Nicht ohne die Gestapo, oder auch: Ich will meine Mutter wiederhaben!
Das Dritte Reich im Selbstversuch, Teil 4: Verwehte Spuren
Nach vielen Uniformen, Aufmärschen und ersten Kriegshandlungen heute - zur Erholung - ein Film mit Figuren in Zivil, mit einem unverdächtigen Schauplatz, ohne Deutsche, dafür aber mit einem Johannes-Heesters-Verschnitt aus Holland. Erzählt wird von der Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter. Wie könnte das Propaganda sein? Von den Alliierten anfänglich verboten, durfte das Werk schon im Sommer 1952 wieder in deutschen Kinos laufen.
Teil 3: Braune Volkstänzer im russischen Wald
Der schlimmste Film des Dritten Reichs
Welcher ist der schlimmste Film des Dritten Reichs? Ganz klar: Jud Süß. Wer schon mal etwas über Veit Harlans Film gelesen hat, wird mit ziemlicher Sicherheit auf diese Feststellung gestoßen sein. Man muss den Film gar nicht gesehen haben, um zu wissen, dass er der schlimmste ist. Wer einen Text über Veit Harlan schreibt, weist darauf hin, dass dieser Regisseur Jud Süß gedreht hat, den schlimmsten Film des Dritten Reichs. Das ist fast schon ein Ritual. Aber woran bemisst sich dieses Urteil? Es setzt voraus, dass es noch andere Filme gibt, die auch schlimm sind, aber doch weniger. Wo sind sie? Das müssten die Titel sein, die sonst noch auf der Verbotsliste stehen. Also Filme, die heute kaum mehr einer kennt.
Der schlimmste Film des Dritten Reichs zu sein hat den Vorteil, dass dadurch eine gewisse Nachfrage entsteht. Den schlimmsten Film will das Publikum lieber sehen als den drittschlimmsten oder gar die Nummer 35. Von allen Titeln auf der Vorbehaltsliste hat man bei Jud Süß die mit Abstand größten Chancen, ihn mal vorgeführt zu bekommen - bei einer dieser Veranstaltungen mit Referent, wo einem gesagt wird, dass Jud Süß der schlimmste Film des Dritten Reichs ist. Wie stereotyp das immer wiederkommt, ist durchaus bemerkenswert. Es scheint, als würde es einen Zwang geben, das stets aufs Neue zu betonen.
Der Grund ist äußerst einfach: Man versichert sich auf diese Weise, nicht in den Verdacht zu geraten, selbst ein Nazi zu sein, wenn man sich mit dem Film beschäftigt. Nur: Was ist das für ein Land, in dem bei jeder Gelegenheit darauf hingewiesen werden muss, dass Jud Süß der schlimmste Film des Dritten Reichs ist? Ist das der Zauberspruch, der einen bösen Fluch bannt? Käme sonst der alte braune Geist wieder aus der Flasche? Oder ist es sogar noch einfacher? Ich habe eine Theorie: Indem man Jud Süß zum schlimmsten Film des Dritten Reichs erklärt, ist damit alles abgedeckt. Wenn man den Film gesehen hat, wird suggeriert, dann weiß man alles (das Schlimmste) über die Nazi-Propaganda. Das Thema kann damit zu den Akten.
Es ist längst zur schönen Gewohnheit geworden, Jud Süß auf die fünf Szenen zu reduzieren, die regelmäßig daraus gezeigt werden: Kristina Söderbaums Verlobter mag keine Juden. Heinrich George will Geld und Frauen, der Jude hilft ihm dabei. Ferdinand Marian vergewaltigt Kristina Söderbaum. Ein Antisemit verlangt, den Juden wegen "Rassenschande" aufzuhängen. Der Jude wird aufgehängt. Auf diese Weise erhält man leicht identifizierbare Merkmale der Propaganda im NS-Kino. Fügt man noch Krieg, Uniformen und Opfertod hinzu, scheint alles erfasst zu sein. Im Umkehrschluss heißt das: Filme ohne diese Merkmale sind nicht propagandistisch. Sie können dann in einer Reihe, die sich "Deutsche Filmklassiker" nennt, auf DVD erscheinen und sorglos genossen werden. Wäre Nazi-Propaganda in ihnen versteckt, wären sie verboten. Dafür garantiert die Vorbehaltsliste. (Nebenbei: Deutsche Filmklassiker haben nicht Leute wie Herbert Maisch oder Carl Froelich gedreht, sondern Fritz Lang, Ernst Lubitsch und F.W. Murnau. Sie kommen in dieser DVD-Reihe gar nicht vor.)
Dem Führer hat’s gefallen
Mir ist Jud Süß alles andere als sympathisch. Ob der Film der schlimmste ist, kann ich nicht sagen. Ich weiß aber, dass das Dritte Reich mehr war als Krieg und Antisemitismus (und will damit nicht andeuten, dass es "auch Gutes" gab wie die Autobahn). Massenmörder brauchen Helfer. Weil nie alle mitmachen, suchen sie sich Mittel, ihre Gegner auszuschalten. Die Nazis bauten einen massiven Unterdrückungsapparat auf. Dazu gehörte eine Politische Polizei, die organisatorisch und juristisch immer unabhängiger von anderen Machtgruppen und Dienststellen wurde. Im Juli 1933 gaben Hitler und sein Innenminister Wilhelm Frick die Parole aus, die "nationale Revolution" zu einem geregelten Abschluss zu bringen. Statt auf die Prügeltrupps der SA (die von ihr gestellte Hilfspolizei wurde im August 1933 aufgelöst) und deren "wilde" Konzentrationslager zu vertrauen, sollte die Unterdrückung der politischen Gegner in die Hände staatlich legitimierter Organe und Institutionen gelegt werden.
Der juristischen Legitimation der Tätigkeit der Politischen Polizei diente das Gestapo-Gesetz vom 10. Februar 1936. Darin heißt es:
Die Geheime Staatspolizei hat die Aufgabe, alle staatsgefährlichen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet zu erforschen und zu bekämpfen, das Ergebnis der Erhebungen zu sammeln und auszuwerten, die Staatsregierung zu unterrichten und die übrigen Behörden über für sie wichtige Feststellungen auf dem Laufenden zu halten. […] Verfügungen und Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unterliegen nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte.
Die Gestapo konnte nun ohne Gerichtsbeschluss Menschen in "reguläre" Konzentrationslager der SS verschleppen, foltern und sogar ohne Gerichtsverfahren hinrichten. Das Regime hielt außerdem eine Vereinheitlichung und Zentralisierung der Politischen Polizei für ratsam. Da das eine enorme Machtkonzentration bedeutete, stritten verschiedene Gruppen (die SA, die Gauleiter usw.) um Zuständigkeiten. Am 17. Juni 1936 wurde die Gestapo dem Reichsführer SS Heinrich Himmler unterstellt. Himmlers Kompetenzbereich wurde dann Schritt für Schritt auf die gesamte, nicht nur die politische Polizei ausgeweitet. 1939 waren die Zentralisierungsmaßnahmen weitgehend abgeschlossen. Die Gestapo war nun als Abteilung IV (für "Gegnerbekämpfung") in das in jeder Hinsicht monströse Reichssicherheitshauptamt eingegliedert.
1937 verfügte die Gestapo über etwa 7000 hauptamtliche "Mitarbeiter", 1941 hatte sich diese Zahl mehr als verdoppelt. Während die Nazis dabei waren, ihren Terrorapparat zügig auszubauen, im August 1938, wurde Verwehte Spuren uraufgeführt. Er war einer der teuersten Filme der Saison und ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik. "Dem Führer", schrieb Goebbels in sein Tagebuch (16.7.1938), "hat der Harlanfilm Verwehte Spuren großartig gefallen." Der Gestapo wahrscheinlich auch. Veit Harlans Werk ist ein erstklassiger NS-Propagandafilm ("erstklassig" im Sinne von: sein Ziel erreichend, nicht als moralische Kategorie), der noch heute beängstigend gut funktioniert, weil er so hervorragend gemacht ist, die Autoritätsgläubigkeit ein langes Leben hat und die aktuellen Begründungen der Sicherheitspolitiker für Eingriffe in unsere Grundrechte nicht viel anders sind als das, was in diesem Film aus dem Dritten Reich behauptet wird.
Verwehte Spuren spielt im Paris des Jahres 1867. Die verwitwete, in Paris geborene und nach Kanada ausgewanderte Madeleine Lawrence ist mit ihrer 18-jährigen Tochter Séraphine auf dem Schiff "La Plata" zur Weltausstellung angereist. Im Hotel stellt sich heraus, dass der Brief mit der Zimmerreservierung nie eingetroffen ist. Es gibt nur noch ein Dienstbotenzimmer für die Mutter. Der freundliche Dr. Fernand Morot erbietet sich, die Tochter in einem anderen Hotel unterzubringen. Madeleine, von der Reise ermüdet und offenbar angekränkelt, nimmt dankbar an. Als Séraphine tags darauf in das Hotel ihrer Mutter kommt, ist diese verschwunden. Der Hoteldirektor und sein Personal behaupten, sie sei nie dagewesen. Auch Dr. Morot tut so, als könne er sich an die Mutter nicht erinnern. Weder das britische Konsulat noch die Pariser Polizei können (oder wollen) helfen. Nach einigen Verwicklungen erfährt Séraphine die schreckliche Wahrheit: Ihre spurlos verschwundene Mutter ist an der Pest gestorben und musste sofort verbrannt werden. Um eine Panik zu vermeiden, sahen sich die Behörden gezwungen, den Tod der Mutter bis zum Ende der Weltausstellung zu verheimlichen.
Der Film ist so gut gemacht, dass nicht weiter auffällt, wie unsinnig die Geschichte ist. Mit der Begründung, dass die erst 18-jährige Séraphine das Geheimnis bestimmt nicht für sich behalten könnte, wird eine groß angelegte Vertuschungsaktion in Gang gesetzt. Dafür werden Hotelregister und Passagierlisten gefälscht sowie zahlreiche Pariser aus allen Schichten (darunter ein Page im Pubertätsalter, bei dem das Geheimnis scheinbar besser aufgehoben ist als bei einer 18-Jährigen) und das Personal der britischen Gesandtschaft zum Schweigen verpflichtet, eine Zeitung wird geschlossen, Agenten der Geheimpolizei begehen einen Überfall. Obwohl der Held ein Arzt ist, gibt es keinerlei medizinische Maßnahmen. Die Tochter darf ungehindert durch Paris laufen und nach ihrer Mutter suchen. Verwehte Spuren funktioniert, weil das Denken durch die Emotion ersetzt wird. Harlan war darin ein Meister.
Interessant sind die Autoren, die an Verwehte Spuren beteiligt waren. Der Film basiert auf einem Hörspiel des 1934 emigrierten und 1936 in Deutschland verbotenen Schriftstellers und Shakespeare-Übersetzers Hans Rothe. Das Hörspiel konnte ich leider nicht ausfindig machen; ich weiß also nicht, ob und wie die Geschichte verändert wurde. Harlan arbeitete Rothes Vorlage mit Thea von Harbou und Felix Lützkendorf in ein Drehbuch um.
Lützkendorfs Filmkarriere begann 1937 mit dem Buch zu Karl Ritters Patrioten, einem Lobpreis auf soldatische Tugenden (oder was die Nazis dafür ausgaben). Gemeinsam mit Ritter schrieb er die Drehbücher zu dessen Kriegsfilmen Legion Condor, Kadetten, Stukas und Über alles in der Welt (alle unter Vorbehalt) sowie zum Spionagefilm GPU (wieder Ritter, wieder unter Vorbehalt). 1952, im Jahr des Neustarts von Verwehte Spuren, setzte er seine Karriere fort. Besonders gern arbeitete er für das Kino der Adenauerzeit alte Nazistoffe um (Urlaub auf Ehrenwort von 1955 verlegt die Handlung gegenüber Urlaub auf Ehrenwort von 1937 vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg, die Ideologie bleibt die gleiche). Am liebsten erzählte Lützkendorf Geschichten vom Krieg und von den Söhnen toter Väter. Verwehte Spuren ist insofern eine Ausnahme von der Regel, als es um die Tochter einer toten Mutter geht. Der Krieg wird in Zivil und ohne Schusswaffen geführt: gegen alle, die nicht machen, was die Polizei verlangt. Da sich die Handlung um eine an der Pest gestorbene Frau dreht, ist es nicht mehr weit bis zu den "Volksschädlingen". Diese wurden im Dritten Reich bekämpft wie eine Krankheit, damit der "Volkskörper" gesund blieb.
Thea von Harbou gehört zu den wichtigsten Drehbuchautoren der Weimarer Republik. Sie schrieb für F.W. Murnau und für Fritz Lang, ihren damaligen Ehemann. Eine glühende Verehrerin von Adolf Hitler war sie auch. Anfang 1933, als Lang seine Emigration vorbereitete, wurde sie Vorsitzende des Verbandes deutscher Tonfilmautoren. Für Harlan verfasste sie die Drehbücher zu Der Herrscher (Vorbehaltsfilm) und Jugend. Eine ihrer Spezialitäten waren Geschichten, in deren emotionalem Zentrum eine tote oder aus anderen Gründen nicht körperlich vorhandene Mutter steht (bekanntestes Beispiel: Metropolis). Harlan hatte bei Verwehte Spuren also zwei Experten an seiner Seite. Solche Geschichten über Kinder, die ihre Eltern verlieren, waren wie geschaffen für den NS-Propagandafilm, weil da erzählt werden kann, wie das Waisenkind eine neue Familie findet. Meistens ist das der Staat, die Partei, die Hitlerjugend und so fort.
NS-Propaganda, zu Gast im Privatfernsehen
Verwehte Spuren ist zunächst einmal sehr laut. Wie geschickt Harlan mit der Lautstärke arbeitet, merkt man am besten im Kino, weil da keiner leiser dreht, wenn es zu enervierend wird. Die Handlung beginnt mit einer Parade. Solche Paraden gibt es im NS-Kino andauernd. Allerdings wird in den Straßen von Paris nicht im Gleichschritt marschiert, das Publikum ist undiszipliniert, es gibt ein großes Durcheinander. Das, was Hans-Otto Borgmann zu den Anfangstiteln komponiert hat, könnte sich zu einer dieser ohrwurmartigen Marschmusiken à la Hitlerjunge Quex entwickeln (auch von Borgmann). Aber das erste Filmbild zeigt gleich eine große Trommel, dann trötet ein Stelzengeher dazwischen, und schließlich greift er zum Megaphon, damit es ein bisschen chaotisch wird.
Obwohl sich Dr. Goebbels manchmal über die knappen Kostüme von Marika Rökk ärgerte (besonders in Kora Terry): das NS-Kino hatte ein Herz für Spanner. Darum wird der Festzug von der auf einem Stier reitenden Europa angeführt, die nackte Brüste zeigt. Wahrscheinlich brachte das dem Film zu Adenauers Zeiten die FSK-Freigabe ab 16 Jahren ein. Oder war es doch der Name Veit Harlan? Ich wage nicht zu hoffen, dass sich jemand an der Botschaft störte. Übrigens wurde für den Neustart 1952 der Name des Regisseurs nicht entfernt (auch das kam vor, wenn mit solchen Namen unangenehme Erinnerungen verbunden waren). Der Verleih entschied sich aber dazu, "Veit Harlan" nicht zu lange auf der Leinwand stehen zu lassen und stattdessen schamhaft abzublenden (man hört auch an der Musik, dass etwas fehlt). Das gehört wohl in das Kapitel "Verantwortungsvoller Umgang mit dem NS-Filmerbe mittels kosmetischer Operationen".
Auch die 16er-Freigabe durch die FSK würde ich zur Kosmetik rechnen. Bei so einem Film der Marke "Harmlose Unterhaltung aus 1000 Jahren mit Adolf Hitler" kommt kaum einer auf den Gedanken, dass er für Kinder ungeeignet sein könnte. Auf der DVD-Hülle wird frech behauptet, dass es sich um einen "Abenteuerfilm" handelt (auf der Webseite des Lizenzgebers, der Murnau-Stiftung, ist er auch in dieser Schublade abgelegt). Ich nehme an, damit soll ein jüngeres Publikum geködert werden; ältere Semester dürften sich ebenfalls angesprochen fühlen, weil die sich vielleicht noch daran erinnern, dass der Holländer Frits van Dongen, hier als limonadiger Dr. Morot zu bewundern, in der NS-Version von Das indische Grabmal (1938) den Maharadscha von Eschnapur gab.
Gar keine Rolle mehr spielte die von der FSK verfügte Altersgrenze bei der Einführung des Privatfernsehens. Ich habe Verwehte Spuren zum ersten Mal auf RTL gesehen, oder vielleicht war es SAT1. In den ersten Jahren ihrer Existenz zeigten die privaten Sender solche "Abenteuerfilme" gern, insbesondere wenn sie von Veit Harlan waren. Bestimmt gab es sie im Sonderangebot. Die Öffentlich-Rechtlichen machen bis heute einen großen Bogen um Harlan, weil er der Regisseur von Jud Süß war. So etwas verdirbt die Preise. Dafür lief Verwehte Spuren auch schon bei RTL2. Gut, dass er da auf ein überdurchschnittlich gebildetes Publikum traf. Grob gesagt gibt es zwei Möglichkeiten: Man zeigt Harlan-Filme im Fernsehen, weil sie zwar von Harlan sind, aber nicht Jud Süß, sondern "Unterhaltung" (die Privaten). Oder man zeigt sie nicht, weil sie vom Regisseur des Jud Süß sind (ARD und ZDF). Es gäbe bessere Gründe, Harlan-Filme mit Vorsicht zu genießen (aber auch: sie zu kennen). Darüber muss man nicht mehr nachdenken, weil es Jud Süß gibt.
Zurück nach Paris. Die Schaulustigen dürfen jetzt prächtige Themenwagen bestaunen, die den fünf Kontinenten oder einzelnen Ländern gewidmet sind. Eine Russin singt etwas Russisches, eine Chinesin trägt ein chinesisches Kostüm, drei Dirndlfrauen bringen einen Jodler zu Gehör. Das Motto könnte lauten: Die Welt zu Gast bei Freunden. Aber betont werden doch das Stereotyp vom Fremden und die andere Hautfarbe. Auf dem Amerika-Wagen steht ein Indianer mit Hakennase, Afrika wird durch einen Afrikaner vom Typ "Menschenfresser" repräsentiert, der Vertreter Australiens ist ein blöde grinsender Wilder im Bastrock, ein debil wirkender Schwarzer schwenkt die Fahne der USA. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Das ist ein Spielfilm von Veit Harlan aus dem Jahr 1938, kein Dokumentarfilm über die rassistische Ausgestaltung von Umzügen im Paris von 1867.
Der Mann mit dem Megaphon pickt sich einzelne Besucher am Straßenrand heraus, denen er sein Willkommen entgegenschreit und die von der Kamera herangezoomt werden. Solch direkte Ansprache des Publikums gehört zum Handwerkszeug des Conferenciers. Signalisiert wird allerdings: Die Anonymität der Menge gibt es nicht. Das erfahren auch Madeleine und Séraphine Lawrence, die nun von der Kamera herausgesucht werden. Séraphines Blick wird jetzt dann gleich den von Dr. Morot treffen. Da werden schon mehr als 5 Minuten vergangen sein. Die Kritiker des Film-Kurier (22.9.1938) und von Der deutsche Film (November 1938) fanden das zu lang, bis endlich das Liebespaar eingeführt wird. Die ersten fünf Minuten sind aber wichtig, weil sie uns etwas von der Konfusion und der Überforderung übermitteln, die Madeleine Lawrence empfindet. Das Ziel der Inszenierung: Wir sollen mitfühlen, und zugleich soll uns die Frau auf die Nerven gehen, weil sie selbst den Lärm noch erhöht. Madeleine sieht elend aus und möchte dringend zur Erholung ins Hotel, kann das aber - weil Harlan es so will - nur dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie den allgemeinen Trubel übertönt.
Die Welt fällt runter
Bevor die arme Frau ins Bett kann, muss noch die Weltkugel in Form eines Ballons durch die Straßen gefahren werden (ob Chaplin Verwehte Spuren kannte, als er den Großen Diktator drehte?). Es kommt, wie es kommen muss: die Kugel entgleitet ihren Trägern. Unterstützt durch Borgmanns immer etwas zu laute Jubelmusik, folgen einige grandiose Momente, in denen die federleichte Weltkugel, von vielen Händen weiter fortbewegt, über die Menge rollt. "Die Welt fällt runter!" ruft Séraphine erregt. "Die Welt fällt runter!" Wie vieles in diesem Film ist das doppeldeutig und nicht nur ein Spaß. Prompt wird Dr. Morot auf Séraphine aufmerksam, und der Zuschauer auf ihn (dafür sorgt die Kamera). Borgmanns Triumphmusik geht in ein melodisches, gut kalkuliertes Liebesthema über. Mitten im Chaos verspricht Dr. Morot Ruhe und Geborgenheit.
Mutter Lawrence, die Fieber hat, ist so mitgenommen, dass sie sogar die Marseillaise nicht mehr erträgt, die nun alle singen. Dr. Morot, der ideale Schwiegersohn, behält die Ruhe und geleitet die Damen sicher zum Hotel. Madeleine kriegt das letzte freie Bett. Inzwischen ist sie so hysterisch, dass sie gar nicht mehr aufhören kann zu reden. "Du bist ja so nervös, Mama", sagt Séraphine und weiß noch nicht, dass in ein paar Filmminuten die Hysterie von der Mutter auf die Tochter übergehen wird. Bevor Madeleine endlich auf ihr Zimmer darf, muss die Eintragung ins Fremdenbuch des Hotels bewältigt werden. "Die Polizei ist sehr neugierig, Mama", meint Séraphine beschwichtigend. Madeleines Antwort: "Lästig ist sie." Der Rest des Films wird demonstrieren, dass die Polizei, auch wenn sie lästig wirken mag, wohlmeinend ist und allzeit um unsere Sicherheit besorgt. Kristina Söderbaum will ihre Mutti wiederhaben. Verwehte Spuren antwortet: Nicht ohne die Gestapo.
Dr. Morot bringt Séraphine in einem anderen Hotel unter und ist auch sonst sehr charmant. In dieser ersten Nacht in Paris stirbt die Mutter an der Pest. Während sich Madeleine in Fieberkrämpfen windet, macht sich die nichts Böses ahnende Tochter ein paar schöne Stunden mit Fernand Morot, und dazu gibt es ein Feuerwerk. Harlan spekuliert hier sehr geschickt auf die Gefühle seines Publikums. Wer käme sich nicht schuldig vor, wenn ein naher Angehöriger stirbt, während man selbst Champagner trinkt. "Aber es muss doch einen Weg geben, der weniger grausam ist!" wird Dr. Morot später sagen. "Was kann das arme Kind dafür? Sie ist doch völlig schuldlos!" Schuldlos am Tod der Mutter, ist gemeint. Doch so einfach ist die Sache nicht. Propaganda, Lektion 1: Füge ein Wort in den Dialog ein, das da nichts verloren hat. Es geht in der Szene nicht darum, ob die Tochter schuld am Tod der Mutter ist, sondern um die Polizei, die die Leiche verschwinden ließ und das vertuschen möchte. Da das Wort nun einmal ausgesprochen ist, stellt sich trotzdem die Frage, ob die Tochter wirklich "völlig schuldlos" ist? Und falls nicht: Darf man dann doch den Weg beschreiten, der grausam ist, Séraphine also quälen? Totalitäre Systeme haben es immer gern, wenn gleich mal diese Möglichkeit ins Spiel gebracht wird.
Als Dr. Morot das Wort ausspricht, haben Drehbuch und Inszenierung längst dafür gesorgt, dass der Zuschauer die Frage in ihrem Sinne beantwortet. In solchen Nazi-Filmen hat man sehr schnell (eine zumindest gefühlte) Schuld auf sich geladen, obwohl man gar nichts gemacht hat. Die gleiche Idee, plumper ausgeführt, gibt es in Friesennot. Da stirbt am Anfang der Vater, während die Tochter tanzt. Kristina Söderbaum wird ausnahmsweise nicht als "Reichswasserleiche" enden, weil sie diesmal den rassisch einwandfreien Dr. Morot liebt, statt mit einem Tschechen durch Prag zu ziehen (Die goldene Stadt) oder von einem Juden vergewaltigt zu werden (Jud Süß). Aber ein bisschen Schuld, das muss schon sein, weil Séraphine noch übel mitgespielt wird. Weil es eine Frau trifft, mit der man sich nur eingeschränkt identifizieren kann, weil sie einem durch lautstarke Hysterie auf die Nerven geht und weil sie das Pariser Nachtleben genoss, während die Mutter mit ihrem Namen auf den Lippen starb, wirkt das, was der 18-Jährigen in diesem Film angetan wird, gleich weniger brutal.
Im Morgengrauen - die Mutter ist bereits verbrannt und Séraphine träumt von Dr. Morot - trägt ein Mann schwer an der Last der Verantwortung. Verkörpert wird er von Friedrich Kayßler, von 1918 bis 1923 Intendant der Volksbühne und bei den Nazis "Staatsschauspieler". Kayßler war einer von den älteren, Autorität ausstrahlenden Herren, für die das NS-Kino reichlich Rollen bereithielt, weil fast immer ein Patriarch gebraucht wurde. In Friesennot ist er der Dorfvorsteher, der am Ende alle Russen erschießt. Bei Harlan hat er es zum Polizeipräfekten von Paris gebracht. Ihm zur Seite steht Graf Duval, der Vorsitzende des Organisationskomitees der Weltausstellung. Ein Regisseur wie Karl Ritter hätte der Versuchung nicht widerstehen können, Duval in eine Uniform zu stecken. Bei Harlan ist er nur Graf und unmilitärisch. Das gibt dem Ganzen eine angenehm zivile Note. Natürlich trägt auch der Präfekt keine Polizeiuniform.
Den Grafen Duval spielt Heinrich Schroth, der sich nach 1933 bei der "Säuberung" der deutschen Theater besonders hervortat. Beide, Schroth und Kayßler, wurden 1944 in die von Goebbels und Hitler zusammengestellte "Gottbegnadeten-Liste" aufgenommen. Künstler, die auf dieser Liste standen, waren vom Kriegsdienst und vom Einsatz an der "Heimatfront" (in der Rüstungsindustrie) befreit und leisteten ihren Dienst am Vaterland im Rahmen der Goebbelsschen Propagandaanstrengungen. Kayßler stand außerdem - als einer von vier Schauspielern - auf einer Sonderliste der "Unersetzlichen".
Propaganda-Zwang
Frage an die Leser: Sind es noch 77 Jahre bis zum Gottbegnadetsein von 1944 (der Film spielt 1867), oder doch nur sechs (der Film wurde 1938 uraufgeführt)? Auf dem Weg dahin unterhalten sich die beiden Honoratioren darüber, wie es nach dem Ableben von Madame Lawrence weitergehen soll. Das NS-Kino orientiert sich in solch schwierigen Lagen gern an der Seefahrt. Da trifft es sich gut, dass der Graf schon einmal auf einem überfüllten Dampfer war, als da Feuer ausbrach. "Alle hätten gerettet werden können! Alle!" Es überlebten aber weniger als ein Dutzend. Die anderen ertranken oder wurden totgetrampelt, weil eine Panik entstand. "Panik, meine Herren, Panik!" Der zweite der angesprochenen Herren ist Dr. Morot. Er wurde ins Büro des Präfekten gebeten, weil er den Abend mit Séraphine verbracht hat.
Morots Anwesenheit ist ziemlich gruselig. Zuletzt haben wir ihn, beim nächtlichen Walzertanz mit Séraphine, in einem Spiegel gesehen. Dieser Spiegel ist das geistige Auge, vor dem Séraphine die schönsten Momente des gemeinsam verbrachten Abends Revue passieren lässt, bevor sie zu Bett geht. Für Frank Noack, der ein lesenswertes Buch über Harlan geschrieben hat (Veit Harlan - "Des Teufels Regisseur"), ist die Einstellung ein Beleg für dessen künstlerische Weiterentwicklung. Sie ist aber weit mehr als einer aus einer Reihe "visueller Einfälle" (Noack). Denn am nächsten Morgen weiß der Präfekt schon, was Séraphine am Abend zuvor unternommen hat - in einer total überfüllten Stadt, die während der Weltausstellung 2 Millionen Menschen beherbergt. Entweder hat der Präfekt seine Spitzel überall (es gab am Abend noch keinen Grund, extra einen Agenten auf Séraphine anzusetzen), oder er ist in den Kopf der jungen Frau eingedrungen, hat gewissermaßen ihr geistiges Auge abgetastet.
Séraphines Gedanken-Spiegel rückt so beunruhigend nah an den "Fernsehspiegel" heran, den Überwachungsapparat der Verbrecher in Fritz Langs Die Spinnen (und auch in Die 1000 Augen des Dr. Mabuse). Am Ende wird wieder ein Spiegel an der Wand hängen; wieder in einem Zimmer, in dem das Bett von Séraphine steht. Diesmal ist das Abbild der vom Film sanktionierten Realität darin zu sehen, kein Jungmädchentraum. Es spiegeln sich Vater Staat (in der Gestalt des Präfekten) und neben ihm Séraphines zukünftiger Gatte - einer dieser seltsam blutleeren Helden im NS-Propagandafilm, die wahrscheinlich nicht viriler sein dürfen, damit der Übervater umso potenter wirkt (das Führerprinzip). Nach dem Tod der Mutter werden diese beiden die neue Familie von Séraphine sein. Das ist wie in Hitlerjunge Quex. Da stirbt Heini Völkers Mutter, dann übergibt der Vater den Jungen an die Hitlerjugend, Heinis neue Familie.
Ist das jetzt eine Überinterpretation von mir? Frank Noack spricht für viele, wenn er in seinem Harlan-Buch schreibt:
Unter dem Zwang, jeden seiner Filme mit einem Schlagwort als Propaganda entlarven zu müssen, wird so mancher in Verwehte Spuren Hetze gegen Frankreich erkennen. Dabei sympathisiert Harlan ohne Einschränkung mit dem Verhalten der französischen Behörden, und die Bedeutung der Weltausstellung für das Land wird nie in Frage gestellt.
Mit Verlaub: Das ist naiv. Um Frankreich geht es nicht. Regimekritische Autoren und Filmemacher haben ihre Geschichten schon immer in andere Länder und andere Zeiten verlegt, um die Zensoren zu überlisten. Warum sollte Harlan das nicht machen, um die Propaganda zu kostümieren? Jeder weiß, dass Jud Süß zum Judenhass im Dritten Reich anstacheln sollte, obwohl Kristina Söderbaum im Stuttgart des 18. Jahrhunderts vergewaltigt wird. Verwehte Spuren ersetzt nicht nur die Gegenwart durch die Vergangenheit, sondern auch Deutschland durch Frankreich - schon ist es keine Propaganda mehr. So einfach geht das. Wenn dann noch eine Geschichte erzählt wird, die ohne einen Krieg von der Sorte auskommt, für die man Soldaten und ein Schlachtfeld braucht, gibt es die Freigabe der FSK.
Noacks "Schlagwort" liefern NS-Propagandafilme meistens selber - gern auch in Komödien, Melos oder so einem "Abenteuerfilm" wie Verwehte Spuren. "Die Panik schwebt über uns, meine Herren!" warnt Graf Duval. Im Büro des Präfekten aber ist es ruhig, die Musik hat Pause. "Dazu darf es nicht kommen", meint der nette Opa an der Spitze des Sicherheitsapparats bedächtig. Duval will vom Präfekten wissen, wie die Panik verhindert werden soll. Darauf entwickelt sich folgender Dialog:
Präfekt: Die größte Gefahr droht uns zweifellos von der Tochter, von Séraphine Lawrence.
Graf: Wir müssen sie sofort verhaften!
Präfekt: Das ist ganz unmöglich. Sie ist britische Staatsangehörige. Das gäbe politische Verwicklungen ohne Ende.
Graf: Wir müssen sie doch wenigstens in Schutzhaft nehmen!
Präfekt: Das wäre ganz sinnlos. Die "La Plata" hatte etwa 1000 Passagiere an Bord, die heute größtenteils in Paris sind. Soll ich die alle in Schutzhaft nehmen?
Da ist es nun, das Schlagwort, in doppelter Ausführung: "Schutzhaft". Gefordert wird sie nicht vom Chef der Polizei, sondern von einem Zivilisten. Auch das ist Teil der Propaganda.
Schutzhaft
Die "Schutzhaft" - ein Euphemismus für die Haft ohne richterliche Anordnung - war keine Erfindung der Nazis. Ohne so genannt zu werden, wurde sie 1848 in Preußen eingeführt. Schon damals hatte sie nichts damit zu tun, dass die inhaftierte Person vor sich selbst oder vor anderen geschützt werden sollte, wie das Wort vermuten lässt. 1848 berief sich der Gesetzgeber auf Erfahrungen von Polizei und Militär bei der Niederschlagung eines Weberaufstandes in Schlesien. Geschützt wurden die bestehenden Verhältnisse, Andersdenkende wurden unterdrückt. Der Begriff "Schutzhaft" bürgerte sich während des Ersten Weltkriegs ein, als heftig über ein 1916 erlassenes Gesetz debattiert wurde, das die Polizei vor dem lästigen Gang zum Gericht schützen sollte, wenn sie Oppositionelle (insbesondere Kriegsgegner) wegsperren wollte.
Prominente "Schutzhäftlinge" waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Auch die krisengeschüttelte Weimarer Republik glaubte, auf die "Schutzhaft" nicht verzichten zu können. Betroffen waren in erster Linie die Kommunisten, die in bereits so bezeichnete "Konzentrationslager" gesteckt wurden. All das wirkt wie ein vergleichsweise harmloses Vorspiel, wenn man es mit der "Schutzhaft" im Dritten Reich vergleicht, einem der schlimmsten Terrorinstrumente des Regimes. Die Nazis knüpften dabei sehr geschickt an die Regelungen der Weimarer Republik an. Es gehörte zur Propaganda, die Kontinuitäten mit der Zeit vor 1933 herauszustreichen. Das wirkt bis heute nach, wenn Apologeten des Dritten Reichs solche Verbindungen betonen, um die Nazi-Verbrechen zu relativieren. Die Ermordung von KZ-Häftlingen wird aber nicht dadurch besser, dass vorher Rosa Luxemburg eingesperrt wurde.
Wie in solch heiklen Angelegenheiten üblich, wurde das Verfahren nicht durch ein Gesetz geregelt, sondern durch insgesamt mehr als 400 Verordnungen und Erlasse. Es begann mit der "Reichstagsbrandverordnung" vom 28. Februar 1933, mit der Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit "bis auf weiteres" aufgehoben wurden, um den Staat - das war die Begründung - nach dem Reichstagsbrand vor weiterer kommunistischer Aggression zu schützen. "Bis auf weiteres" hieß: bis zum Ende der 1000 braunen Jahre.
"Schutzhaft" bedeutete: Verbringung in ein Gefängnis oder ein Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit und ohne richterliche Anordnung. Da diese Form der Haft als vorbeugende polizeiliche Maßnahme galt, musste kein Verbrechen begangen worden sein. Eine andere Meinung zu haben, Kommunist, Gewerkschaftler, Jude, "asozial" oder "arbeitsscheu" zu sein reichte völlig aus. Da die Justiz an dem Verfahren nicht beteiligt war, gab es keine Möglichkeit, juristisch dagegen vorzugehen. In den Lagern wurde gefoltert und gemordet. Ein Kinogeher des Jahres 1938 konnte das Wort kaum überhören. Es gab nun schon sehr viele Verordnungen zur "Inschutzhaftnahme", mit öffentlicher Bekanntmachung und Berichterstattung in den Medien. Das war Teil der Strategie. Weil sich die Nazis gern den Anstrich der Rechtsstaatlichkeit gaben, musste die "Inschutzhaftnahme" nach drei Monaten durch eine vorgesetzte Dienststelle überprüft werden. Wer aus der "Schutzhaft" entlassen wurde, machte sich strafbar, wenn er über das sprach, was er erlebt hatte. So wurde gleichzeitig öffentlich gemacht und verheimlicht. Durch die Unsicherheit stieg die Angst.
Nach den Erfahrungen im Dritten Reich wurde die "Schutzhaft" 1949, im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Artikel 104), ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt. Kehren wir also zurück zu dem Film, der drei Jahre danach wieder in bundesrepublikanischen Kinos lief und in dem Graf Duval die "Schutzhaft" verlangt, damit auf dem Staatsschiff keine Panik ausbricht. Das kann keine NS-Propaganda sein, weil Heinrich Schroth als deutscher Schauspieler zwar ein Nazi und "gottbegnadet" war, hier aber in seiner Funktion als Graf aus Frankreich spricht. Es wäre auch gemein, den Grafen, der 1867 nur das Beste will, für Dinge verantwortlich zu machen, die im nächsten Jahrhundert - etwa zwischen 1933 und 1938 - passierten … wobei andererseits Herrn Duvals Forderung erst ab 1938 in deutschen Kinos zu hören war. Schon ziemlich schwierig, das mit der Nazipropaganda. Nur gut, dass die Murnau-Stiftung das wirklich Propagandistische in ihrem Giftschrank verwahrt. Da weiß man, woran man ist.
Im zitierten Dialog wird so getan, als sei die "Schutzhaft" harmloser als eine richterlich angeordnete Verhaftung ("wenigstens [!] in Schutzhaft nehmen"). Es war aber genau umgekehrt. Interessant sind die Bedenken des Präfekten. Eine reguläre Verhaftung Séraphines lehnt er ab, weil das politische und diplomatische Verwicklungen geben würde. Der Film weiß auch dafür eine Lösung: durch die in Aussicht gestellte Heirat mit Dr. Morot kann Séraphine französische Staatsbürgerin und dann von der französischen Polizei bedenkenlos weggesperrt werden, falls man sie wieder mal zum Schweigen bringen muss. Die "Schutzhaft" kommt ebenfalls aus rein praktischen Gründen nicht in Frage (man kann nicht alle Passagiere in den Kerker werfen, die mit auf dem Schiff waren). Rechtliche Bedenken kennt dieser Präfekt nicht.
Interessant an diesem Dialog ist außerdem: Die "Inschutzhaftnahme" spielt sich im rechtsfreien Raum ab. Außer der Polizei geht das niemanden etwas an, auch keinen Diplomaten. Was einem noch leicht entgeht, weil die Szene so gut gespielt und inszeniert ist: Der Präfekt ist Polizist und Richter in Personalunion. Er hätte keinerlei juristische Bedenken, eine junge Frau ins Gefängnis zu werfen, deren einziges "Verbrechen" darin besteht, dass sie ihre verschwundene Mutter sucht. In ein paar Dialogsätzen kann sehr viel Terror versteckt sein. Himmler oder Heydrich, die außerhalb von SS-Kreisen einen eher unseriösen Eindruck machten, hätten das in einer vergleichbaren Lage (sagen wir: während der Olympiade in Berlin von 1936) nie so überzeugend über die Rampe gebracht wie Friedrich Kayßler, ihr Stellvertreter auf der Leinwand. Die Nazis fanden ihn nicht "gottbegnadet", weil sie unseren Anekdotenschatz über seltsame NS-Einfälle bereichern wollten. Dafür gab es andere Gründe. (Wer mir nicht glaubt: Selber ausprobieren. Verwehte Spuren anschauen - ganz leicht, weil nicht verboten - und sich dabei vorstellen, dass die Geschichte im Deutschland des Jahres 1938 spielt, mit Kayßler in einer SS-Uniform.)
Last der Verantwortung: Kunstdiener und Polizisten
Der Präfekt weiß eine Alternative zu Gestapo-Gefängnis und Konzentrationslager (ich darf das so nennen, weil auch Graf Duval und der Polizeichef wörtlich von "Schutzhaft" sprechen, obwohl sie Franzosen sind): Man muss der Tochter verschweigen, dass die Mutter gestorben und bereits verbrannt ist, damit sie nichts herumerzählen kann. Dr. Morot ist dagegen, weil er das grausam findet. Ein schöner Gedanke: Die Gestapo lässt eine Frau verschwinden, und der Liebhaber der Tochter darf Himmler sagen, was er davon hält. Aber nein, was rede ich? Die Polizei von Paris bringt keine Leute um wie die Gestapo. Die Mutter ist an der Pest gestorben. Darum wird im Vorspann auch behauptet, dass die Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht. So verschleiert man, dass die Pest eine Erfindung des Films ist. Die Pest wird von Ratten übertragen (bzw. von Flöhen in deren Fell). Und wo die Ratten zu finden waren, das wussten die Nazis ganz genau. 1940 gab Goebbels zu diesem Thema den "Dokumentarfilm" Der ewige Jude in Auftrag.
Kayßler kann jetzt zeigen, dass er lange Dialoge beherrscht, weil er von der Bühne kommt:
Herr Dr. Morot, wir sitzen hier seit drei Stunden und suchen nach einem gangbaren Weg. Sie können mir glauben, dass wir jede Möglichkeit erwogen haben, Fräulein Lawrence zu schonen. Wir kennen genauso wie Sie die Gesetze der Nächstenliebe und Menschlichkeit. Aber es ist besser, man ist grausam gegen einen als gegen eine ganze Stadt. Aber wenn Sie einen besseren Ausweg wissen, dann bitte sagen Sie ihn mir. Können Sie mir garantieren dafür, dass Fräulein Lawrence nicht reden wird? Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, wenn durch eine falsch angebrachte Menschlichkeit eine Katastrophe herbeigeführt wird? [Morot schweigt.] Sie schweigen. Sie müssen auch schweigen, denn es gibt keinen anderen Ausweg als zu schweigen.
So ist das immer bei den Nazis: die "Gesetze der Nächstenliebe und Menschlichkeit" sind bekannt (die anderen wurden sowieso nach Belieben umgebogen), können aber leider keine Anwendung finden, weil das schlecht für Paris, Duvals Dampfschiff und das Vaterland wäre. Das kann auch nicht im Interesse von Séraphine sein, die am Schluss das Vaterland anstelle der toten Mutter kriegt.
Verwehte Spuren wäre bestens für eine Fallstudie zur Rolle der Filmkritik im Dritten Reich geeignet. Am 27. November 1936 verbot Goebbels das, was man herkömmlicherweise unter Kritik versteht. Statt als wertende "Kunstrichter" sollten die Kritiker von nun an als beschreibende "Kunstdiener" fungieren. Verkauft wurde das als Befreiung des Publikums von Bevormundung. Der Kinogänger sollte sich selbst ein Urteil bilden können, statt eines vorgesetzt zu bekommen. Was wirklich gemeint war, erläuterte Goebbels’ Pressesprecher Alfred Berndt am 28. November vor der Reichspressekammer. Der Wert eines Kunstwerks, so Berndt, könne im nationalsozialistischen Staat nur auf Grundlage dessen bestimmt werden, was die Nazis für Kunst hielten; und dazu seien nur der Staat und die Partei in der Lage. Soviel zur freien Meinungsbildung des Publikums.
Praktisch sah der Dienst an der Kunst so aus, dass von der gleichgeschalteten Presse tunlichst gelobt wurde, was die NSDAP gelobt haben wollte. Weil das so war, kann man leicht für Widerstand halten, was eine ganz andere Funktion erfüllte. Während Verwehte Spuren allgemein bejubelt wurde, blieb Ilse Wehner in der Zeitschrift Der deutsche Film reserviert. Frau Wehner bemängelte, dass die Behörden zu zimperlich mit Séraphine umgingen und fand, dass "es wohl am nächstliegenden gewesen wäre, die Tochter zu internieren". Beim Wort "Schutzhaft" scheint ihr doch unbehaglich geworden zu sein, weshalb sie es durch eines ersetzte, das man eher aus dem Krieg kennt. Gegen diese Kritik am Polizeipräfekten hatte Goebbels bestimmt nichts einzuwenden - zeigte doch der Vergleich, in welch guten Händen die Deutschen waren. Während der Präfekt das Leben von 2 Millionen Menschen in Gefahr bringt, weil er die "Inschutzhaftnahme" von tausend Leuten organisatorisch nicht bewältigen kann, hatten die Nazis allein 1933 etwa 50 000 Regimegegner in ihre Folterlager gesperrt, ohne eine richterliche Anordnung einzuholen. Das war genau das, was Frau Wehner forderte. Aber nur wegen der Dramaturgie.
Dr. Morot, der Franzose mit dem Joopi-Heesters-Akzent, ist folgsamer als so eine deutsche Filmkritikerin. Später wird er sogar zuerst dem Präfekten sagen, dass er Séraphine liebt, und danach, weil der nichts dagegen hat, auch seiner zukünftigen Ehefrau. Jetzt macht er erst mal mit, wenn alle so tun, als ob es die in Rauch aufgegangene Madeleine nie gegeben hätte. Séraphine läuft auf der Suche nach der Mutter durch Paris, wird immer hysterischer und beginnt, an ihrem Verstand zu zweifeln. Einmal schreit sie mitten auf einer belebten Straße nach ihrer Mutter, was Dr. Morot ganz furchtbar peinlich ist. Man fühlt mit ihm. Der Arme muss befürchten, dass sie verrückt werden könnte. Also bittet er den Präfekten, ihn von der Schweigepflicht zu entbinden. Nein, sagte der Präfekt, geht leider nicht, die Panik und das Vaterland. Morot schweigt weiter, leidet aber wie ein Hund, als er mitansehen muss, wie schlecht es Séraphine geht.
Solch miese Typen wie Dr. Morot lieben die Frauen im NS-Kino andauernd. So wurden Rollenmodelle eingeübt. Séraphine ist untypisch, weil sie nicht alles klaglos hinnimmt. Aber Harlan inszeniert das als Hysterie. Nach 35 Minuten kreischt Kristina Söderbaum zum ersten - und nicht zum letzten - Mal den Satz: "Ich will meine Mutter wiederhaben!" Bestimmt gibt es keinen zweiten deutschen Film, in dem die Worte "meine Mutter" annähernd so oft gesagt werden (meistens in schrill-hysterischem Tonfall) wie in Verwehte Spuren. Als ich noch an der Uni war, hatte ich mehrfach Gelegenheit, die Wirkung an studentischen Versuchskaninchen auszuprobieren. Das Resultat war immer dasselbe (man darf aber nicht leiser drehen, und ein Gemeinschaftserlebnis wie im Kino ist wichtig): Irgendwann fängt auch der Wohlmeinende an, sich mit Frau Wehner zu fragen, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn der Präfekt diese Hysterikerin gleich weggesperrt hätte - zur Not mit den tausend Leuten von diesem Schiff oder so vielen davon, wie er erwischen kann. Harlan und sein Komponist Borgmann unterstützen das noch durch einen äußerst geschickten Einsatz der Musik. Verwehte Spuren ist sehr gut gemacht. Harlan kriegt es hin, dass Ruhe (wie im Büro des Präfekten) und das Vermeiden von öffentlicher Aufmerksamkeit wichtiger werden als der Verbleib einer Verschwundenen.
Schmierfink und Staatsschauspieler
Auf ihrer Odyssee durch Paris landet Kristina Söderbaum bei Paul Dahlke, der als Journalist Poquet zu großer Form aufläuft. Nach dem gemeinen Landesverräter in Karl Ritters Verräter (1936) und dem linksradikalen Politiker Vaccarés (auch ein Franzose) in Harlans Mein Sohn, der Herr Minister (1937) spielte Dahlke in Verwehte Spuren schon wieder eine der unsympathischsten Figuren in einem Propagandafilm. Nicht nur bei der Besetzung für Jud Süß äußerten sich Schauspieler besorgt darüber, dass man sie zu stark mit solchen Rollen identifizieren, dass das Publikum Person und Rolle verwechseln könnte. Goebbels hatte dafür Verständnis. Auszeichnungen wie die Ernennung zum "Staatsschauspieler" (Dahlke wurde diese "Ehre" 1937 zuteil) waren eine Möglichkeit, wie sein Ministerium dem Publikum zu verstehen gab, dass ein Darsteller mit Schurkenrollen nur seiner Pflicht gegenüber der Volksgemeinschaft nachkam. Außerdem konnte man bei der Gelegenheit Reklame für den jeweils aktuellen Film des Geehrten machen.
Der freie Journalist Henri Poquet ist ein Schmierfink und ein schlimmer Volksverhetzer. Er wittert eine Sensation, als ihm Séraphine ihre Geschichte erzählt. Doch der Figaro weigert sich, den Artikel zu veröffentlichen. Vom Chefredakteur erfährt Poquet, dass die anderen großen Zeitungen es genauso halten werden. "Sie handeln auf höheren Befehl", schließt der Journalist daraus. Man kann nun sagen, dass Harlan Kritik an der Gleichschaltung der Presse üben will. Dann müsste aber irgendwann über diejenigen, die sich der Gleichschaltung widersetzen, etwas Positives gesagt oder zumindest angedeutet werden. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil.
Poquet bringt seinen Artikel schließlich bei der "Brandfackel" unter, dem Revolverblatt von Monsieur Pigeon. Dieser Pigeon will "Feuer unter dem Stuhl des Präfekten machen"; Séraphine und ihre Mutter sind ihm so egal, wie sie Poquet egal sind. Zum Glück hat die Geheimpolizei Séraphine überwacht und kann eingreifen, um die Panik zu verhindern. Poquets Artikel wird konfisziert, die Brandfackel "bis auf weiteres" (im Dritten Reich also bis 1945) verboten. Das ist eines der Erfolgsrezepte für Propaganda: Man stellt aus der Alltagswirklichkeit leidvoll Bekanntes ("Schutzhaft", Repression "bis auf weiteres") in einen scheinbar anderen, harmlos wirkenden Zusammenhang (Paris, 1867) und macht das schwer Verdauliche auf diese Weise leichter konsumierbar. So steigert man die Akzeptanz.
Inzwischen hat sich Séraphine bei dem verzärtelten Klavierspieler Gustave ausgeweint. Gustave glaubt ihr und möchte helfen, ohne zu wissen, was er da tut (die Panik!). Gemeinsam fahren sie nach Le Havre zu einer Angestellten der Schifffahrtslinie, die noch eine Passagierliste hat, aus der der Name der Mutter nicht entfernt wurde. Auf der Rückfahrt nach Paris werden sie von den Agenten des Präfekten überfallen, das Beweisstück geht verloren. In Fritz Langs Dr. Mabuse, der Spieler (Drehbuch: Thea von Harbou) bringen sich die Verbrecher durch einen Überfall im Zug in den Besitz geheimer Dokumente, um eine Panik auszulösen. Jetzt wird das umcodiert: die Polizei begeht den Überfall, um eine Panik zu verhindern. So rehabilitiert Thea von Harbou Dr. Mabuse, der von den Nazis verboten wurde, weil er zu viel mit ihnen gemeinsam hatte.
Wieder in Paris, geht Séraphine mit Dr. Morot zum Abschlussball der Weltausstellung, um dem dort anwesenden Präfekten von dem Überfall zu berichten (niemand in diesem Film, auch nicht die Brandstifter von der freien Presse, kommt auf die Idee, dass die Polizisten die Gangster sein könnten). Unter den Tanzenden ist Colette, die den Schmuck der Mutter trägt. Nach einem Kampf der Furien (nach harmonischen Walzerklängen schon wieder Hysterie, aber mit Brüsten) werden die Frauen in ein Zimmer gebracht, wo der Präfekt Colette ins Gebet nimmt. Dabei stellt sich heraus, dass Maurice, Hausdiener des Hotels und Colettes Freund, im Auftrag des Direktors alle Sachen der Mutter verbrennen sollte und den Schmuck für sich behalten hat. Das hat man davon, meint der Präfekt, wenn solche Aufgaben die Zivilisten erledigen und nicht - sagen wir - die Gestapo. Dieser Film ist wirklich unheimlich, wenn man ihn mit dem Wissen des Jahres 2010 betrachtet und anfängt nachzudenken, statt sich von den durch Harlan geschürten Emotionen mitreißen zu lassen. Bei verbrannten Leichen und geraubtem Schmuck fallen mir keine Hausdiener aus Paris ein, sondern die Schergen von der SS in Auschwitz. Harlan und von Harbou dachten sich das 1938 aus. Das macht es besonders gruselig.
Wahrheit und Mutterkreuz
Gustave der Klavierspieler besucht Poquet, der den Fall der verschwundenen Mutter nicht per Flugblatt bekannt machen will, weil das Drehbuch so letzte Zweifel an seiner Berufsauffassung zerstreuen kann: "An einer Volksaufklärung hab ich kein Interesse. Bin ja schließlich Journalist und nicht vom Roten Kreuz." Poquet will nur Geld. Gustave verspricht, den verlangten Wucherpreis für die Flugblätter zu zahlen. Während Poquet endlich die Druckerpresse anwirft, hat Séraphine erfahren, dass ihre Mutter zwar nicht ermordet wurde, aber trotzdem tot ist und auch schon verbrannt. Mehr dürfen ihr der Präfekt und Dr. Morot nicht sagen. Das verlangt die Staatsraison. Séraphine ist so schockiert, dass sie panisch (besser sie als die ganze Stadt) hinaus auf die Straße läuft. Da gerät sie unter die Räder einer Kutsche, die ihr über den Arm fährt. Am nächsten Morgen ist das Flugblatt erschienen:
Paris! Wo ist Madeleine Lawrence? […] Im Krankenhaus liegt die Tochter, die die Polizei zu Tode gemartert hat. Geht hin und überzeugt euch selbst. Wir verteilen dieses Flugblatt, weil die Wahrheit in Paris verboten ist.
Wir anderen, das Publikum des Films, wissen es natürlich besser. Die Wahrheit ist gar nicht verboten. Sie darf nur nicht ausgesprochen werden, weil das im übergeordneten Interesse des Staates liegt (die Panik!). Bei meinem Uni-Experiment habe ich festgestellt, dass einem Zuschauer lang und breit erklären können, warum der gütige Präfekt die 18-jährige Séraphine (sowieso hysterisch) fast in Wahnsinn und Tod treiben, die Presse (geldgeile Schmierfinken) knebeln und einen Überfall im Zug anordnen muss (der Überfallene ist ein verantwortungsloser Klavierspieler). Wie gesagt: Dieser Film ist sehr gut gemacht.
Wir, das Publikum, wissen auch, dass es gelogen ist, wenn die Schmierfinken in ihren Flugblättern schreiben, dass Leute, die sich im Gewahrsam der Gestapo befinden, von dieser gefoltert werden. Wenn jemand, der gerade mit der Polizei zu tun hatte wie Séraphine, hinterher einen gebrochenen Arm hat, liegt das daran, dass er durch eigenes Verschulden überfahren wurde. Dann kommen die Schmierfinken mit ihren dreisten Lügen. Daran kann man sehen, wie schwer die Last der Verantwortung ist, die der Präfekt zu tragen hat. Ein paar Jahre später, in der Realität, wurde das mit diesen Flugblättern versprühte Gift so zersetzend, dass der arme Präfekt gezwungen war, die Hersteller vor ein Sondergericht stellen und tags darauf hinrichten zu lassen. Das waren die Geschwister Scholl ("arbeitsscheue" Klavierspieler wie Gustave wurden in "Schutzhaft" genommen, kamen also ins KZ und lernten da, was man der Volksgemeinschaft schuldig ist).
Am Schluss von Verwehte Spuren treten noch einmal Friedrich Kayßler und Heinrich Schroth in Aktion, die zwei "Gottbegnadeten". Nun also dieses Flugblatt. Die Panik scheint unvermeidbar. Der Präfekt ist mit seiner Weisheit am Ende. Doch Graf Duval, der Freund der "Schutzhaft", weiß einen Ausweg: "Jetzt kann uns nur noch Séraphine Lawrence helfen." NS-Propagandafilme sind um Vollständigkeit bemüht (die deutsche Gründlichkeit). Zur "Schutzhaft" gehörte auch die Verpflichtung der aus ihr Entlassenen, den Mund zu halten und offiziellen Darstellungen keinesfalls zu widersprechen. Das mussten sie unterschreiben.
Im Krankenhaus sagt der Präfekt Séraphine nun doch, dass ihre Mutter an der Pest gestorben ist. Madeleine war nicht mehr zu retten, Paris aber schon. Damit das so bleibt, soll Séraphine eine Erklärung unterschreiben, dass die Mutter nie in Paris war: "Es ist das Vaterland ihrer Mutter, dem Sie diesen Dienst erweisen." Séraphine unterzeichnet. Zum Propagandaapparat gehörten die Inhaltsangaben im Illustrierten Film-Kurier. Solche Inhaltsangaben sind immer auch schon Interpretation. Durch sie (und durch die Kritik in der Zeitung) wurde die Rezeption gelenkt. Im Heft zu Verwehte Spuren heißt es: "Um jedem eventuellen Gerücht zuvorzukommen, muss Séraphine ihre Unterschrift geben, dass sie ohne ihre Mutter nach Paris gekommen sei." Nicht zur Vertuschung muss sie unterschreiben, oder weil man ihr sonst den Arm brechen würde (das war schon vorher), sondern um Gerüchten vorzubeugen.
Solche Gerüchte gab es im Dritten Reich tatsächlich. Leute wie Poquet behaupteten, die Polizei lasse Leute verschwinden, womöglich in böser Absicht, und müsse sich dafür nicht rechtfertigen. Die Poquets taten das, um die Welt oder doch wenigstens das Vaterland in Brand zu setzen. Der Zuschauer von Verwehte Spuren weiß, wie es wirklich ist. Wer sich nicht ganz sicher war, konnte es im Film-Kurier noch einmal nachlesen ("der Revolverjournalist Poquet", stand da, wolle den Fall "als Sensation ausbeuten"). Als Propagandamittel der Nazis hatte es das Programmheft nach 1945 schwer, von den Alliierten eine Lizenz zu bekommen. Als Verwehte Spuren in Deutschland wieder gezeigt werden durfte, konnte man im Kino die Neugründung kaufen, die Illustrierte Film-Bühne. Die Inhaltsangabe ist dieselbe.
Und Séraphine? Wer glaubt, dass es für eine pornographische Darstellung von Frauenkörpern erforderlich ist, dass diese nackt sind, sehe sich an, wie Harlan die in ihre Kleider gepresste Kristina Söderbaum ins Bild rückt. Am Ende liegt sie im Bett. Mit im Zimmer sind der Präfekt und Dr. Morot. Jetzt ist alles gut. Séraphine hat - wieder mal in übergeordnetem Interesse - per Unterschrift bestätigt, dass sie hysterisch durch Paris lief und eine nicht existierende Mutter wiederhaben wollte, also verrückt war. Zur Belohnung darf sie Dr. Morot heiraten, und deshalb ist sie überglücklich. Wenn ihr Dr. Morot jetzt noch ein Kind macht (im Bett liegt sie ja schon), ist sie bald selbst eine Mutter. Schade, dass sie im Paris des Jahres 1867 lebt. Sonst gäb’s noch das Mutterkreuz vom Führer.
Aber Halt! Den Film, den ich da beschrieben habe, gibt es so wenig wie die Mutter von Séraphine. Ich muss mir das alles eingebildet haben. Wäre der Film so, wie von mir geschildert, wäre er ein NS-Propagandafilm (und sogar ein richtig schlimmer). Das ist unmöglich. Solche Machwerke dürfen nur "unter Vorbehalt" gezeigt werden und sind nicht allgemein zugänglich, weil sie sonst jeder sehen könnte. Dafür garantiert die Murnau-Stiftung. Verwehte Spuren gibt es auf DVD, mit Genehmigung des Rechteinhabers. Das ist die Murnau-Stiftung. So ein Glück. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, wie begründet der Anspruch der Stiftung ist. Nach eigenen Angaben ist sie die Rechtsnachfolgerin der Produktionsfirma Tobis Film. Die Tobis hat Verwehte Spuren aber nur verliehen. Produziert wurde er von der Majestic-Film GmbH. Egal. Wenn’s dem Schutz vor dem Gedankengut der Nazis dient.
Ohne Kommentar
Zum Schluss noch schnell einen Gruß an den Leser, der sich so beharrlich darüber empört, wie verantwortungslos ich eine Freigabe von NS-Propagandafilmen fordere: Das muss ich gar nicht. Sie laufen längst im Fernsehen. Verwehte Spuren war viel zu subtil für das grobe Raster, mit dem die Alliierten nach dem Krieg nach NS-Ideologie suchten. Auf der Verbotsliste landete der Film trotzdem, weil er von Veit Harlan war. Als das für ein Verbot nicht mehr reichte, wurde er von der FSK freigegeben. Das war 1952. Bei der Murnau-Stiftung weiß man nicht, was die "Schutzhaft" war, oder man hat sich den Film nie angeschaut (womöglich beides). Wozu auch? Schließlich stand er nicht mehr auf der Verbotsliste, die der Stiftung nach ihrer Gründung übergeben wurde. Die aktuelle Freigabe ab 16 Jahren ist systembedingt. Solche Freigaben haben kein Verfallsdatum. Wenn in den letzten Jahrzehnten einer das Geld bezahlt hätte, das die FSK für ein neues Prüfverfahren verlangt, wäre dieser uneingeschränkt familientaugliche Film bestimmt auf 12 oder 6 Jahre herabgesetzt.
Eine Gegenfrage an den Leser: Wie muss sich ein ehemaliger KZ-Häftling fühlen, wenn er erfährt, dass Verwehte Spuren, ein 80-minütiger Dauerwerbefilm für die "Schutzhaft", als "Deutscher Filmklassiker" und "Abenteuerfilm" verkauft wird? Ich glaube, dass solche peinlichen Entgleisungen leichter zu vermeiden oder wenigstens schnell zu beheben wären, wenn es eine möglichst breit, möglichst öffentlich und gerne auch kontrovers geführte Diskussion darüber geben würde, was Propaganda im NS-Kino eigentlich ist, in welchen Masken sie auftritt und was sie heute noch für eine Wirkung haben könnte. Diese Diskussion findet nicht statt, weil wir so tun, als sei die Propaganda auf ein paar Dutzend Filme beschränkt gewesen, die heute im Giftschrank der Murnau-Stiftung stehen. Wären diese Filme allgemein zugänglich, würde sich so mancher, der sie in Verbindung mit dem sieht, was bei uns unter "harmlose Unterhaltung" läuft, verwundert die Augen reiben. Propaganda ist nicht nur da zu finden, wo einer eine Uniform trägt und mit dem Panzer durch die Gegend fährt, um Feinde abzuschießen. Verbote sind Beruhigungspillen und tun meistens nur so, als hätte sich da jemand etwas überlegt. Sie laden zur Denkfaulheit ein. Indirekte Verbote wie bei den Vorbehaltsfilmen (auf dem Umweg über das Urheberrecht) sind noch schlimmer.
Ein Alt- oder ein Neonazi, der zu Führers Geburtstag einen Vorbehaltsfilm sehen will, kann das problemlos tun, weil er ganz leicht Anschluss an die entsprechenden Netzwerke findet. Man muss schon dümmer sein, als Dr. Goebbels erlaubt, um das nicht hinzukriegen. Den anderen, die sich informieren wollen, statt nach einer Bestätigung für ihr verqueres Weltbild zu suchen, sollte man sorgfältig edierte und gut kommentierte Ausgaben zur Verfügung stellen. Das größte Problem dabei, die Abklärung der Urheberrechte, ist schon gelöst, weil diese Rechte in den allermeisten Fällen bei der Murnau-Stiftung liegen. Ich weiß nicht, ob diese Stiftung in der Lage ist, den Rest der Aufgabe zu bewältigen. Es müsste schon etwas mehr sein als fehlerhafte Inhaltsangaben auf der Webseite.
Vielleicht liegt es an den Finanzen. Das Aufspannen eines geistigen Schutzschirms durch gut gemachte DVD-Ausgaben wäre - verglichen mit anderen Schutzschirmen - spottbillig, würde aber doch Geld kosten, das die Murnau-Stiftung derzeit nicht hat. Man sollte es ihr geben, damit sie nachweisen kann, wozu sie in der Lage ist. Wenn man sich nicht gleich an einen der Vorbehaltsfilme herantrauen will: Wie wäre es mit Verwehte Spuren und einer internationalen Kooperation? Criterion in den USA überweist regelmäßig Lizenzgebühren für echte "Deutsche Filmklassiker" (die bei uns vertriebene Reihe ist eine Mogelpackung) an die Stiftung und hat auch Hitchcocks The Lady Vanishes in der Sammlung. Da wird im Prinzip dieselbe Geschichte erzählt wie in Verwehte Spuren (beide Filme wurden im selben Jahr uraufgeführt), aber aus demokratischer und antifaschistischer Perspektive. Durch einen Vergleich erfährt man mehr über Propaganda und Ideologie der Nazis als durch alle Inhaltsangaben der Murnau-Stiftung.
Man könnte eine richtig gute DVD-Box machen und noch So Long At the Fair (1950) von Terence Fisher dazupacken. Da fährt Jean Simmons zur Weltausstellung nach Paris, und plötzlich ist ihr Bruder verschwunden. Schon nach fünf Minuten weiß man, wie sich die Geschichte erzählen lässt, ohne Polizei-Willkür zu rechtfertigen. Ein Vergleich macht sehr deutlich, wie menschenverachtend der Harlan-Film ist. Bei Harlan geht es um das möglichst rückstandslose Entsorgen von Leichen (alles andere ist Fassade) und darum, wie man die Mitwisser zum Schweigen bringt. Auf meiner persönlichen Liste mit den widerlichsten Filmen des Dritten Reichs steht Verwehte Spuren ganz weit oben.
Falls eine Box mit So Long At the Fair zu kompliziert ist: Wie wäre es mit Unheimliche Geschichten (1919) von Richard Oswald? In der Episode "Die Erscheinung" verschwindet eine Frau spurlos aus einem Hotel. Am Ende stellt sich heraus, dass sie an der Pest gestorben ist und verbrannt wurde. Die Rechte an Unheimliche Geschichten liegen beim Deutschen Filminstitut in Frankfurt, nicht weit weg von Wiesbaden und der Murnau-Stiftung. Es gäbe so viele Möglichkeiten, und nichts passiert.
Wenn die erste sorgfältig kommentierte DVD mit einem Propagandafilm der Nazis erschienen ist, können wir gern wieder über den verantwortungsbewussten Umgang mit dem NS-Filmerbe reden, den die Stiftung für sich reklamiert. Vorher bitte nicht. Die Opfer der Nazidiktatur beleidigt das genauso wie die Intelligenz der Nachgeborenen.
Weitere bereits erschiene Folgen der Serie "Das Dritte Reich im Selbstversuch":
Teil 1: Hitlerjunge Quex
Teil 2: Hans Westmar - Ein deutsches Schicksal
Teil 3: Braune Volkstänzer im russischen Wald
Teil 5: Ritt in die Freiheit
Teil 6: Die Russen kommen! Aber wo?
Teil 7: Verräter und Unternehmen Michael
Teil 8: Robert und Bertram und Die Rothschilds
Teil 9: Fälschung und Entartung im NS-Kino
Teil 10: Gefahr aus dem Bierkeller
Teil 11: "Es wird ein Signal, ein Weckruf sein!"
Teil 12: "Feinde" und "Heimkehr"
Teil 13: "… reitet für Deutschland"