Europa als Krisenzentrum
Seite 3: Hartz IV für alle!
Nach dem Platzen der amerikanischen und der europäischen Schuldenblasen hat sich folglich auch die Illusion zerstoben, die europäische Einigung sei ein allgemein vorteilhafter Prozess, der allen beteiligten Ländern nur Vorteile brächte. Es ist nun offenbar geworden, dass das "europäische Haus" spätestens seit der Einführung des Euro auf einen beständig wachsenden Schuldenberg errichtet wurde, der nun einzustürzen droht. Der europäischen Harmonie folgen nun die Überlebenskämpfe. Die Realität sieht für die meisten Menschen in der Eurozone folglich bitter aus: Das von seiner dominanten Exportwirtschaft geprägte Deutschland erscheint als Krisengewinner, die Mehrheit der Eurozone bildet die Krisenverlierer.
Und Berlin nutzte diese Dominanz aus. Gestützt auf die permanent anwachsende ökonomische Überlegenheit ging die Bundesregierung seit Krisenausbruch dazu über, die Eurozone nach eigenen Vorstellungen umzuformen und die Leitlinien der bisherigen Krisenpolitik vorzugeben. Die wirtschaftliche Dominanz der Bundesrepublik sollte so in einen politischen Führungsanspruch in Europa umgewandelt werden. Somit wurde die Krisenpolitik in der Eurozone immer stärker durch die Machtpolitik der einzelnen Eurostaaten - und hier vor allem Deutschlands - bestimmt.
Während CDU-Politiker mit stolzgeschwellter Brust verkündeten, das in Europa nun "deutsch gesprochen" werde, kokettierte die deutsche Öffentlichkeit bereits offen mit einer europäischen Hegemonie der Bundesrepublik, die sich zu den USA Europas aufschwingen würde. Dementsprechend sah auch die deutsche Krisenpolitik aus, die darauf abzielte, den Rest der Eurozone nach dem Ebenbild der Bundesrepublik umzuformen.
Im Endeffekt hier lässt sich diese der Eurozone verabreichte Rosskur auf einen Nenner bringen: Hartz IV für alle! Den südeuropäischen Krisenländern wurden drakonische Sparpakete und Austeritätsmaßnahmen verpasst, während der maßgeblich von Berlin geformte "Fiskalpakt" das deutsche Spardiktat auf der europäischen Ebene institutionalisieren soll. Zugleich blockierte Berlin jegliche Initiativen, die zur Absenkung des Zinsniveaus der Krisenländer beigetragen hätten. Für Deutschland brachte dieser Kurs bislang handfeste Vorteile. Es gilt auf den Weltfinanzmärkten als "sicherer Hafen" und kann zu niedrigsten Zinssätzen Anleihen begeben. Zudem ließ die Krise den Kurs des Euro gegenüber anderen Währungen abstürzen, was der Exportwirtschaft zusätzliche Vorteile verschaffte - und die Abhängigkeit von den Märkten in der Euro-Zone etwas verringerte. Deswegen wächst die ökonomische Dominanz der Bundesrepublik gegenüber dem Rest des Währungsraumes immer noch weiter an.
Zugleich nutzte Berlin die eskalierende Krise, um die Krisenstaaten zur Aufgabe ihrer Souveränität zu nötigen, indem jedwede substanzielle Hilfe, wie etwa Eurobonds, nur bei Aufgabe des Kernbereichs der staatlichen Souveränität - der Haushaltsplanung - eingeleitet werden sollte. Merkel brachte das auf die Formel: "Haftung und Kontrolle in einer Hand". Die Fronten in dem europäischen Machtkampf verliefen bis zum letzten Krisengipfel entlang folgender Schlüsselfrage: Deutschland wollte erst die Kontrolle über die Haushaltspolitik der Kriselnden vermittels europäischer Institutionen erlangen, bevor über Eurobonds oder ähnlich Modelle gemeinsamer europäischer Schuldenhaftung gesprochen würde. Die Südeuropäer und Frankreich forderten hingegen sofortige Hilfen und wollten die Einschränkungen ihrer Souveränität möglichst gering halten.
Deutschland trat somit in den europäischen Machtkampf für Sparen und Kontrolle ein, Südeuropa und Frankreich kämpften hingegen für eine Weiterführung und Erleichterung der Verschuldungsdynamik. Und deswegen konnte sich die südeuropäisch-französiche Achse auch beim vergangenen Krisengipfel tatsächlich durchsetzten. Die deutsche Sparpolitik ist in Europa aufgrund des besagten systemischen Verschuldungszwangs spektakulär gescheitert, alle in zu Austeritätsmaßanhmen genötigten Länder befinden sich in Rezession oder - wie im Fall Griechenlands - in Depression, während deren Staatsverschuldung trotz der Sparmaßnahmen immer weiter ansteigt, da die schrumpfende Wirtschaft mit niedrigeren Steuereinnahmen und höheren Sozialausgaben einhergeht.
Die Krise des Kapitals ist auch die Krise des Nationalstaates
Es ist schlicht irrsinnig, der Eurozone eine Rosskur nach deutschem Vorbild zu verpassen und zugleich die weitere Verschuldungsdynamik zu kappen, ohne die Deutschlands Agenda 2010 nicht erfolgreich gewesen wäre. Südeuropa steht somit wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand - und Spanien und Italien blieb schlicht nichts anderes übrig, als mit einer totalen Blockadehaltung die Erleichterungen bei der Rekapitalisierung der Banken und Anleiheaufkäufen zu "erpressen". Die Alternative wäre der ökonomische Zusammenbruch der Eurozone gewesen, der auch für die Bundesrepublik katastrophale Konsequenzen gehabt hätte. Montis "Horrorshow" auf dem Gipfel hatte eine reale Grundlage in der sich zuspitzenden Krise. Deswegen war Berlin so isoliert auf dem Treffen und hat Merkel mit ihrem Einknicken auf dem Gipfeltreffen tatsächlich den ersten Schritt in die Schuldenunion getan - sie hat in den Abgrund einer chaotischen Desintegration des europäischen Währungsraumes geblickt.
Letztendlich kann nur noch die Bonität Deutschlands die europäische Schuldenunion eine Zeit lang zusammenhalten, wobei dieser fortgesetzte gesamteuropäische Schuldenturmbau einen wirtschaftlichen Kollaps zumindest hinauszögern würde. Die Eurozone bot den beteiligten Ländern durch niedrige Zinsen und attraktive Absatzmärkte für einige Jahre einen scheinbaren Ausweg aus der Krise des Kapitalismus, doch nach dem Zusammenbruch der Schuldenblasen kehren die krisenbedingten Verwerfungen potenziert zurück und tangieren alle Mitgliedsländer, die längst aneinander gekettet sind. Die einzelnen Staaten sind in der Eurozone somit "gefangen", da ein Austritt mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen einherginge. Dies gilt insbesondere für die exportabhängige Bundesrepublik.
Die Krise des Kapitals ist auch die Krise des Nationalstaates, der seiner ökonomischen Fundamente verlustig geht. Die nationale Politik in Deutschland steht vor der Alternative eines fortgesetzten Marsches in die Schuldenunion - oder eines katastrophalen Bruchs mit der Eurozone. Diese systemimmanente Ausweglosigkeit äußert sich in dem entsprechenden wirren öffentlichen Krisendiskurs in Deutschland, in dem sich Wutausbrüche gegen die Schuldenländer mit Ohnmachtsgefühlen, der Angst um die deutschen Absatzmärkte und den Wunsch nach einem Ausscheiden aus der Eurozone mischen. Die veröffentliche Meinung in Deutschland ist hin und hergerissen zwischen dem Beharren auf der Fortsetzung der europäischen Integration und dem aufkommenden Wunsch, einen nationalen Alleingang zu wagen.
Ein öffentlicher Diskurs, der tatsächlich einen Ausweg aus dieser Sackgasse weisen könnte, dürfte aber nicht blind zwischen den Scheinoptionen des Nationalstaates und der Europäischen Union rotieren - er müsste nach gesellschaftlichen Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise suchen, die derzeit die Eurozone mitsamt den europäischen Nationalstaaten zerschreddert.
Der vierte Teil beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Krise auf die bürgerliche Demokratie und den öffentlichen Diskurs.