Demokratie in der Krise
Seite 2: Die Reproduktion der gesamten Gesellschaft hängt am Tropf der Kapitalreproduktion
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- Die Reproduktion der gesamten Gesellschaft hängt am Tropf der Kapitalreproduktion
- Wirtschaftlicher Druck schafft einen Extremismus der Mitte
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In gewisser Weise macht die Bevölkerung in Deutschland gerade dieselbe Erfahrung durch, die den Menschen in Südeuropa bereits hinlänglich bekannt ist (Weniger Demokratie wagen): Dass es da eine mächtige Krisendynamik gibt, die stärker ist als der Wille des Souveräns und seiner demokratischen Institutionen. Die systemimmanente Ausweglosigkeit der Krisenpolitik ist etwa den Griechen bereits mehrmals vor Augen geführt worden; zuletzt bei den Drohungen vor der Parlamentswahl, als auch deutsche Politiker massiv Druck ausübten, um die Wählerschaft in Hellas zur "richtigen" Wahl zu animieren. Die Richtlinien der Politik werden in dem in Schuldknechtschaft gehaltenen Land längst von der "Troika" aus EU-Kommission, EZB und IWF bestimmt.
Auch Spaniens rechte Regierung um Premier Rajoy kämpfte wochenlang gegen eine immer noch als "Hilfe" bezeichnete Intervention der EU im Bankensektor, bis sie aufgrund der steigenden Zinslast auf den "Märkten" kapitulieren musste. Italiens Ministerpräsident Monti ist selber ein "Produkt" der Krise, da sein Vorgänger Berlusconi erst nach einer Eskalation der italienischen Schuldenkrise und massiven politischen Druck sein Amt räumte.
Die Illusion von Demokratie und Selbstbestimmung im Kapitalismus geht nun deswegen verloren, weil das Produktionsverhältnis in eine fundamentale Krise geraten ist, das diese Gesellschaftsformation konstituiert. Aufgrund der Krise des Kapitalverhältnisses, das immer neue Produktivitäts- und Rationalisierungsschübe hervorbringt (siehe: Die Krise kurz erklärt), werden immer mehr Menschen in Arbeitslosigkeit und Elend gestoßen - während in Deutschland der Widerstand gegen immer neue "Rettungspakete" für diese südliche Peripherie wächst.
Dieser marktvermittelte Vorgang nimmt den Charakter eines "Sachzwanges" an, der alternativlos ist, da bei dessen Nichtbefolgung zusammenbruchsartige Verwerfungen drohen. Die Griechen und Spanier müssen immer neue Sparpakete auflegen, Deutschland wird weiter für die Eurozone haften, da ansonsten der Zusammenbruch der Eurozone droht. Die Krise lässt nun für Alle sichtbar werden, dass wir eigentlich keine Wahl haben, da die Reproduktion der gesamten Gesellschaft am Tropf der Kapitalreproduktion hängt. Gerät das Kapitalverhältnis in die Krise, so steht alles zur Disposition: Das Grundgesetz, die Demokratie, elementare Menschenrechte und auch Menschenleben.
Alternativen stehen nicht zur Debatte
Die "Technokratenregierungen" in Südeuropa sind nur der offenkundige Ausdruck dessen, dass die gesamte Gesellschaft den Vorgaben der kriselnden Kapitalakkumulation ausgeliefert ist. Die eskalierende Diktatur des kapitalistischen "Sachzwanges" ist eine objektive Begleiterscheinung der Krise des Kapitalismus. Diese subjektlose Herrschaft des Kapitalverhältnisses bildet im Endeffekt die totale Negation der Demokratie, wenn hierunter Emanzipation, Selbstbestimmung und tatsächliche Wahlmöglichkeiten bezüglich der eigenen Lebensumstände zu verstehen sind. Die bürgerliche Demokratie hingegen ist eine Konkurrenzveranstaltung - sowohl zwischen den Parteien wie auch innerhalb der Parteien -, bei der letztendlich um die Optimierung des bestehenden Systems gestritten wird und die nur ein Echo des allumfassenden Konkurrenzkampfes in der Wirtschaftssphäre bildet. Die Wahlmöglichkeiten beschränken sich auf die Optimierung des bestehenden Systems, Alternativen stehen überhaupt nicht zur Debatte. Die bürgerliche Demokratie erschöpft sich im Endeffekt in der Wahl zwischen Pepsi und Coke.
Wir hatten also noch nie eine richtige Wahl, aber diese Eindimensionalität bürgerlicher Demokratie kommt erst in der Krise zum vollen Vorschein, sodass diese Einsicht nun massenhaft um sich greift. Die Ahnung, dass wir unser Leben unter dem Kapitalverhältnis gerade nicht selbstbestimmt gestalten können, bildete ja auch einen wichtigen Impuls bei der Gründung der Piraten und ähnlicher radikaldemokratischer Bewegungen in Osteuropa (Die Piraten Tschechiens: Dissidenten gegen "Mafiakapitalismus"), die mit neuen Demokratieformen wie dem "Liquid-Konzept" experimentieren oder eine Rückbesinnung auf ursprüngliche, angeblich "reine" Formen der Demokratie anstreben. Generell findet eine "Rückbesinnung" auf die Ursprünge und Gründungsmythen der krisengeschüttelten Gesellschaften statt, bei der die irrsinnige Jagd nach den zerfallenden "Schemen und Gespenstern" der Vergangenheit einen Weg in die Zukunft weisen soll.
Diese Krisenideologie, die die Zukunft in der Vergangenheit verortet, hat System. Da die bürgerliche Demokratie wie der korrespondierende öffentliche Diskurs nur auf die Optimierung des bestehenden Systems geeicht sind, können sie bei der gegenwärtigen Systemkrise keine Lösungswege offenlegen. Stattdessen drehen sich die Protagonisten des demokratischen Diskurses immer schneller im Kreise, die eigenen Argumente wiederholend und den Forderungen der Gegenseite nachschnappend.
Die Diskursbewegung einzelner Akteure erinnert an Hunde, die ihrem eigenen Schwanz nachjagen. Seit dem Krisenausbruch tobt in der Öffentlichkeit die öde Auseinandersetzung um die Fragestellung, ob denn nun weitere Konjunkturpakete oder Sparmaßnahmen den Weg aus der Krise weisen - ohne dass die Beteiligten wahrnehmen wollen, dass beide Konzepte im Rahmen der bisherigen Krisenpolitik erprobt wurden und spektakulär gescheitert sind (Ist es schon zu spät?). Die Konsequenz daraus zu ziehen und die Systemkrise überhaupt erst mal wahrzunehmen, ist innerhalb der "veröffentlichten" Meinung kaum möglich.
Und genau diese ideologische Eindimensionalität, dieses blinde Verharren in den Kategorien des kriselnden Kapitalismus, macht die kapitalistische Demokratie in Krisenzeiten so brandgefährlich. Wenn die systemimmanenten Rezepte - wie Konjunkturprogramme und Sparmaßnahmen - in der üblichen Intensität bei der Überwindung der Schuldenkrise nicht helfen, dann gewinnt die Tendenz an Intensität, das bestehende System ins Extrem zu treiben. Das Bestreben, mit einer Rückkehr zu den "reinen" und unverfälschten Ursprüngen und Gründungsmythen die Systemkrise zu überwinden, führt in der Praxis zu einer strukturellen Verhärtung, zu einer Steigerung des Drucks im System.