besserung vollkommen unmöglich ist. Tja, das ist doch die Umkehrung des wahren Arzttums, die jedem Arzte bei seinem schweren Lebenswerke furchtbar zu schaffen macht.
Die Ausführungen Professor Schlüters wurden vor der Freigabe durch die NS-Zensur stark gekürzt. Bielefeld wäre vielleicht weniger stolz auf Albert Florath, wenn der Professor in der Kinofassung die Segnungen der Euthanasie mit blumigen Worten preisen würde wie offenbar geplant und von Liebeneiner gefilmt. Wenn man hinhört, weiß man aber auch so, was gemeint ist.
Nach Professor Schlüters im Dritten Reich leider gar nicht originellen Überlegungen zum wahren Arzttum (der gute Doktor führt den Tod herbei, statt ihn zu verhindern) ist es dem Staatsanwalt fast peinlich, dass er eine Bestrafung Dr. Heyts beantragen muss, weil es das Gesetz so verlangt:
[…] so möchte ich meine persönlichen Empfindungen mit den Worten Richard Wagners ausdrücken: ‚Schwer drückt mich meiner Waffen Last.’ Meine Waffen sind die Bestimmungen des geltenden Gesetzes.
Da trifft die Nachricht ein, dass Dr. Lang auf dem Weg ins Gericht ist. Der Vorsitzende unterbricht die Verhandlung. Richter und Geschworene ziehen sich in das Beratungszimmer zurück. Dort diskutiert man das Für und Wider der "Sterbehilfe". Auch diese Szene wurde vor der Premiere stark gekürzt, weil öfter von "Euthanasie" die Rede war. Am härtesten traf es den Monolog des Geschworenen Döring. Diesem Major a. D. hatte Liebeneiner die Aufgabe zugedacht, jetzt endlich Klartext zu reden. Hätte es die Predigt des Bischofs von Münster und die dadurch erforderlichen Änderungen nicht gegeben, hätte Major Döring dem "gesunden Volksempfinden" Ausdruck verliehen und sich darüber empört, wie viele Ärzte, Schwestern und Pfleger, Gebäude, Medikamente und Laboratorien man brauche, "um ein paar armselige Kreaturen am Leben zu erhalten", während die medizinische Versorgung der arbeitenden Bevölkerung, der Mütter und ihrer (gesunden) Neugeborenen zu wünschen übrig lasse.
Das Gerede einer einzelnen Figur ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage des Films. In Major Dörings Fall kommt es dieser aber durchaus nahe. Im von Liebeneiner geschriebenen und verfilmten Drehbuch erhält der Monolog die dramaturgisch herausgehobene Stelle am Ende der Geschworenenszene, die mit diesen Worten des Majors schließen sollte:
Wir wissen es doch alle: Unsere Lage ist im Augenblick wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition, bei der die größtmöglichste Leistungsfähigkeit aller die unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung ist, und bei der einfach kein Platz bleibt für Halb-, Viertels- und Achtelskräfte. Geistige Trägheit, Abneigung gegen das Neue, Ungewohnte, religiöse Bedenken, Sentimentalität usw. dürfen hier keine Hinderungsgründe sein, sonst gehen wir alle an den Schwachen zugrunde!
Die "Unternehmung" ist der Zweite Weltkrieg. Im Monolog des Majors mischt sich, wie bei den Nazis üblich, die Ideologie mit finanziellen Erwägungen. Pflegebedürftige Menschen kosten Geld, das an anderer Stelle fehlt. Das ist nicht nur schlecht, wenn man fremde Länder erobern will und es im Gesundheitssystem keine Kapazitäten für Kriegsverletzte mehr gibt. Es ist auch schlecht für die Angehörigen der Pflegebedürftigen und deren Ersparnisse. Liebeneiner konnte in der Kinofassung auf die Rede des Majors getrost verzichten, weil er die Botschaft schon auf andere Weise überbracht hatte.
Ich habe mich beim Sehen von Ich klage an zunächst gefragt, was dieser Subplot mit Hanna als reicher Erbin soll? Als Zuschauer weiß man gleich, dass Stretters Unterstellung, sein Schwager sei ein Mitgiftjäger, nicht stimmt. Stretters Verdacht, dass der heldenhafte Forscher seine leidende Gattin aus Geldgier umgebracht hat, ist so abwegig, dass sich nicht einmal der Staatsanwalt dafür interessiert. Was soll das also? Ist es ein Drehbuchfehler? Der Rest einer alten Nebenhandlung, die man fallen ließ? Keineswegs. Der nie aufdringliche, jedoch stets präsente Wohlstand der Heyts wird nicht als Handlungselement gebraucht, sondern als Kontrast zu den Lebensumständen der Günthers.
Liebeneiners Inszenierung betont sogar in der Nacht von Hannas Tod, wie geräumig das Haus der Heyts ist, und dann lässt er die Haushälterin zu Hannas Bruder laufen, damit wir dort sehen, dass Stretter einen Diener hat (das soll darin erinnern, dass die Verstorbene aus einer reichen Familie kam). Als Dr. Lang bei Trudchen die Hirnhautentzündung diagnostiziert, haben die Günthers eine helle, geräumige Wohnung, sind gut gekleidet, gehören zum wohl situierten Mittelstand. Trudchens Krankheit zwingt sie nicht, in ein Elendsquartier umzuziehen. Dafür ist Liebeneiner viel zu subtil. Er lässt die Wohnung durch die Ausleuchtung, die Anordnung der Einrichtungsgegenstände (eine tief hängende Lampe macht alles gleich viel enger) und Inszenierungseinfälle wie den, die Günthers sitzen zu lassen, wo bei den Heyts von einem Zimmer ins andere oder von der ersten Etage ins Parterre gegangen wird, immer kleiner und ärmlicher wirken. Hannas auffälligster Schmuck ist ihr Monogramm auf einem Kleid. Als wir Frau Günther das letzte Mal sehen, trägt sie eine durch die Beleuchtung hervorgehobene Halskette. In dieser Szene ist das Schmuckstück nicht das Symbol des Reichtums, sondern des früheren Wohlstands.
Die Botschaft des Films ist diese: Wenn im Hause Heyt (reich, großes Anwesen, Haushälterin, Gatte mit Professorenposten, viele Ärzte im Freundeskreis, noch reicherer Bruder) die Sterbehilfe erlaubt ist, muss sie das erst recht im Fall von Trudchen Günther sein (Eltern, die sich die kranke Tochter auf lange Sicht nicht leisten können und kein soziales Netz haben, das sie auffangen würde). Weil man dieses finanzielle Argument nicht offen aussprechen kann, ohne die propagandistische Wirkung zu gefährden, wird es durch Kontrastierung und subtil komponierte Bilder vermittelt. Nun ist es durchaus möglich, die finanzielle Lage der Heyts mit jener der Günthers zu vergleichen. Nicht zu vergleichen ist dagegen Trudchens Zustand mit dem von Hanna, und das kleine Kind bittet auch nicht um den "Gnadentod", weil es gar nicht sprechen kann (das erledigen stellvertretend die Eltern), doch Liebeneiner beherrscht die Kunst, Verbindungen zu suggerieren, wo eigentlich keine sind. Die Sterbehilfe und das Euthanasie-Programm der Nazis trennen Welten - aber nicht in diesem Film.
Der Sicherheitsdienst (SD) der SS erstellte geheime "Meldungen aus dem Reich", in denen es auch um die Wirkung von Filmen ging. Die Verfasser schrieben gern auf, was die Machthaber ihrer Meinung nach lesen wollten. Trotzdem sind diese Texte, aus kritischer Distanz betrachtet, wertvolle Informationsquellen. Am 15. Januar 1942 meldete der SD in einer Zusammenfassung der bis dahin eingegangenen Berichte:
Durchweg steht der einfache Arbeiter positiver zu der im Film angeregten Abänderung des bestehenden Gesetzes als Volksgenossen aus intellektuellen Kreisen. Dies findet nach den Meldungen darin seine Begründung, daß die sozial schlechter gestellten Schichten der Bevölkerung naturgemäß stärker an ihre eigene finanzielle Belastung denken.
Ganz so "naturgemäß" war das nicht. Es war eher eine geschickt aufgestellte Propagandafalle, die zuschnappte. Beim Melo-Teil mit Hanna und ihren Ärzten dachte vermutlich auch "der einfache Arbeiter" nicht gleich ans Geld, weil da alle gut situiert sind, damit das Geld keine Rolle spielt. Weil man aber durchaus daran denken soll, und weil man zum Komplizen wird, wenn man daran denkt, erfindet der Film ein Ehepaar Günther, das nicht frei von finanziellen Sorgen ist wie die Heyts. Da das fiktive Figuren sind, hätten sie ebenfalls reich sein können. Doch Liebeneiner überließ nichts dem Zufall. Die Günthers mussten am Ende des Films ärmer wirken als am Anfang, damit die weniger wohlhabenden Zuschauer, also der Großteil des Publikums, bei Trudchens Krankheit an die finanziellen Belastungen für die Eltern dachten. Anschließend meldete der SD, dass die einfachen Arbeiter für die Euthanasie seien, weil Tote nichts mehr kosten. Das ist infam. Und ganz im Sinne des Films.
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