Europa als Krisenzentrum
In der am Abgrund taumelnden Eurozone spiegeln sich die systemischen Widersprüche des kollabierenden kapitalistischen Weltsystems. Krise des Kapitalismus - Teil 3
Führt die EU nur noch die Existenz eines institutionellen Zombies? Obwohl der vergangene Eurogipfel den politischen und ökonomischen Zusammenbruch der Eurozone zumindest vorläufig abwenden konnte, scheint die Idee der europäischen Einigung zumindest in Deutschland einen irreversiblen Schaden erlitten zu haben. Die EU lebt noch, doch die europäische Idee ist tot.
Eine ungezügelte und ressentimentgeladene Wut auf "Europa", auf Finanzspekulanten und die südlichen Eurostaaten hat weite Teile der deutschen Öffentlichkeit ergriffen. Dieser breite Unmut äußert sich in entsprechenden Schlagzeilen und Presseergüssen, in denen immer wieder davor gewarnt wird, dass nun Europa nach "unserem Geld" greifen werde, eine "Schuldenunion" näher rücke oder die Spekulanten als wahre Profiteure der Eurokrise gelten müssen.
Nachdem das deutsche Spardiktat in Europa einen ersten Rückschlag erlitten hat, sehen meinungsführende deutsche Blätter nun ein "Europa ohne Regeln" heraufdämmern, das durch eine regelrechte "Horrorshow" der südeuropäischen Regierungschefs auf dem Brüssler Gipfeltreffen durchgesetzt wurde. Über eine handfeste "Erpressung" der deutschen Kanzlerin seitens der Südeuropäer wird inzwischen nicht nur auf rechtslastigen Newssites geklagt.
Die Krise der Eurozone verschafft somit ungeschminktem Chauvinismus zu einer Renaissance. Wie konnte es dazu kommen, dass der europäische Einigungsprozess, der doch immer als eine Konsequenz aus den Massenmorden des Zweiten Weltkrieges galt, europaweit zum Auflodern des Nationalismus beitragen konnte? Die europäischen Auseinandersetzungen über die Krisenpolitik sind durch Kompromisslosigkeit und verhärtete Fronten geprägt; die zuvor übliche Kompromissfindung innerhalb der Europäischen Union funktioniert nicht mehr. Auch die Terminologie in der Öffentlichkeit hat sich entsprechend gewandelt, indem europaweit von gewonnenen "Schlachten" und andauernden "Kriegen" fabuliert wird.
Deutschland wurde zum Sieger im Standortwettbewerb
Die einstmalige "Harmonie" wie die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der Eurozone haben ihre Ursachen in der spezifischen Struktur, die diesem Währungsraum verliehen wurde. Staaten mit einem unterschiedlichen Produktivitätsniveau fanden sich in einem gemeinsamen Währungsraum, der keinerlei Strukturen oder Maßnahmen implementierte, um diese Unterschiede auszugleichen. Im Gegenteil: In übelster neoliberaler Tradition wurde der "Standortwettbewerb" um niedrigste Steuersätze und Lohnkosten zwischen den einzelnen Eurostaaten bewusst geschürt. Diesen Standortwettbewerb um die niedrigsten Löhne und Unternehmenssteuern gewann die Bundesrepublik. Während die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone zugespitzt wurden, fand zugleich eine Angleichung des Zinsniveaus im gesamten Währungsraum statt. Hiervon "profitierten" vor allem die südeuropäischen Euroländer, die vor der Euroeinführung eine viel größere Zinslast schultern mussten.
Im Endeffekt führte diese auf die reine Geldpolitik beschränkte europäische Währungsunion zur Ausbildung gigantischer Ungleichgewichte in der innereuropäischen Leistungsbilanz, als deren Hauptprofiteur eindeutig Deutschland benannt werden muss. Bei der Leistungsbilanz handelt es sich um eine breit gefasste Handelbilanz, die zusätzlich zu den Handelsströmen auch die Dienstleistungs- und Finanzströme erfasst.
Die deutsche Exportindustrie konnte immer größere Handelsüberschüsse gegenüber der Eurozone erwirtschaften, weil die übrigen, ökonomisch unterlegenen Euroländer nicht mehr mit Währungsabwertungen auf die Exportoffensiven der Deutschen Industrie reagieren konnten. Zudem erleichterte das gesunkene Zinsniveau in Südeuropa die Schuldenaufnahme. Alle schienen von der Währungsunion zu profitieren, da Deutschland neue Absatzmärkte erschloss und die Länder Südeuropas aufgrund niedriger Zinsen eine Defizitkonjunktur erlebten - auch die zunehmende Verschuldung wirkte in Südeuropa konjunkturbelebend. Deutschland wurde aber eindeutig zum größten Profiteur der Eurozone, wie die folgende Grafik illustriert, die Deutschlands Leistungsbilanz mit den Ländern der Eurozone darstellt:
Es ist eindeutig erkennbar, wie der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands gegenüber der Eurozone seit der Einführung des Euro regelrecht explodiert. Zudem visualisiert die Grafik sehr schön, wie die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands zu Beginn der 90er Jahre aufgrund der Wiedervereinigung und der Währungsabwertungen der europäischen Staaten rasch abschmolzen - diese Möglichkeiten der Währungsabwertung waren ab 2002 nicht mehr gegeben. Dabei verhalten sich die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands nahezu spiegelverkehrt zu den Defiziten in der Leistungsbilanz der europäischen Krisenländer Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien.
Eurozone ist eine "Transferunion" zugunsten der deutschen Exportwirtschaft
Die Überschüsse Deutschlands stellen logischerweise die Defizite der betroffenen Eurostaaten dar. Wenn die Bundesrepublik permanent hohe Handelsüberschüsse gegenüber der Eurozone erwirtschaftet, dann setzt in diesen Staaten der Eurozone selbstverständlich ein Verschuldungsprozess ein, um die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse vermittels Defizitbildung auszugleichen. Bei der Eurozone handelt es sich somit bereits um eine "Transferunion" zugunsten der deutschen Exportwirtschaft, die enorme Überschüsse erzielen konnte - auf Kosten der sich immer weiter verschuldenden Eurostaaten.
Die Summe, mit der Deutschlands aggressive Exportausrichtung zur europäischen Schuldenkrise beitragen hat, lässt sich exakt benennen. Der im ersten Quartal 2012 der seit Euroeinführung erzielte Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands gegenüber der Eurozone belief sich auf 824,3 Milliarden Euro. Diese Summe wächst - wie am Chart ersichtlich - permanent an. Im vierten Quartal 2011 erzielte die Bundesrepublik einen Leistungsbilanzüberschuss von 24 Milliarden gegenüber der Eurozone, im ersten Trimester 2012 waren es 17 Milliarden (danke an Steffen Bogs und sein Blog Querschüsse für die Zahlen).
Die Eurozone stellt somit weiterhin eine "Transferunion" zugunsten der deutschen Exportwirtschaft dar - deren Überschüsse auch weiterhin zur Defizitbildung in diesen Ländern beitragen. Neben der zunehmenden Verschuldung der heutigen Krisenstaaten brachte diese deutsche Exportausrichtung auch eine sukzessive Deindustrialisierung Südeuropas mit sich, da die dortige Industrie nicht mehr Konkurrenzfähig war und "aus den Markt" gedrängt wurde, wie es das Internetportal Ökonomenstimme diskutierte.
Diese extreme Exportfixierung der deutschen Industrie wurde massiv und gezielt von der deutschen Politik gefördert. Zum einen führte die rot-grüne Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder kurz vor der Euroeinführung eine Steuerreform durch, die vor allem Unternehmen und Konzerne massiv steuerlich entlastete und für die Bundesrepublik zeitweilig sogar mit einer negativen Körperschaftssteuer einherging: Der Staat zahlte im Jahr 2001 aufgrund exzessiv ausgeweiteter Abschreibungsmöglichkeiten Körperschaftssteuer in Milliardenhöhe an Konzerne, Versicherungen und Banken, die somit über eine prall gefüllte "Kriegskasse" am Vorabend der Währungsunion verfügten. Zum anderen führten die von Rot-Grün durchgesetzten Hartz-IV-Arbeitsgesetze zu einer massiven Prekarisierung des Arbeitslebens und zu einem Einbruch des Reallohnniveaus in Deutschland.
Die deutsche Industrie, die ohnehin einen Produktivitätsvorsprung gegenüber den südlichen Euroländern aufwies, konnte so weitere erheblich Konkurrenzvorteile verbuchen - auf dem Rücken der Lohnabhängigen in Deutschland, die für "Deutschlands" Exporterfolge beständig ihren Gürtel enger schnallen mussten. Diese Konkurrenzvorteile der deutschen Industrie, die aus der Verelendungsstrategie in Deutschland resultierten, spiegelten sich in einer sehr vorteilhaften Entwicklung der deutschen Lohnstückkosten - also des Anteils der Löhne an den Kosten einer Ware:
Die obige Grafik stellt das enorme Auseinanderdriften der Lohnstückkosten in der Eurozone dar. Es ist somit absolut klar, dass die deutschen Exporterfolge mit der zunehmenden Prekarisierung, mit verstärktem Arbeitsdruck und einem sinkenden Lohnniveau in Deutschland erzielt wurden. Es gibt also tatsächlich einen Zusammenhang zwischen den "schmerzhaften Arbeitsmarktreformen" in Deutschland und der Schuldenkrise in Südeuropa - es ist ein kausaler Zusammenhang. Die Prekarisierungs- und Verelendungsstrategie in der Bundesrepublik beförderte die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber der Eurozone, die zur europäischen Schuldenkrise beitrugen. Anders ausgedrückt: Die Agenda 2010 mitsamt Hartz IV konnte nur deswegen erfolgreich sein, weil der Einbruch der Binnenkaufkraft in Deutschland durch die Exportüberschüsse (und folglich die Defizitbildung) in der Eurozone kompensiert wurde.
Es ist somit geradezu absurd, den "Südeuropäern" nun von deutscher Seite vorzuwerfen, sie hätten sich in eine Verschuldungsorgie gestürzt, anstatt ähnlich "schmerzhafte Arbeitsmarktreformen" durchzuführen wie Deutschland. Ohne Europas Schuldenmacherei wären die Hartz-IV-Arbeitsgesetze aufgrund der wegbrechenden Binnennachfrage kläglich in einer Rezession gescheitert. Und natürlich wenden sich nun dieselben neoliberalen Einpeitscher gegen Südeuropa - wie etwa Hans-Wener Sinn-, die zuvor als führende Apologeten der Agenda 2010 wirkten. Doch es ist nun wirklich nicht die Schuld der Südeuropäer, dass die Lohnabhängigen und Gewerkschaften in Deutschland sich nicht gegen Agenda 2010 und Hartz-IV wehrten, sondern sich in alle damit einhergehenden Zumutungen lammfromm fügten.