"Es wird ein Signal, ein Weckruf sein!"
Seite 3: "Fällen Sie Ihr Urteil!"
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Vordergründig treffen sich die Geschworenen, weil ein Arzt seiner leidenden, unheilbar kranken Gattin auf deren Wunsch Sterbehilfe geleistet hat. Im Monolog des Majors geht es aber um Sozialdarwinismus und das Gesunden des "Volkskörpers" durch die Vernichtung "lebensunwerten" Lebens. Das bemerkte auch der Sicherheitsdienst, obwohl der - überflüssige und sogar kontraproduktive, weil die Propagandabotschaft zu klar in Worte fassende - Monolog vor der Premiere eliminiert worden war:
Der Film ‚Ich klage an’ zeigt eine doppelte Problematik auf. Als Hauptthema wird das Problem der Tötung auf Verlangen im Falle einer unheilbaren Erkrankung zur Diskussion gestellt. In der Nebenhandlung findet die Frage der Beseitigung lebensunwerten Lebens seine Darstellung.
Weil der Film die von Liebeneiner bestimmte "Volksmeinung" abbilden sollte, wurden außer dem Major noch ein Studienrat, ein Schlossermeister, ein Bauer, ein Förster und ein Apotheker als Geschworene berufen. Die Meinungsäußerungen dieser Herren haben eine eindeutige Tendenz: der Staat muss entscheiden, wann einem Kranken beim Sterben geholfen werden darf. In der Fassung, die ich kenne, warnt der Apotheker davor, den Ärzten das Recht zu geben, Kranke nach eigenem Gutdünken von ihren Schmerzen zu erlösen, weil das den Patienten Angst machen würde. Der Bauer sieht das ähnlich. Ihn spielt Bernhard Goetzke, was sehr traurig ist. In besseren Zeiten, bei Fritz Lang, war Goetzke der müde Tod, und als Staatsanwalt von Wenk kämpfte er gegen den Proto-Faschisten Dr. Mabuse. Als Erbhofbauer in der Euthanasiereklame symbolisiert er, was 1941 aus dem deutschen Film geworden war, der nun durch den Machthabern gern dienliche Karrieristen wie Wolfgang Liebeneiner repräsentiert wurde.
Der vorsitzende Richter kommentiert die Diskussion im Beratungszimmer wie folgt:
Wenn der Herr Studienrat hier recht behalten soll, dass man nämlich das Recht zur Tötung nicht dem einzelnen Arzt erteilt, sondern die Gewährung dieser letzten ärztlichen Hilfeleistung dem Staat überträgt, wie das ja bei Todesfragen allgemein der Fall ist, müsste man für diese "medizinischen Gerichte" - so will ich das mal nennen - natürlich Gesetze erlassen.
Das letzte Wort hat auch in dieser vor der Premiere gekürzten Geschworenenszene Major Döring:
Aber dann bitte so schnell wie möglich. Ich bin ein alter Soldat, meine Herren, und es ist für mich selbstverständlich, dass der Staat von uns eine Pflicht zu sterben fordert, wenn’s nötig ist. Aber dann müsste er uns auch ein Recht zu sterben geben, wenn es nötig ist.
Der Richter findet das "sehr schön", gibt aber zu bedenken, dass bei der heutigen Verhandlung andere, nämlich die bestehenden Gesetze gelten. Die Antwort des Majors:
Wir werden über Herrn Professor Heyt als Geschworene ja auch nach den bestehenden Gesetzen urteilen, das ist ja selbstverständlich. Aber entschuldigen Sie, wenn ich das sage: Um die Menschen vom richtigen und würdigen Handeln abzuhalten, sind die Gesetze doch nicht da. Und wenn sie das tun, dann müssen sie eben geändert werden.
Nachdem auf diese Weise Einigkeit erzielt wurde, können die Herren mit "deutschem Gruß" wieder am Richtertisch Platz nehmen und die Aussage von Dr. Lang hören. Der gibt an, dass Hanna nicht nur ihn, sondern auch ihren Gatten gebeten hat, "ihr zum Tode zu verhelfen". Er habe es "damals mit meinen Standespflichten nicht für vereinbar" gehalten, "ihre Bitte zu erfüllen". Inzwischen aber habe er seine Meinung geändert. Der Film präsentiert Langs Sinneswandel, als wäre es das Normalste von der Welt. Dabei ist das eine ungeheuerliche Szene. Weil er ein körperlich und geistig behindertes Kind gesehen hat, das kleine Trudchen, ist dieser Arzt jetzt für die Sterbehilfe an unheilbar kranken Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nichts und doch alles, weil Liebeneiner auf vielfältige Weise suggeriert, dass die beiden Fälle äquivalent sind (durch den Dialog, die Inszenierung, die Verknüpfung von Haupt- und Nebenhandlung in Gestalt von Dr. Lang). Weil Trudchen in der Anstalt so schlimm leiden muss (das sagt der Film - die Betroffenen würden es ganz anders sehen), wird Dr. Lang schlagartig klar, dass Dr. Heyt recht daran getan hat, die leidende Hanna zu vergiften. Worum es wirklich geht, ist der Umkehrschluss. Was bedeutet diese Erkenntnis für Trudchen? Wie verfährt man mit den Menschen in den Heil- und Pflegeanstalten, die nicht mehr arbeiten können und ihre volkswirtschaftliche Nützlichkeit verloren haben (oder nie eine hatten)? Die Antwort hatten die Nazis in der Realität bereits gegeben.
In Dr. Langs Bekehrung zur Euthanasie (Erlebnis in der Anstalt, Aussage vor Gericht) ist, dramaturgisch wieder sehr geschickt, die Szene im Beratungszimmer eingebettet. Da verhandeln die Geschworenen (das Volk) und die Juristen schon darüber, wie es jetzt weitergehen soll. Resultat: Der Staat muss seiner Verantwortung nachkommen. Man braucht "medizinische Gerichte", die entscheiden, wem der "Gnadentod" zuteil wird; in der Realität waren das die Sachbearbeiter, die eine Vorauswahl trafen und die Gutachter mit Doktortitel, die ein "+" (für Tod) oder ein "-" (für Leben) auf die Meldebögen schrieben. Und ein neues Gesetz muss her, weil das alte "die Menschen vom richtigen und würdigen Handeln" abhält. Dieses "Sterbehilfegesetz" lag fertig in der Schublade. Die Verabschiedung wurde aus Gründen, für die der Film nichts kann, auf die Zeit nach dem Krieg verschoben. Also blieb alles wie gehabt: Hitlers Euthanasiebeauftragte töteten (mehr oder weniger) im Geheimen. In Kaufbeuren, der Wirkungsstätte des schrecklichen Herrn Faltlhauser, ging das Ermorden von Euthanasieopfern auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs noch weiter. Die Amerikaner stoppten es Anfang Juli 1945, als sie davon erfuhren.
Durch die Aussage von Dr. Lang steht Dr. Heyt kurz vor dem Freispruch. Es darf nur nicht herauskommen, dass Hanna - Langs Diagnose nach - noch zwei qualvolle Monate vor sich gehabt hätte, als ihr Heyt das Gift gab (für einen Freispruch muss offen bleiben, ob Hanna am Gift starb oder an der Lähmung der Atemwege). Lang versucht, eindeutige Angaben zu vermeiden, um seinem Freund zu helfen. Aber Dr. Thomas Heyt ist ein echter Nazi-Held und will deshalb lieber ein Märtyrer sein, als seine Ideale zu verraten. In NS-Propagandafilmen ist das immer so. Seit dem einen Satz am Anfang der Verhandlung ("Ich habe meine Frau sehr geliebt.") hat er nichts mehr gesagt. Jetzt springt er auf und ergreift das Wort. Liebeneiner zeigt ihn halbnah, leicht von unten, wie es einem Helden gebührt und vor neutralem Hintergrund, damit nichts von seiner Rede ablenkt. Die Kamera bleibt ganz auf ihm, statt in Zwischenschnitten die Zuhörer im Gerichtssaal und deren Reaktion zu zeigen. Diese Ansprache gilt uns, dem Publikum. Mit ihr endet der Film, der nun auch einen Titel hat:
Ich kann nicht länger schweigen, und es geht mir nicht um mich allein, sondern um jeden Menschen. Ich fürchte mich nicht. Wer Nachfolger haben will, der muss vorangehen können. Ich fühle mich auch nicht mehr als Angeklagter, denn schließlich habe ich durch meine Tat den größten Verlust erlitten. Nein, ich klage jetzt an. Ich klage einen Paragraphen an, der Ärzte und Richter an der Erfüllung ihrer Aufgabe hindert, dem Volke zu dienen. Deswegen will ich auch nicht, dass meine Sache vertuscht wird. Ich will mein Urteil. Denn wie es auch ausfallen mag: es wird ein Signal, ein Weckruf sein! Darum bekenne ich: Ich habe meine Frau, die unheilbar krank war, auf ihren Wunsch von ihrem Leiden erlöst. Von Ihrem Spruch hängt jetzt mein Leben ab - und das all der Menschen, die vielleicht einmal das Schicksal meiner Frau trifft. Und nun … fällen Sie Ihr Urteil.
So etwas lernt man im Rhetorikkurs. Der Fachausdruck ist "Anheimstellung". So schmeichelt man dem Zuhörer und suggeriert ihm, dass er die freie Entscheidung hat, nachdem er vorher, fast zwei Filmstunden lang, in eine bestimmte Richtung gesteuert wurde. Liebeneiner befreit sich mit der rhetorischen, im Grunde bereits beantworteten Schlussfrage, ob Heyt verurteilt oder freigesprochen werden soll, aus einem Dilemma. Der Held im Nazifilm ist allzeit bereit, voranzugehen (mit Fahne oder ohne) und Opfer für das Wohl des Volkes zu bringen, notfalls gibt er auch sein Leben. Konkret abverlangt wird ihm das in der Regel aber nur, wenn er vor Hitlers Machtübernahme für den Faschismus kämpft wie Hans Westmar im Horst-Wessel-Film. Zum Dritten Reich passt das nicht so gut, weil da angeblich alles besser wurde. Andererseits muss die Fiktion aufrechterhalten werden, dass Heyt und seine Volksgenossen in einem Rechtsstaat leben, in dem sich Nazi-Richter (man beachte die NS-Embleme auf den Roben) an die Gesetze halten. Und die bestehenden Gesetze erfordern einen Schuldspruch. Dieser wird umgangen, indem Liebeneiner das Publikum zum Richter macht.
Heyt fürchtet sich nicht, weil Liebeneiner in der Schlussansprache eine Anspielung auf die Bibel haben wollte. Mit den Worten "Fürchtet euch nicht!" schickt Jesus seine Jünger hinaus in die Welt, um seine Lehre zu verbreiten und zu heilen (Matthäus 10, 26-33). Dr. Thomas Heyt ist der Erlöser von den Schmerzen. Der Heiland der Euthanasie.
Zustimmung mit Vorbehalt
Ich klage an war ein Propagandafilm, wie ihn Goebbels liebte. Bei den Filmfestspielen in Venedig erhielt er im September 1941 einen Pokal, der Minister sorgte außerdem für die Verleihung der Prädikate "Künstlerisch besonders wertvoll" sowie "Volksbildend", und kommerziell erfolgreich war die Euthanasiereklame auch. Mit Herstellungskosten von 960.000 Reichsmark lag der Film 50.000 Reichsmark unter dem Durchschnitt (Harlans Jud Süß war doppelt so teuer), und er spielte 6.200.000 Reichsmark ein. 14 Millionen Kinobesucher sollen Ich klage an gesehen haben (die Zahl konnte ich nicht verifizieren). Goebbels muss sehr zufrieden gewesen sein. Das wird nicht nur dadurch belegt, dass er Liebeneiner 1943 mit der Professorenwürde auszeichnete. Im Sommer 1944 teilte sein Ministerium alle deutschen Filme, die noch verliehen wurden, in drei Klassen ein. Ich klage an wurde in Klasse I aufgenommen. Die Filme dieser Kategorie wurden in den besten Kinos gezeigt. Diese mussten Ich klage an erneut auf den Spielplan setzen, nachdem das Werk am 12. August 1944 ein weiteres Mal das Zensurverfahren durchlaufen hatte.
Neurologen klagten darüber, dass sie nun dauernd verängstigte Frauen beruhigen mussten, die glaubten, an der multiplen Sklerose erkrankt zu sein. Professor Ernst Rüdin, Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, wusste, dass die Kanzlei des Führers hinter Ich klage an steckte. Er schrieb einen unterwürfigen Brief an den Leiter der "Aktion T4", in dem er anregte, die Nennung von Hannas Krankheit aus dem Film zu entfernen. Viele MS-Patienten und ihre Angehörigen, so Rüdin, seien verzweifelt, weil dieser mit Prädikaten bedachte Film ihre Krankheit als unheilbar, schnell zum Tod führend und sehr qualvoll bezeichne. Der Brief schließt mit Professor Rüdins Versicherung, er selbst habe Ich klage an "ergreifend" gefunden. Jedoch:
Allerdings waren die Stimmen, die ich vom anwesenden Publikum aufschnappte, nicht zustimmend. Von einer Frau in meinem Rücken hörte ich, "das ist ein Propagandafilm für etwas, was eine schon beschlossene Sache ist." In einer kirchlich stark beeinflussten Bevölkerung wie München wird man ja natürlich kaum erwarten, daß alle glatt zustimmen. Ich selbst empfehle jedenfalls allen Leuten, sich den Film anzusehen.
Den "Meldungen aus dem Reich" des Sicherheitsdienstes zufolge zeigte sich, "daß der größte Teil der deutschen Bevölkerung der Tendenz des Films grundsätzlich, wenn auch mit manchen Vorbehalten, zustimmt […]." War das tatsächlich so, oder schönte der SD die Lage? Gab es die ablehnenden Stimmen, die Rüdin im Kino hörte, oder hatte sie der Professor erfunden, weil er zu feige war, den Film selbst zu kritisieren? Die Kritiker der gleichgeschalteten Zeitungen lobten die künstlerischen Qualitäten von Liebeneiners Werk und hielten sich auch sonst an die Vorgaben einer geheimen Pressemitteilung vom 2. September 1941, die den Euthanasie-Teil mit Trudchen Günther vom Melodram um Hanna Heyt trennte und nur letzteres thematisiert wissen wollte (Liebeneiner machte das später ganz genauso):
Der Film behandelt das Problem der "Euthanasie". Dieser Ausdruck ist keineswegs zu gebrauchen. Dagegen kann erwähnt werden, daß in dem Film das Problem angeschnitten wird, ob einem Arzt das Recht zugestanden werden kann, auf Wunsch unheilbar Kranker deren Qualen zu verkürzen. Bei Behandlung dieses Films ist natürlich größter Takt am Platze.
Die Aussagekraft solcher von oben diktierter Kritiken ist gering. Die meisten zeitgenössischen Berichte sind anekdotisch und nicht nachprüfbar. Gesichert scheint immerhin zu sein, dass die Kirchen - besonders die katholische - den Film ablehnten. Einzelne Priester machten Hausbesuche bei ihren Gemeindemitgliedern und forderten die Gläubigen auf, sich Ich klage an nicht anzusehen, weil das ein antikatholischer, die Euthanasie rechtfertigender Hetzfilm sei. Leider scheint es so gewesen zu sein wie eigentlich immer, wenn die katholische Kirche einen Film verdammte. Die Priester gingen auch nicht hin und wussten selbst nicht genau, worum es sich handelte. Jedenfalls erkläre ich mir so die SD-Meldung, die "katholische Geistlichkeit" habe den Film angegriffen, weil er "verlockend wie die Sünde" sei. Das erinnert mich an ein Hauptargument, das von katholischer Seite gegen die 1933 eingeführte Zwangssterilisierung vorgebracht wurde. Diese Maßnahme, hieß es damals in einer grotesken Verkennung der Zusammenhänge, leiste der Sünde Vorschub (dem Geschlechtsverkehr ohne Zeugungsabsicht). Oder recycelte die SS Berichte von früher? Auch das ist eine Möglichkeit.
Für glaubwürdig halte ich die SD-Meldung, dass es in der Ärzteschaft "meist eine positive Einstellung zu den aufgeworfenen Problemen" gebe. Ärzte waren besonders anfällig für die Nazi-Idee vom "gesunden Volkskörper", überdurchschnittlich viele von ihnen waren Parteigenossen, und ohne die Mitwirkung oder zumindest Duldung großer Teile dieser Berufsgruppe wäre das Euthanasie-Programm nicht durchführbar gewesen. Bedenken, so der SD, würden überwiegend von den älteren Ärzten erhoben. Das hatte man schon vor dem Film gewusst. Nicht umsonst lässt Liebeneiner den Altherrendarsteller Albert Florath vor den Richter treten, wo er sich als Arzt mit viel Berufserfahrung zur Euthanasie bekennt.
Was also war die Wirkung von Ich klage an? Das bleibt Spekulation. Ich wäre schon froh zu wissen, welche Fassung 1941 tatsächlich in die Kinos kam, was genau vorher herausgeschnitten wurde, ob die Version, die 1944 eine neue Freigabe durch die Zensur erhielt, verändert werden musste und ob später, in der BRD, weiter an dem Film herumgeschnitten wurde, etwa auf Veranlassung der FSK? Ich kenne keinen, der mir das sagen kann. Die Murnau-Stiftung wäre meiner Ansicht nach die Institution, die solche Dinge wissen müsste. Da frage ich schon gar nicht mehr. Bitten um Information werden ignoriert, und die Stiftung ist nicht einmal in der Lage, eine brauchbare Inhaltsangabe zu schreiben, die sich von dem abhebt, was das Propagandaministerium gern lesen wollte. Wie war das mit Joachim Kaiser (siehe Link auf )? Sah er Ich klage an, bevor er Liebeneiner zu dessen 75. Geburtstag gegen den Vorwurf in Schutz nahm, sein Film habe etwas mit der Euthanasie-Politik im Dritten Reich zu tun? Und wenn ja: Hatte er das Pech, die Version zu sehen, aus der jemand den Trudchen-Günther-Teil herausgeschnitten hat? Woher kommt sie? Man weiß wie immer viel zu wenig über diese Filme, die so brandgefährlich sind, dass sie unter Verschluss gehalten werden.
Diese Verbieterei hat mehr mit Reflexen aus autoritären Zeiten als mit einer durchdachten Strategie zu tun. Was dabei herauskommt, kann man an Willi Forsts Die Sünderin von 1951 studieren. Dieses ebenso missglückte wie faszinierende Melodram (unbedingt mal anschauen, und Forsts allegorische Operettenfilme aus dem Dritten Reich am besten auch) war der deutsche Skandalfilm der 1950er. Ein paar Sekunden lang ist eine nackte Hildegard Knef zu sehen, die ihrem Malerfreund Modell liegt. Außerdem ist sie noch eine ehemalige Prostituierte, die wieder auf den Strich geht, als das Paar kein Geld mehr hat. Der Film löste einen Sturm der Entrüstung aus. Joseph Kardinal Frings, der Erzbischof von Köln, versuchte ohne Erfolg, die Aufführung zu verhindern. Am 4. März 1951 ließ er von allen Kanzeln der Erzdiözese ein Mahnwort an die Gläubigen verlesen:
Ich erwarte, daß unsere katholischen Männer und Frauen, erst recht unsere gesunde katholische Jugend in berechtigter Empörung und in christlicher Einmütigkeit die Lichtspieltheater meidet, die unter Mißbrauch des Namens der Kunst eine Aufführung bringen, die auf eine Zersetzung der sittlichen Begriffe unseres christlichen Volkes hinauskommt.
Klar, denkt man sich, das waren die spießigen 50er, und die Herren in den Soutanen waren die spießigsten von allen. Und selbstverständlich war es so, dass sich die Kirchenmänner über Sex, Prostitution und Nacktheit erregten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der Maler in Die Sünderin hat einen Hirntumor und erblindet. Bevor die unerträglichen Schmerzen kommen, kippt ihm die Geliebte auf seinen Wunsch eine Überdosis Veronal ins Champagnerglas, anschließend vergiftet sie sich selbst. Veronal war eines der Mittel, das die Nazis bei der "Kindereuthanasie" einsetzten. Und der Liebestod im deutschen Kino hatte eine braune Vorgeschichte. Die Sünderin ist ein ganz anderer Film als Ich klage an. Trotzdem kann ich es verstehen, wenn damals, zehn Jahre nach der Premiere von Liebeneiners Euthanasiereklame und sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, viele dachten, dass es schon wieder losging. Das gehört auch zur "Zersetzung der sittlichen Begriffe", vor der Kardinal Frings warnte.
Dieser Zusammenhang ist uns längst abhanden gekommen. Vom Skandal ist nur die nackte Knef geblieben. Auch das hat etwas Spießiges. Zu verdanken haben wir es den Leuten, die Ich klage an verbieten, um uns zu schützen. Wie soll man wissen, worum es damals beim Skandal um Die Sünderin auch ging, wenn man Ich klage an nicht sehen darf, weil das vom Kuratorium der Murnau-Stiftung so dekretiert wurde? Wäre es anders, hätte die Drehbuchautorin von Hilde vielleicht nicht diese Szene geschrieben, in der sich Heike Makatsch als die Knef darüber aufregt, dass ihre Landsleute einen Skandal aus einem nackten Busen machen, nachdem sie sechs Millionen Juden vergast haben. Ja, kann man da sagen, das ist ganz fürchterlich. Aber die 50er Jahre hat man nicht verstanden. Es gab damals auch Deutsche, nicht zuletzt in Kirchenkreisen, die wegen der Euthanasie im NS-Staat gegen Die Sünderin protestierten, nicht wegen der nackten Brüste. Sie sind aus unserem Bild von der Vergangenheit verschwunden. So etwas passiert unweigerlich, wenn Informationen - und sei es aus durch und durch honorigen Gründen - zurückgehalten werden. Filme sind wichtige Zeitdokumente, aus denen sich mehr erfahren lässt als aus so mancher Akte.
Lang her
Ich habe mich lange davor gedrückt, über Ich klage an zu schreiben, weil ich diesen Film und alles, was damit zusammenhängt, selbst für Nazi-Verhältnisse extrem widerlich finde. Meine Meinung über Ich klage an kommt nicht von seiner Wirkung, die ich nicht kenne. Ich sehe es vom anderen Ende aus, von der Machart des Films her. Wenn man bedenkt, zu welchem Zweck er produziert wurde, welche Überlegungen dabei angestellt, welche Entscheidungen beim Erzählen der Geschichte getroffen wurden, welche Funktion die einzelnen Elemente haben, insbesondere die Günthers mit ihrem kranken Kind, wie der Film dramaturgisch aufgebaut ist und worauf das abzielt, wird einem schlecht.
Aber Widerwärtigkeit ist kein Grund für ein Verbot. Propagandafilme sind besonders zeitgebunden. Ihre propagandistische Wirkung entfaltet sich innerhalb des historischen Kontexts, in dem sie entstanden sind. Ich klage an wurde in einer Diktatur gedreht, in der täglich für unnütz, schädlich und überflüssig erklärte Menschen ermordet wurden; in einem Polizeistaat, der die Medien kontrollierte und seine Bewohner seit Jahren mit dem ideologisch verbrämten Rassen- und Volkskörperwahn der Nazis fütterte. Zum Glück ist das lang her. Heute kann jeder nach wenigen Mausklicks erfahren, was Euthanasie im Dritten Reich bedeutete. Wenn sich dennoch einer für die Vernichtung von "lebensunwertem" Leben begeistert, weil er Ich klage an gesehen hat, braucht er therapeutische Betreuung und kein Filmverbot.
Und falls trotzdem jemand denkt, dass Ich klage an gefährlich bleibt, weil er eine Propagandabotschaft transportiert, für die wir noch immer anfällig sind: Einfach erklären, wo die Propaganda versteckt ist und wie sie vermittelt wird (bitte die Nebenhandlung nicht vergessen, werte Murnau-Stiftung!). Dann verliert sie ihre Wirkung. Das wäre aufklärerisch im besten Sinne und ein Beitrag zur Medienkompetenz. Es würde der für eine Demokratie unverzichtbaren Informationsfreiheit zu ihrem Recht verhelfen und der Verdummung vorbeugen. Das ist nach wie vor der beste Schutz gegen den Nazi-Dreck - pardon, das nationalsozialistische Gedankengut. Und Wolfgang Liebeneiner war ein ehrenwerter Mann.
Weitere bereits erschiene Folgen der Serie "Das Dritte Reich im Selbstversuch":
Teil 1: Hitlerjunge Quex
Teil 2: Hans Westmar - Ein deutsches Schicksal
Teil 3: Braune Volkstänzer im russischen Wald
Teil 4: Nicht ohne die Gestapo, oder auch: Ich will meine Mutter wiederhaben!
Teil 5: Ritt in die Freiheit
Teil 6: Die Russen kommen! Aber wo?
Teil 7: Verräter und Unternehmen Michael
Teil 8: Robert und Bertram und Die Rothschilds
Teil 9: Fälschung und Entartung im NS-Kino
Teil 10: Gefahr aus dem Bierkeller
Teil 12: "Feinde" und "Heimkehr"
Teil 13: "… reitet für Deutschland"
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