Demokratie in der Krise
Die derzeitige Krisis enthüllt den ambivalenten Charakter bürgerlicher Demokratie. Krise des Kapitalismus - Teil 4
Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, führen nicht, bestimmen nicht. Ein Lügner, wer's glaubt. Schemen und Gespenster wanken um uns herum - taste sie nicht an: sie geben nach, zerfallen, sinken um. Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.
Kurt Tucholsky
Teil 3: Europa als Krisenzentrum
Ist das Grundgesetz krisenkompatibel? Deutschlands Verfassungshüter sehen sich derzeit enormen politischen Druck ausgesetzt, diese Frage zu bejahen, seitdem das Bundesverfassungsgericht über etliche Eilanträge gegen den Euro "Rettungsschirm" und den Fiskalpakt verhandelt. Die Mahnungen seitens der Politik an Karlsruhe brachte Bundesfinanzminister Schäuble auf den Punkt, als er vor "erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen mit nicht absehbaren Folgen" warnte, sollte das Verfassungsgericht den Rettungsschirm ESM stoppen:
Zweifel an der verfassungsrechtlichen Möglichkeit oder der Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, Gefahren für die Stabilität der Eurozone abzuwenden, könnten dazu führen, dass die derzeitigen Krisensymptome deutlich verstärkt würden.
Die Eilanträge gegen diese jüngst vom Bundestag beschlossenen Krisenmaßnahmen, die von politisch so unterschiedlichen Kräften wie der Fraktion der LINKEN, dem CSU-Populisten Gauweiler und der ehemaligen SPD-Justizministerin Däubler-Gmelin ("Dazu braucht es einen Volksentscheid") eingereicht wurden, artikulieren ein verbreitetes und diffuses Unbehagen in der Bevölkerung, das sich in der Angst vor einer Aushöhlung der Demokratie, in Ohnmachtsgefühlen oder Ressentiments manifestiert. Die Ahnung greift immer stärker um sich, dass die Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung auf den Krisenprozess schwinden, dass eine schleichende Entmachtung der demokratisch legitimierten Institutionen einsetzt, bei der nationalstaatliche Kompetenzen und Machtmittel in eine undurchschaubare, europäische und postnationale Bürokratie verlagert werden.
Diese Gefühle der Ohnmacht und Ausweglosigkeit, die sich oftmals mit Aggressionen gegen Sündenböcke unterschiedlichster Couleur anreichern, haben einen sehr realen Kern. Denn Schäuble hat Recht. Wir haben - nicht nur im Fall des ESM - keine Wahl. Ein höchstrichterlicher Stopp des ESM wird selbstverständlich die ohnehin zerrüttete Eurozone in weitere Turbulenzen stürzen. Ohne diesen "Schutzschirm" würde die Zinsbelastung in Südeuropa rasch auf ein unerträgliches Niveau ansteigen, würde die Eurozone sich erneut am Abgrund wiederfinden.
Der von einer Systemkrise erfasste Spätkapitalismus kann nur noch als ein autoritäres, hyperbürokratisches Gebilde aufrecht erhalten werden, dass offen die elementaren Bedürfnisse der überwiegenden Anzahl der Menschen in Europa negiert. Damit ähnelt er wieder den absolutistischen Militärdiktaturen, die im 17. Und 18. Jahrhundert als Geburtshelfer dieser brutalen Gesellschaftsformation dienten.